Kapitel 32

Schilfwerder

W as für eine Wohltat!

Die Bungalows mochten von außen wie renovierungsbedürftige Pförtnerhäuschen wirken. Im Inneren aber war einiges an EU -Fördergeldern verbaut worden. Es sah zwar nicht aus wie in einem Fünfsternehotel, aber zumindest das Interieur war tadellos und neu: ein Etagenbett, bunte Sofawürfel und eine gebogene Standlampe füllten den frisch gewischten Laminatboden des kombinierten Wohn- und Schlafzimmers. Das Bad in Nummer 18 war einfalls-, aber nicht geschmacklos hell gefliest, mit bodentiefer Dusche und Wandspülbecken ausgestattet und – das war die Hauptsache – groß genug dimensioniert.

Nachdem ich mich im wahrsten Sinne des Wortes erleichtert und mir die Hände gewaschen hatte, dachte ich darüber nach, welche Möglichkeiten es auf der Insel gäbe, um mein Zusammentreffen mit Lara möglichst schnell und schmerzfrei zu arrangieren. Als Erstes platzierte ich die Hortensie im Waschbecken. Dann ging ich ins Wohn-/Schlafzimmer des Bungalows und – schrie auf, wähnte ich mich doch mit einem Mal unfreiwillig in einer Probe für die Neuverfilmung von »Das Schweigen der Lämmer«, diesmal mit weiblichem Hannibal Lecter.

Vor mir stand Wilma. Zumindest war sie es mit einiger Wahrscheinlichkeit. Ich erkannte sie weder an ihrer Stimme noch an ihrem Gesicht, mutmaßte aber rasch, dass niemand anderes so schnell die brombeerfarbenen Yogahosen und das »Save our Planet«-Shirt mit ihr getauscht haben durfte. Der Grund, weshalb ich mir dennoch nicht hundertprozentig sicher war, wer da in Zimmer Nummer 18 vor mir stand, war die Tatsache, dass der Kopf der Dame mit Malerkrepp-Klebeband umwickelt war. Ihr Mund war verschlossen. Sie war sozusagen stumm geklebt. Ach ja, womöglich ist das Detail auch nicht ganz unwichtig, um das Bild zu komplettieren: Sie stand neben ihrem geöffneten Rucksack in einem Berg zerkrumpelter Herrenunterhosen.

»Was ist passiert?«, fragte ich.

»Hmhmhm!«

Ich sah mich um, konnte aber keine Geiselnehmer erkennen, die sich Wilma ausgesucht hatten, um was auch immer zu erpressen.

»… Nickerchen machen«, hörte ich sie keuchen, als ich mich wieder zu ihr umdrehte. Sie hatte den Klebestreifen des Knebels auf einer Seite abgelöst und hielt ihn wie die Hälfte eines Pflasters, das man nur kurz angehoben hat, um den Wundheilungsprozess darunter zu begutachten.

»Wie bitte?«, fragte ich in der Hoffnung, eine Erklärung für die Gesamtsituation zu erhalten.

Sie aber sagte nur: »Ich mache jetzt einen Powernap.«

»Äh …«, warf ich geistreich ein.

»Ja. Viertelstunde. Gibt nichts Besseres als einen Erfrischungsschlaf, um die Pause zu nutzen.«

»Das mag sein. Aber wieso knebelst du dich dafür?«

»Ach so, ja, ganz einfach: Ich schnarche. Es hört sich echt widerlich an. Ich will nicht, dass du das mitbekommst.«

»Aha.«

»Und das hier ist die Lösung dagegen.«

Es sieht eher aus wie die Lösung meiner Probleme, dachte ich.

Wilma machte Anstalten, auf die obere Etage des Hochbetts zu klettern.

Ich schüttelte ungläubig den Kopf: »Also, nur damit ich es nicht falsch verstehe: Es gibt auf der Welt einen Antischnarchmarkt, auf dem Milliarden umgesetzt werden. Mit Produkten wie Nasenzäpfchen, Gaumenschienen, Schlaf- und Hypnoseseminaren, chirurgischen Eingriffen, Besser-Atmen-Sprays, Nachtkapseln und was weiß ich alles … und du willst mir sagen, das ist alles Quatsch. Man braucht nur ein 2 ,99 -Euro-Tape aus dem Baumarkt, wickelt sich das um die Birne, und schon hört das Gesäge auf?«

»Weil man dann nur noch durch die Nase atmet. Genau.«

Sie lächelte mir auffordernd zu: »Solltest du auch machen.«

»Ich schnarche nicht.«

»Ganz egal. Wir Menschen sollten generell von Mund- auf Nasenatmung umstellen. Wer mit offenem Mund schläft, ist infektanfälliger. Bei der Nasenatmung wird die Luft befeuchtet, erwärmt und gefiltert, das ist viel gesünder: Daher gibt es in Apotheken sogenannte Mouth-Tape-Pflaster.«

»Die du leider nicht dabeihast.«

Sie nickte. »Nee, nur die dreckige Unterwäsche meines Mannes. Die wollte ich ihm eigentlich in den Briefkasten seines Flittchens stecken. Wenn die mit ihm bumst, kann sie auch seine Schlüpper waschen, finde ich.« Sie zuckte mit den Achseln. »Mit dem Tape wollte ich den Briefkasten zukleben, damit nichts rausfällt. Na ja, ist irgendwie anders gekommen.«

Ach, was du nicht sagst.

»Musst mich nicht wecken, ich hab ne innere Uhr.«

Wohl, um zu verhindern, dass ich sie mit Fakten nerven könnte, die ihr Hausmittel zumindest in Zweifel zogen (wie etwa, dass mit ihrer Methode nicht das Gaumenzäpfchenflattern verhindert werden kann), presste sie sich das Klebeband wieder fest ans Gesicht, kletterte die Leiter des Etagenbetts hoch und legte sich hin.

Sie war eingeschlafen, bevor ich den Fehler machte, auf das Klopfen an der Tür unseres Bungalows zu reagieren.