Kapitel 33

P asst es gerade?«

Mathias Brincks’ Kopf steckte in einem Schwarm winziger Fliegenviecher, die sich unter der leuchtenden Außenlampe im Eingang sonnten. Eigenartigerweise schien ihn das nicht zu stören. Während ich wild mit der Hand wedelte, um sie zu verscheuchen, lächelte er mich seelenruhig und erwartungsfroh an.

»Wofür?«

»Sie wollten doch mal nachsehen.«

Ach ja, das Diktiergerät.

»Also, äh …«

Indem ich ihm auf den Fuß trat, versuchte ich Matze subtil zu verstehen zu geben, dass ich am liebsten gemeinsam mit ihm nach draußen gehen würde. Doch der Hotelier rückte keinen Millimeter zurück. Im Gegenteil.

»Wo wollen wir denn?«, fragte er und schob sich an mir vorbei.

Hektisch schaffte ich es, die Zimmertür zu schließen. Bei meinem Glück hätte er Wilma geknebelt und stöhnend auf dem Hochbett gesehen und die Polizei gerufen. Oder seiner aufgeschlossenen Ehefrau Bescheid gesagt, dass sie rüberkommen solle, weil die SM -Party der Schmolkes schon in vollem Gange wäre.

»Gut, dann also im Bad«, kommentierte Matze die verschlossene Zimmertür. »Ist eh mehr Licht.«

Mir blieb nichts übrig, als seinen zielstrebigen Schritten zu folgen.

»Hübsch hier, oder?«, fragte er und sah sich um.

»Ja, kann man so nennen«, antwortete ich, Meister des Small Talks. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen: Weder gehe ich oft mit Zufallsbekanntschaften aufs Klo, um mich dort mit ihnen zu unterhalten. Noch öffnen diese dann unvermittelt den Gürtel ihrer Jeans.

»Müssen Sie mal?«, fragte ich ihn hoffnungsvoll. Alle anderen denkbaren Begründungen, die mir für sein Verhalten in den Sinn kamen, waren weitaus weniger angenehm.

»Ist das notwendig vorher?«

»Vor was?« Jetzt lag etwas Angst in meiner Stimme.

»Vor der Behandlung.«

Er fingerte an den Knöpfen seines Hosenstalls herum.

»Ich dachte, es geht um ein Diktiergerät?«, fragte ich naiv.

Matze lachte. »Ja, sagte ich doch.« Er griff sich in den Schritt. »Wie heißt das Tier mit dem riesigen Rüssel?«

»Elefant?«, fragte ich, und Panik durchflutete mich.

Elefant = großer Rüssel = dickes Tier = …

»Nein!«, hauchte ich erstickt, während Matze die Hose zu den Knöcheln sinken ließ.

Bitte nicht auch das noch.

Mir sackte die Kinnlade runter. Mein Mund blieb mir offen stehen. So schmerzhaft weit aufgerissen, dass ich mir gewünscht hätte, Wilmas Mouth-Tape in Reichweite gehabt zu haben – oder wenigstens das Kreppband.

Ich war mir nicht sicher, ob er sich vor mir vollständig entblößt hatte, weil ich panisch die Augen zupresste, aber seine Worte legten es mir nahe:

»Schauen Sie bitte mal hier. Ich zeige Ihnen das nur im Vertrauen, ja? Kann das was Schlimmes sein?«

Ich blinzelte kurz.

»Öh …«

Ja. Ja, das ist etwas Schlimmes. Und zwar für mich.

Weniger die Tatsache, dass ein nackter Mann vor mir stand. Ähnliche Anblicke sind jedem Kerl, der schon einmal in einem öffentlichen Pissoir zufällig zur Seite geblickt hat, nicht völlig fremd.

Nur hat mir in den seltensten Fällen dabei jemand die Pranke auf die Schulter geschlagen und mich zu einer besseren Begutachtung seines Geschlechtsteils in die Sitzposition auf dem Klodeckel gezwungen.

»Sehen Sie da unten was?«

Nein . Ich hielt die Augen wieder fest geschlossen. Und nein, das hatte nichts mit Homophobie zu tun. Sicher, ich war so langweilig heterosexuell, dass es krachte, dennoch erfüllte mich die Vorstellung zweier Männer, die sich einvernehmlich nähern, einander sinnlich begegnen und sich begehren, mit Freude. So wie es mich immer freute, wenn ich auf gegenseitige Liebe, Begierde und Zuneigung traf, egal zwischen welchen Vertretern welchen Geschlechtes. Nur hatte diese Situation hier weder mit Sex und Liebe zu tun, noch war sie einvernehmlich – und das war es, was mich zutiefst beschämte. Ich hatte Matze angelogen. Und weil er mich wegen meiner Lügen für Dr. Lutz Schmolke hielt, ergo eine zur Verschwiegenheit verpflichtete, hochprofessionelle Vertrauensperson, vertraute er mir bedenkenlos ein sehr, sehr intimes Geheimnis an.

»Wissen Sie, ich war nicht ganz artig. Könnte das ein Puff-Souvenir von vor zwei Wochen sein?«

»Hm, schwer zu sagen«, krächzte ich zu ihm hoch.

»Ich hab gegoogelt. Also, wenn man die Bilder vergleicht, dann sieht das für mich nach, äh, na kommen Sie, wie heißt das?«

»Ähh …«

»Na, Dingsda, Sie wissen schon …«

»Öhm.«

»Sehen Sie jetzt aber nicht so, Doktor?«

»Na ja …«

»Vielleicht sollten Sie näher rangehen.«

»Äh nein, ich …«

Ich tat eher das Gegenteil und rutschte zur Seite blickend auf dem Klodeckel zurück. Pech gehabt, dafür kam Matze halt näher.

»Vielleicht ist es ja auch nur ne Allergie?«, fragte er hoffnungsvoll. »Neurodermidingsbums.«

»Tja …«

Es mochte vielleicht irgendwo auf der Welt einen Arzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten geben, der noch unfähigere Diagnosegespräche führte als ich, aber ich bezweifelte es stark.

»Sie haben nichts dabei?«

»Was denn?«

»Eine Creme. Ein Mittel. Ein Antibiotikum.«

»Leider nein.« Ich hatte noch nicht einmal Wechselunterwäsche, es sei denn, ich wollte die benutzten Buxen von Wilmas Mann auftragen.

»Kommen Sie. So ein Doc wie Sie, der ist doch nicht ohne Munition auf Reisen. Irgendwas müssen Sie in Ihrem Arztkoffer haben …«

»Ich bin nicht davon ausgegangen, dass das nötig sein würde«, sagte ich, und das entsprach der Wahrheit. Wie hätte ich auch? Im Grunde sprengte die Entwicklung, die der Tag genommen hatte, in jeglicher Hinsicht meine Vorstellungskraft. Aber wer weiß, vielleicht hätte ich nur mein Tageshoroskop lesen müssen, und in dem stand tatsächlich: »Liebe Waage-Geborene, Sie müssen heute damit rechnen, dass Ihre suizidalen Vorbereitungshandlungen darin münden, dass Sie auf dem Elternabend einer Ihnen völlig fremden Schule die Geschlechtsteile unbekannter Männer abtasten werden. Viel Spaß dabei.«

»Gut, dann stellen Sie mir wenigstens ein Rezept aus.«

»Ich habe auch meinen Block nicht dabei. Wirklich.« Ich tat so, als würde ich meine Taschen durchsuchen, und stand auf. In dieser Sekunde geschahen nacheinander drei folgenschwere Dinge, die für sich allein betrachtet relativ harmlos waren, auch wenn die meisten tödlichen Unfälle im Haushalt geschehen. Ereignis Nummer eins war nämlich: Ich rutschte beim Aufstehen auf einem Blatt Dinoklopapier aus, das mir seit meiner Toilettenakrobatik im Mehrzweckraum noch immer am Hacken klebte, und sackte schmerzhaft auf die Knie zurück.

Ereignis Nummer zwei: Die Badezimmertür öffnete sich.

Wilmas Powernap war vorbei. Oder sie schlafwandelte. Dafür sprach, dass ihr Kopf noch immer mit Kreppband umwickelt, der Mund also weiterhin geknebelt war. Dagegen sprach, dass sie die Augen weit aufriss, als sie mich vor Matzes Penis knien sah.

Ereignis Nummer drei verleitete auch Matze dazu, einen bereits von mir panisch gekeuchten Satz zu wiederholen. Denn nun hatte sich auch noch die Eingangstür geöffnet, und Susi erschien auf der Schwelle zu Bungalow Nummer 18 . Mit einem guten Blick auf mich (halb kniend), ihren Mann (untenrum nackt) und Wilma (nach perfekter Fetisch-Art geknebelt).

Ach ja, der Satz lautete natürlich:

»Das ist jetzt nicht das, wonach es aussieht.«