D er Mensch plant, und Gott lacht, dieses jiddische Sprichwort kam mir in den Sinn, während ich mich dem schlammigen Untergrund des Wannsees näherte.
Danach schoss der Refrain eines Depeche-Mode-Songs durch mein wohl nicht mehr lange existierendes Bewusstsein. Darin singt David Gahan davon, er wolle zwar keine blasphemischen Gerüchte streuen, aber er gehe fest davon aus, Gott werde sich vor Lachen nicht mehr einkriegen, wenn er einmal stirbt.
In meiner gegenwärtigen Lage wollte ich dem nicht widersprechen. Abgesehen davon, dass ich zum Sprechen natürlich gar nicht mehr fähig war. Denn so tragisch meine Situation auch sein mochte – sie entbehrte nicht einer gewissen Komik. Immerhin war mein Abtritt wohl einzigartig. Ich war mir nicht sicher, ob jemals Suizidenten von aufgebrachten betrogenen Ehemännern aufgrund einer Verwechslung kurz vor dem eigenen Freitod-Versuch ins Jenseits geprügelt worden waren, aber wer sollte über so etwas auch Statistik führen?
Kalt. Die Kühle des Wassers war zunächst erfrischend und sorgte wohl auch für den Gedankenschub, den ich gerade erlebte. Doch je dunkler es um mich herum wurde, desto weniger angenehm fühlte es sich an. Als der Druck auf die Ohren stärker und das Verlangen nach Sauerstoff immer größer wurde, ruderte ich reflexartig mit den Armen, bis mir einfiel, dass ich ja gar nicht mehr auftauchen wollte.
So weit ging mein Harmoniebedürfnis nun doch nicht, dass ich deswegen mit aller Kraft versuchte, wieder an die Wasseroberfläche zu gelangen, nur um Arne Brehmer zu erläutern, dass er gleichzeitig den Richtigen und den Falschen in den See gestoßen hatte. Den Richtigen, weil er, ohne es zu wissen, Sterbehilfe geleistet hatte. Den Falschen, weil er sich damit nicht seinen Nebenbuhler vom Hals schaffte.
Die Zeit verstrich, und meine Sinne schwanden. Ich fühlte weder ein Hochgefühl, das man Ertrinkenden kurz vor dem Exitus nachsagt, noch Panik. Meine Gedanken wurden langsamer, zeigten sich mir wie Schlaglichter auf einer ausglühenden Mattscheibe vor meinem inneren Auge.
Lara, dachte ich und ärgerte mich, dass die Hortensie noch auf dem Steg lag.
Ich fühlte ein Pochen über der rechten Braue, wo mich Arnes Faust mit dem Ehering-Finger getroffen hatte.
Dann musste ich an Hector denken. An die Collage von ihm im Mehrzweckraum, die Nebelwolke, unter der das rothaarige Mädchen mit dem Herzen auf dem Rücken saß.
»So ein guter Schüler.«
Ich sah die blutige Träne, die sich von der Baumspitze löste.
Dann sah ich ein aufgerissenes Auge vor mir. Blutig, als wäre die Träne von dem Bild direkt auf das Foto getropft, das mir Arne zeigte. Auf seinem Handy. Von seiner Tochter Katharina.
Die den Mund öffnete und einen Teelöffel Zimt aß.
Etwas irritierte mich an diesem Bild, und es war nicht der Zimt. Es war auch nicht die Collage.
Das Auge?
Ich blinzelte und wollte husten und atmen und schlucken und versuchte es, doch alles, was ich schluckte, war kalt und dunkel. So wie alles um mich herum auf einmal so finster wurde, als hätte jemand im Universum das Licht ausgeknipst.
»Bis gleich, Lara«, hörte ich mich denken. Blinzelte. Öffnete ein letztes Mal unter Wasser die Augen.
AUGE !
Und in diesem Moment begriff ich, was mich störte. Was an den Vorwürfen rund um Hector kein Bild ergab!
Es war so klar, so zum Greifen nah wie die Schwärze, auf die ich zusteuerte. In der ich mich verlor.
Und aus deren Sog, das wurde mir bewusst, es kein Entkommen gab.