Kapitel 40

Koschnick

D as Zischen beim Öffnen der Bierdose war so laut, als ließe ein Zug im Bahnhof Dampf ab. Koschnick, der nicht daran gedacht hatte, wie gut sich Schall in abendlicher Stille über Wasser verbreitete, schrak zusammen.

Ein dunkler Vogel war aus dem Uferschilf in die herunterhängenden Äste einer Trauerweide geflogen, aber mehr war nicht passiert. Letztlich konnte er sich auch nicht vorstellen, dass ihn hier draußen vor Schilfwerder jemand gehört hatte. Wenn, dann hatte Tratto die Menschen auf der Insel aufgescheucht, als er jammernd aus dem Ruderboot ins kalte Wasser sprang, während Koschnick in gebührendem Abstand vom Ufer darin sitzen geblieben war.

Mann, Mann, Mann. Die Memme hatte wirklich beinahe geflennt.

»Ich hab beim Verleih das Boot organisiert, Sie haben mir den ganzen Weg beim Rudern nicht geholfen, und jetzt muss ich auch noch durchs hüfttiefe Wasser waten. Wieso mach ich immer alles alleine?«

»Weil du im Gegensatz zu mir noch eine Menge zu lernen hast«, hatte Koschnick ihn in die Schranken gewiesen. Der kleine Racker wurde langsam aufmüpfig. War schon richtig, dass sie nicht bis direkt ans Ufer gerudert waren, sondern vor einer natürlichen, unbelebt wirkenden Bucht in großem Sicherheitsabstand haltgemacht hatten.

So lernte das Muttersöhnchen endlich, dass man sich bei Ermittlungsarbeiten auch dreckig beziehungsweise nass machen konnte.

»Außerdem hat der Trottel überhaupt nicht alles organisiert«, murmelte Koschnick vor sich hin. »An das Bier von der Tanke hab ich ganz alleine gedacht.«

Er nahm einen tiefen Schluck, da hörte er es plätschern.

»Hey«, zischte Tratto vom Strand der kleinen Bucht herüber.

»Was?«

»Sie müssen kommen. Sofort.«

»Komm du doch her.«

»Nein, das müssen Sie mit eigenen Augen sehen.«

Koschnick stöhnte.

Wehe, es ist falscher Alarm.

Mit zehn Ruderschlägen schaffte er es, die Spitze des Ruderboots in Trattos Reichweite zu steuern. Nachdem dieser ihn so weit an den Strand gezogen hatte, dass Koschnick unbeschadet an Land gehen konnte, ohne nasse Füße zu bekommen, stieg er aus.

»Hast du ihn gesehen?«, fragte Koschnick, den das kurze Paddeln völlig erschöpft hatte.

»Wen?«

»Den Dentagard-Biber!«

»Aua.« Tratto hatte sich eine weitere Kopfnuss gefangen.

»Dann frag nicht so blöd. Sascha Nebel natürlich.«

»Nein, aber …«

»Aber was?«

Tratto blickte vom Ufer zurück in den Wald, aus dem er gekommen war. Er wirkte panisch und leicht paranoid, als er die Augen im Mondlicht aufriss und verängstigt raunte: »Es ist schlimmer, als wir denken.«

»Der Anschlag steht kurz bevor?«

Koschnick dachte an den unvollendeten Abschiedsbrief. Irgendwas an seiner Theorie von dem verzweifelten Amokvater, der am Todestag seiner Tochter eine ganze Schulklasse mit sich in den Abgrund reißen wollte, war nicht ganz rund. Er wusste nur nicht, was.

»Ich glaube, es geht nicht um einen Anschlag. Wir sind hier in eine KKK -Messe hineingeraten.« Tratto stammelte jetzt, war außer Atem.

»Wo rein?«

»Die sind überall. Der Geheimbund.«

Koschnick war versucht, Tratto einmal tief im Wasser unterzutauchen wie ein Priester, der eine vom Teufel besessene Person exorzieren will.

»Was faselst du denn da?«

Tratto, der wegen seines Gangs durchs Wasser so aussah, als hätte er sich untenrum eingenässt, raunte verschwörerisch: »Der Ku-Klux-Klan.«

»Wie bitte?«

»Ich hätte nicht gedacht, dass er in Deutschland eine Rolle spielt, aber da rennen zahlreiche Gestalten mit diesen weißen Kapuzen durch den Wald.«

»Nicht dein Ernst!«

»Doch!«

Koschnick ärgerte sich, dass er keine Taschenlampe hatte, um die Pupillenreflexe seines Gesprächspartners zu kontrollieren.

»Dir ist schon klar, dass das hier der Wannsee ist und nicht der Mississippi?«

»Ja. Aber ich habe die Kapuzenmänner mit eigenen Augen gesehen. Ich glaube, die jagen Kinder.«

Na klar. Und wenn sie die gefangen haben, rösten sie sie über dem Grill. Vielleicht waren die Drogentests vor der Verpflichtung von Beamten zum Polizeidienst auch nicht mehr das, was sie mal waren, und er unterhielt sich hier mit einem Klebstoffschnüffler.

»Du meinst also, diese schwachsinnigen Rassisten aus den USA sind hier?«

»Ja.«

»Hier? Auf einer beknackten Ferieninsel im Wannsee?«

Tratto nickte mit dramatisch langsamen Kopfbewegungen.

»Und was, bitte schön, haben Sascha Nebel und die Tschetschenen-Mafia damit zu tun?« Koschnick war nun doch etwas laut geworden.

Tratto hingegen blieb beim Flüstern. »Ich hab nachgedacht.«

Oh, nein, auch das noch. Koschnick rollte mit den Augen. Er sehnte sich nach einem weiteren Bier.

»Ich hab eine Theorie. Was, wenn das alles ein ganz großes Missverständnis ist?«

»Du meinst, so wie deine Aufnahme in den Polizeidienst?«

Tratto ging nicht auf die Spitze ein: »Dieser Sascha Nebel, der ist doch ein Kleinkrimineller. Er ist nur ein kleiner, im Grunde harmloser Fisch. Was, wenn er das Auto im Auftrag von Grosny-Mario einfach nur stehlen sollte?«

Koschnick schlug sich eine lästige Mücke aus dem Gesicht.

»Und weil sich gestohlene Autos bekanntlich besser verkaufen, wenn man sie zuvor mit einer Baseballkeule verdrischt, hat er auch das getan?«

»Nein.« Tratto schüttelte den Kopf. »Das ist ein unglücklicher Zufall. Das hat die Ehefrau gemacht.«

»Von wem?«

»Von dem, den Sie Arnold genannt haben. Dem Eigentümer des Wagens.«

»Die dürre Rothaarige?« Er erinnerte sich an die Frau, die in der Haustür gestanden hatte.

»Diese junge Dame war garantiert nicht Arnolds Frau. Die haben überhaupt nicht zusammengepasst.«

Koschnick kicherte. »Oh, Kleiner, du musst noch viel lernen. Geld glättet so manche optische Unstimmigkeit bei Männern.«

»Ich meine nicht das Äußere. Ich meine die Eheringe. Beide haben einen getragen. Aber der von dem Autobesitzer war groß und mit einem schwarzen Edelstein besetzt. Die Dame mit den roten Haaren hatte einen schlichten Ring in einer ganz anderen Form und Farbe.«

Koschnick lachte sarkastisch auf. »Okay, nur zu meiner Erheiterung, Watson: Du hast am Ehering erkannt, dass die beiden nicht verheiratet waren.«

Tratto nickte. »Folglich gehe ich davon aus, dass der Mann seine Frau betrügt.«

»Und die hat sich mit der Keule an seinem Auto für den Seitensprung gerächt, während Sascha, mit dem sie gar nichts am Hut hat, zufällig gerade dabei war, die Karre kurzzuschließen?«

»Nein, nicht kurzzuschließen«, widersprach Tratto. »Ich habe keinerlei Fremdeinwirkung festgestellt. Er muss einen Schlüssel gehabt haben. Deshalb gehe ich davon aus, dass das Ganze ein Versicherungsbetrug ist. Ein Diebstahl im Auftrag des Eigentümers, der deswegen auch keine Anzeige erstatten will.«

Sein Redefluss war nicht mehr zu stoppen. »Als wir Polizisten auf der Bildfläche erschienen, sind sowohl die Frau als auch Sascha abgehauen. Die eine, weil sie gerade eine Sachbeschädigung verübt hat, der andere, weil er in flagranti beim Autodiebstahl erwischt wurde.«

Eine weitere Mücke, ein weiterer Schlag. Was hätte Koschnick dafür gegeben, dass sich ein dicker, fetter Blutsauger auf die Wange seines Untergebenen setzte, dann hätte er endlich einen entschuldbaren Grund gehabt, Tratto mal ordentlich eine zu schallern.

»Aha. Und jetzt lass mich raten: Sascha und die wütende Ehefrau des Fremdgehers sind daraufhin zum nächstbesten Fluchtfahrzeug gerannt. Und das war der Holiday-Charter-Bus der Sokrates-Schule, der sie zu einem Elternabend hier raus auf Schilfwerder gekarrt hat, wo sie sich als Mama und Papa irgendeines Görs ausgeben, dessen echte Eltern nicht gekommen sind?«

»So in etwa.«

Koschnick klopfte mit dem gekrümmten Zeigefingerknöchel gegen Trattos Stirn wie gegen eine Holztür. »Also ehrlich. So eine hirnverbrannte Theorie kann sich auch nur ein Spatzenhirn wie du ausdenken.«

»Na ja, es passt eigentlich alles zusammen, nur …«

»… nur die Kinder jagenden Ku-Klux-Klan-Anhänger irgendwie nicht, hab ich recht?«

»Ja«, gestand Tratto kleinlaut.

»Verdammt, alles muss man alleine machen.« Koschnick schob sich an Tratto vorbei. »Mitkommen.«

»Wohin?«

»Du hast doch gesagt, ich soll mir das mal mit eigenen Augen ansehen.«