V on hier oben sieht die Welt eigenartig aus. Wenn man von meinem Platz in den Wolken aus da unten überhaupt etwas erkennen kann.
Sicher, alles ist kleiner und unbedeutender. Und das ist auch gut so, wie ein ehemaliger Berliner Bürgermeister gesagt hätte. Vor allem, dass man uns mit meinem Abstand hier nicht erkennen kann. Uns Menschen.
Zeit unseres Lebens halten wir uns für wichtig, unverzichtbar und einzigartig, dabei gab es im Laufe der Weltgeschichte schon weit über hundert Milliarden von unserer Sorte auf dem Planeten.
Wenn es einen Gott gibt, dann war er in einem früheren Leben mal ein medizinischer Praxisassistent (umgangssprachlich auch als Sprechstundenhilfe bekannt), und sein Lieblingssatz ist: »Der Nächste bitte!«
Ich weiß, ich verliere mich in nutzlosen Gedankenspielen. Eigentlich möchte ich nur eines klarstellen, für alle, die sich aus irgendwelchen Quellen über meinen Fall informiert haben: Suizid ist nichts Erstrebenswertes. Sich selbst zu töten hat nichts Romantisches – oder gar Heldenhaftes. Es ist grauenhaft, schrecklich, oft schmerzhaft und bis zur letzten Sekunde mit Angst verbunden. Nur ist die Angst vor dem Tod, zumindest in meinem Fall, ein wenig geringer als die vor dem Weiterleben. Ein trauriges, aber passendes Sinnbild sind Menschen, die aus einem brennenden Hochhaus springen, wie etwa die armen Männer und Frauen am elften September. Glaubt wirklich irgendjemand, die hätten keine Angst vor dem Tod gehabt? Kaum einer kann sich vorstellen, dass sich für Menschen, die den Freitod wählen, die Alternative des Weiterlebens so anfühlt wie Flammen, die dir aus einem brennenden Aufzugsschacht entgegenschlagen.
Oder wie …
Kackmist!
Ich spürte, wie sich der heiße Kaffee durch meine Leinenhosen fraß. Und das nur, weil der Lautsprecher über meinem Kopf auf einmal auf Olympiastadion-Lautstärke eingestellt war. Ich war so heftig erschrocken, dass ich mir das Heißgetränk aus dem Pappbecher treffsicher in den Schoß gekippt hatte.
Verdammt.
Alle bisherigen wichtigen Kabinendurchsagen waren im Flüstermodus und komplett verrauscht gewesen, wie:
»Die verbleibend … ugzeit … beträgt hmpfkrsch Minuten.«
Oder:
»Bitte achten Sie den ichtigen … inweis, dass am ughafen folgende obleme … schhhhhhhhkrsch.«
Nun aber, da der Kapitän sich persönlich zu Wort meldete, brüllte er den wenigen Passagieren des Linienflugs von Berlin nach Zürich so laut ins Ohr, dass alle in ihren Taschen nach Servietten, Tampons, Kaugummis oder anderem suchten, was sie sich vors Trommelfell stöpseln konnten. Auch ich dachte darüber nach, von dem Brief, den ich zu schreiben begonnen hatte, etwas abzureißen und mir das Papier zu einem Do-it-yourself-Ohropax zurechtzukauen.
Allerdings brauchte ich die leeren Seiten, um meine Hose zu trocknen.
Immerhin Glück im Unglück. Die Hälfte meines Bechers war auf 7 B neben mir gelandet, und ich saß allein in der Reihe. Normalerweise hätte es zu mir gepasst, dass ich direkt neben einer Schweizer Millionärin reserviert gehabt hätte, die ausschließlich schneeweiße Kleider aus seltenstem Luxussamt trägt.
»… vierundzwanzig Grad, also sehr angenehm«, kam die Durchsage des Kapitäns zu ihrem Ende, und damit hoffentlich auch das Wehklagen der Mitreisenden, die schon fast aus den Ohren bluteten.
»Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt in der Schweiz oder eine gute Weiterreise. Danke, dass Sie uns für Ihren Flug heute gewählt haben.«
Es knackte in der Leitung, doch die Durchsage des Kapitäns war noch nicht vorbei. Seine Stimme hatte auf einmal eine andere Klangfarbe. Von brüllend seriös wechselte sie zu kreischend beschämt: »Alles Gute und auf Wiedersehen. Oder, wie mich meine geschätzte Kollegin zwingt zu sagen, weil ich eine Wette verloren habe: ›Auf Wiederfliegen, Ende Gelände, Adios Embryos, Tschau mit Au …‹«
Ich schrak schon wieder zusammen. Diesmal, weil sich jemand unvermittelt neben mich setzte. Es war jene Kollegin, die der Kapitän gerade erwähnt hatte.
Sie lächelte mich an: »Guten Tacho, die Christin.«