S ie trug eine dunkelblaue Uniform mit goldenen Manschetten und farblich passender Kapitänsmütze, unter der sich ihr hochgesteckter Zopf löste, als sie sie abnahm.
»Was machst du hier?«, fragte ich. Keine sehr charmante Begrüßung bei einem ersten Wiedersehen nach gut fünf Wochen, aber für Höflichkeitsfloskeln war ich einfach zu verwirrt.
»Ich fliege das Flugzeug als Co-Pilotin.«
Ich stellte fest, dass sie noch immer so gut roch wie bei unserer letzten Begegnung.
»Das glaube ich nicht.«
»Dass ich gerade aus dem Cockpit komme?«
»Dass das hier ein Zufall sein soll.«
Sie drehte ihre Mütze zwischen den Händen. Ein allein reisender Teenager auf 7 D, also in derselben Reihe, nur durch den Gang von uns getrennt, blickte nervös zu Christin hinüber. Auf seinem T-Shirt (das hatte ich beim Einchecken gesehen) stand: »Langweilst du dich auch so sehr wie mich?«
Nach Langeweile sah der Ausdruck seines Gesichts nicht mehr aus. Eher nach existenzieller Sorge darüber, weshalb die Pilotin, die er eigentlich lieber im Cockpit gehabt hätte, mit ihrer Mütze neben mir einen Rosenkranz betete.
»Du hast recht. Es ist kein Zufall«, sagte sie. »Ich habe in den letzten Wochen viel über dich gesprochen. Mit all meinen Freunden, meinen Kollegen, meiner Scheidungsanwältin, mit Hector natürlich auch.«
»Und der hat dir gesagt: Mama, ich hatte gestern in der großen Pause eine Eingebung. Ich glaub, der Typ, der mich vom Sprungbrett gequatscht hat, sitzt in LX 975 auf 7 A. Willst du nicht die Maschine fliegen, um ihm mal Hallo zu sagen?«
Christin lächelte verlegen.
»Apropos, wie geht es ihm?«
»Hector? Besser. Er hat eine Therapie begonnen.«
»Das freut mich«, sagte ich, weil es mich wirklich freute.
»Ja, er macht große Fortschritte. Sein Psychiater sagt, es war ein Hilferuf.«
»Wo ist er jetzt?«
»Auf Wanderfahrt mit der Klasse in Walsrode.«
Ich seufzte wehmütig. Ohne dass sie es wissen konnte, hatte Christin mit der Erwähnung von Walsrode die Erinnerung an eine äußerst denkwürdige Episode getriggert, die ich mit meinem fabelhaften Opa Gustav erlebt hatte, Gott hab ihn selig. Eine Brille lehnte Opa aus Eitelkeit ab (Zitat: »Ich will die wenigen heißen Witwen da draußen doch nicht schon von Weitem auf meine schlechten Gene aufmerksam machen«). Ein Hörgerät, das er noch viel nötiger gehabt hätte, war ihm »zu umständlicher technischer Firlefanz«. Trotz dieser eingeschränkten Sinne war Gustav jedoch sehr unternehmungslustig. Hin und wieder begleitete er mich in meinen jüngeren Jahren auf Partys, einfach, weil ihm zu Hause langweilig war. Meine Freunde liebten den schrulligen Kauz, mit dem eine Unterhaltung zu führen ungefähr so informativ war wie eine Runde Stille Post mit zweitausend Teilnehmern. Bei einer Küchenparty lernte er einmal einen Verkäufer von getunten Luxussportwagen kennen, der von Gott weiß wem mitgeschleppt worden war und der unter all den Studenten und Azubis seine Zielgruppe nicht finden konnte. Bis er auf meinen Opa traf, der ihm geduldig bei seinen Ausführungen zuhörte, dass von dem Mercedes 560 SEC AMG 6 .0 seinerzeit ja nur fünfzig Stück gebaut wurden!
Ich sehe es noch wie gestern vor meinem geistigen Auge. Mein Opa interessiert nickend, ein Glas Milch mit Strohhalm in der Hand, in jede Pause ein »ja« oder »sehr richtig« einwerfend, was den Protzschlitten-Aufmotzer zu Äußerungen verleitete wie: »Der Charger Dodge Speedcore kommt mit seiner Komplett-Carbon-Karosserie und dank Doppel-Turbo auf krasse 1546 PS !«
Woraufhin Opa Gustav lachend den Kopf in den Nacken warf und bestätigend erwiderte: »Sie haben ja so recht. Je näher man Walsrode kommt, desto lauter zwitschern die Vögel.« (Übrigens eine geniale Strategie, um lästige Gesprächsteilnehmer von jetzt auf gleich abzuwürgen: »Hätten Sie etwas Zeit für eine kurze Umfrage am Telefon?« – »Klar! Je näher man Walsrode kommt, desto lauter zwitschern die Vögel!« Funktioniert immer!)
Wegen dieser von Christin getriggerten Erinnerungsassoziation hatte ich bei dem Wort »Walsrode« also wehmütig im Andenken an Gustav geseufzt. Logisch, dass sie sich die Hintergründe nicht spontan zusammenreimen konnte und deshalb davon ausging, dass ich damit wohl zum Ausdruck bringen wollte, ich missbillige ihr Getrenntsein von Hector.
»Du glaubst gar nicht, welche Ängste ich ausstehe, weil ich nicht in seiner Nähe bin. Aber sowohl die Ärzte wie auch die Lehrer haben mir versichert, dass es jetzt genau das Richtige für ihn ist, Spaß zu haben und mit Freunden etwas zu erleben.«
Ich nickte. Wenn es jemanden gab, der wusste, wie heilsam Abwechslung sein konnte, dann wohl ich.
»Im Grunde hast du dir genau den richtigen Flug ausgesucht. An einem anderen Tag hätte ich Hector nicht alleine gelassen.«
»Ist Katharina auch mit auf der Wanderfahrt?«, erkundigte ich mich.
Christin lächelte. »Ja. Auch diese Freundschaft tut ihm gut.«
»Und hat Arne die Prügelei mit Lutz überlebt?«
Christin lachte. »Oh, Gott. Diese Nacht auf Schilfwerder. Es war auf einmal wie in einem Bud-Spencer-Film. Ein heilloses Chaos. Plötzlich waren zwei Polizisten da, die uns alle verhaften wollten. Der eine schwafelte etwas von ›Gründung eines verbotenen Geheimbunds‹. Aber die beiden waren völlig überfordert. Am Ende haben sie nur Lutz mitgenommen, der auch ihnen gegenüber handgreiflich werden wollte. Geschieht ihm recht.«
Sie sah an mir vorbei aus dem Fenster, als gäbe es dort etwas Interessantes zu sehen, wie eine brennende Tragfläche zum Beispiel, aber dann hätte sie vermutlich eher panisch und nicht so traurig dreingeblickt.
»Lutz ist ausgezogen. Meine Mama wohnt dafür jetzt bei uns, Hector hat sie sehr lieb.« Sie zog die Nase hoch. Ich fragte mich, warum etwas, was bei mir eklig gewesen wäre, bei ihr wie ein niedlicher Fauxpas klang.
»Ich bin viel zu oft und viel zu lange weg gewesen. Obwohl ich gewusst habe, was für ein Schwein Lutz ist. Doch so schlecht er als Ehemann war, als Vater habe ich ihn für perfekt gehalten. Es kamen ja auch nie Klagen. Hector hat tolle Zeugnisse nach Hause gebracht, Lutz hat mir versichert, er kümmere sich um Hausaufgaben und Elternabende, wenn ich nicht da war. Und Hector, so sensibel, wie er ist, hat mich nicht belasten wollen. Er hat mir nichts von seinen Problemen erzählt, um, wie er sagte, mir keinen Kummer zu machen. Tatsächlich habe ich nicht bemerkt, dass Hector nur auf sich alleine gestellt war. Ich habe versagt.«
Sie machte eine Pause. Wenn sie hoffte, ich würde ihr widersprechen, lag sie falsch.
»Nun denn, ich versuche, ihm fortan die Mutter zu sein, die er braucht und die er verdient hat. Ich fliege jetzt nur noch dreimal die Woche und nur noch innereuropäisch.«
Ich kratzte mir den Hinterkopf. Meine Haare waren jetzt bestimmt zwölf Millimeter lang, ich war lange nicht mehr bei einem Friseur gewesen, was den Vorteil hatte, dass Rechtsradikale auf der Straße mir nicht mehr so freundlich zunickten.
»Und wie kommt es nun, dass du gerade neben mir sitzt?«, fragte ich. »Es gibt mehrere Verbindungen täglich, und du fliegst sie seltener, als beim BER falscher Brandalarm ausgelöst wird.«
Christin seufzte, als würde sie mit einem Begriffsstutzigen reden. Wenn sie eine so kurze Zündschnur hatte, wollte ich auf gar keinen Fall in Hectors Haut stecken, wenn sie ihn Vokabeln abfragte.
»Wie gesagt, ich habe viel über dich geredet. Eine gute Freundin am Boden hat deinen Namen in der Buchung gesehen. Sie hat mir den Tipp gegeben, dass ich dich heute hier treffen kann. Ich musste nur mit einem Kollegen tauschen.«
Aha. Das ergab Sinn. »Und wieso die Mühe?«
»Weil du nicht im Telefonbuch stehst? Weil ich keine Adresse, keine E-Mail und keine Handynummer von dir hatte?« Sie seufzte erneut. »Weil ich auf Schilfwerder nicht mehr die Gelegenheit bekam, mich bei dir zu bedanken.«
Christin streckte ihre Füße, so weit es ging, unter dem Vordersitz aus. Da wir in der Holzklasse saßen (ja, es war eine kleine Maschine), konnte sie froh sein, sich bei dem Versuch nicht die Knie zu brechen. Sie drehte sich zu mir.
»So, nun zu dir. Was machst du hier?«
Das war sie. Die Frage alle Fragen.
Natürlich hatte ich eine Antwort. Aber ich fürchtete, es war nicht die, die Christin hören wollte.