Kapitel 50

D u willst wissen, was ich hier mache und nicht zwölf Fuß unter der Erde?«, fragte ich.

Sie schluckte unwillkürlich. »Dann hat Hector also recht«, murmelte sie.

»Womit?«

»Er hat mir gesagt, er habe auf der Insel gespürt, dass du die Wahrheit sagst. Als du gemeint hast, du würdest den Tod deiner Tochter nicht ertragen.« Sie atmete schwer: »›Er fühlt, was ich fühle, Mama‹, hat er nach diesem Abend zu mir gesagt.«

Die dunklen Gedanken. Die Nebelwolke.

»Du hast dich auf der Insel also wirklich umbringen wollen?«

Ich sah wieder zu 7 D. Der junge Mann mit dem Motto-T-Shirt, der anscheinend immer größere Ohren machte, war noch blasser geworden. Ich konnte ihn verstehen. Vielleicht war er zum ersten Mal alleine unterwegs, und die Pilotin diskutierte neben ihm über Suizid. Wäre ich ein lebensbejahender Mensch, würde ich auch nicht gerne mit dem Typen, der mich beim Fallschirmspringen huckepack nehmen würde, kurz vor dem Absprung über die Sinnlosigkeit des Lebens reden wollen. Zurück zu Christin.

»Kennst du einen anderen Grund, weshalb erwachsene Menschen sich am Steg mit Klebeband die Beine zusammenbinden?«, fragte ich sie.

Fetischfreaks mal ausgenommen.

Ich versuchte, mich zu ihr zu drehen, ohne mein Hemd zu zerreißen, so eng, wie es hier war. »Lass mich raten: Du denkst jetzt: ›Aha, der Sascha ist noch immer am Leben, so ernst hat er es mit seinem Freitod wohl doch nicht gemeint.‹«

Tatsächlich hatte ich auf der Insel direkt vom leeren Schwimmbecken in den vollen Wannsee marschieren wollen. Aber dann hatte exakt an der Stelle, an der ich durch den Wald aufs Ufer traf, ein Ruderboot am Strand gelegen. Gefüllt mit einer halb leeren und zwei noch ungeöffneten Bierdosen. Bei meinem Durst wertete ich das als Zeichen, dass eine höhere Macht beschlossen hatte, heute wäre nicht der Tag der Tage.

»Zunächst einmal bin ich froh, dass es dich noch gibt«, sagte Christin, die meinem ernsten Blick sehr gut standhielt. Ich bemerkte zum ersten Mal, dass sie gelbgrüne Augen hatte. Bei mir hätten sie wie die einer giftigen Schlange ausgesehen, bei ihr kam mir das Wort »apart« in den Sinn. (Omi Lenor hätte sie angesichts ihres Gesamtauftritts heute übrigens als »kesse Sumse« beschrieben.)

»Und um auf deine Frage zurückzukommen: Ja, ich habe die Hoffnung, dass dieser Abend dich verändert hat.«

Ich nickte. »Verstehe.«

»Was?«

»Nun, es passt doch wirklich alles herrlich zusammen. Ich war in einer extremen Ausnahmesituation, mental komplett am Ende. Da treffe ich auf eine extrem seltsame, aber irgendwie attraktive Frau, mit der ich auf der Flucht vor der Polizei einen völlig abgedrehten Elternabend verbringen muss. Auf dem ich mir selbst näherkomme, dem Tod von der Schippe springe und sogar ein junges Menschenleben retten kann. Und wie es das Schicksal so will, ist die extrem seltsame, attraktive Mutter im Begriff, sich scheiden zu lassen, weshalb ich natürlich, geläutert und komplett verändert, mich Hals über Kopf verliebe und dem Jungen ein besserer Vater als der leibliche sein werde, anstatt freiwillig über den Jordan zu gehen.«

Platz 7 D hob die Hand wie in der Schule, um uns irgendetwas zu verstehen zu geben, aber ich wollte ihn nicht drannehmen, und Christin war mir komplett zugewandt und konnte daher nicht sehen, was hinter ihrem Rücken geschah.

»Eingebildet bist du gar nicht, oder?«, fragte sie mich.

»Wieso?«

»Wie kommst du auf die absurde Idee, ich würde dich in mein Leben lassen wollen?«

»Wie kommst du auf die absurde Idee, eine einzige Nacht würde mich gesunden lassen?«, schoss ich zurück, plötzlich in Rage. Zornig wie ein Kleinkind, dem man das Eis erst hingehalten, dann aber vor dem ersten Bissen wieder weggenommen hat, sagte ich: »Weißt du was, ich habe die Schnauze voll von Menschen wie dir. Jeder halbwegs empathische Mitbürger hält sich heutzutage für einen Psychologen. Du glaubst auch, nur weil Mitgefühl und Takt für dich keine Fremdwörter sind, würde allein dein sensationelles Einfühlungsvermögen ausreichen, um mich gesund zu machen. Nach dem Motto: ›Schau doch nur, wie toll der Elternabend war. Das Leben ist ungewöhnlich, aber aufregend und schön. Dann musst du ja jetzt erkannt haben, dass man es nicht einfach so wegwirft.‹«

Ich musste husten, was mich etwas schwächer und meinen Ausbruch vermutlich weniger beeindruckend erscheinen ließ.

»Aber ich sag dir was: Wenn du irgendwann Alzheimer bekommst, und du verlebst mit deinem Pfleger einen wundervollen Tag im Park, dann wird der danach auch nicht zu dir sagen: ›So, Frau Schmolke, jetzt haben Sie doch selbst mal miterlebt, wie schön die Rosen blühen und wie viel Freude es Ihnen macht, die Häschen auf der Wiese beim Hoppeln zu beobachten. Also reißen Sie sich doch das nächste Mal bitte zusammen, wenn Hector im Sanatorium zu Besuch kommt, und erkennen ihn gefälligst, wenn er Sie umarmen will.‹«

»Ich verstehe, worauf du hinauswillst.«

»Nein, tust du nicht. Wenn ich mit Blinddarmdurchbruch zu dir käme, würdest du die 112 rufen und mich nicht bitten, mich mal auf den Küchentisch zu legen, damit du mich mit deinem Brotmesser operieren kannst. Komme ich mit einer blutenden Seele zu dir, glaubst du aber, der Sache gewachsen zu sein und meinen vergifteten Verstand allein mit warmen, lebensklugen Worten verarzten zu können.«

»Äh, Entschuldigung. Ihre Unterhaltung macht mich etwas nervös«, meldete sich 7 D.

»Dann schluck ne Valium«, empfahl Christin ihrem Passagier, etwas, was sie vielleicht selbst hätte beherzigen sollen. Denn jetzt war sie hörbar wütend.

»Du …« (damit war ich gemeint) »… kommst jetzt mal von deinem hohen Ross runter. Ich habe gar nichts gesagt. Ich habe dir keine Tipps oder Ratschläge gegeben. Und ich bin nicht blöd. Mir ist schon bewusst, was du in der Schweiz willst.«

Ja, die lieben Eidgenossen. Sie sind halt nicht allein für Schokolade, Uhren, Banken und ihre Neutralität bekannt, sondern auch dafür, dass gewisse Kreise sich damit auskennen, Menschen auf ihrer letzten Reise etwas zu unterstützen. Wenn ich ehrlich war, hatte der Elternabend mich wirklich verändert und mir aufgezeigt, dass meine Lebensmüdigkeit mich unendlich schwach gemacht hatte und ich es ohne fremde Hilfe nicht schaffen würde.

»Du machst mir Vorwürfe, ich würde dir Ratschläge erteilen?«, fragte Christin. »Sascha Nebel, ich kenne dich so wenig, ich würde mir noch nicht einmal anmaßen, dir eine Zahnpasta oder eine Toilettenpapiersorte zu empfehlen, geschweige denn, wie und ob du dein Leben zu leben hast.«

Max White Extrem und Vierlagig Ultrasoft, lag mir auf der Zungenspitze.

»Ich habe mich informiert«, fuhr sie fort. »Auch wegen Hector. Allein in Deutschland sterben jährlich zwischen sechs- und siebentausend Menschen an den Folgen eines Suizids. Das sind mehr als an Verkehrsunfällen, Drogen, Mord und HIV zusammen. Und trotzdem wird jeder Fall wie ein seltenes Einzelschicksal behandelt.«

»Was willst du mir damit sagen?«

»Die Hinterbliebenen von Selbstmördern …«

»Mööp«, wandte ich ein und machte ein Time-out-Zeichen wie beim Basketball. »Von Selbstmord spricht man nur, wenn ein Attentäter andere absichtlich mit in den Tod reißt. Suizide, bei denen nur derjenige stirbt, der freiwillig den Tod sucht, sind aber straflos und Menschen wie ich ganz sicher keine Mörder.«

»Großer Gott!« (Gestöhnter Seiteneinwand von 7 D.)

»Gut, dann Suizidenten eben.« (Genervtes Zugeständnis von 7 B.) »Deren Angehörige, Freunde und Verwandte werden in unserer Gesellschaft wie Aussätzige behandelt. Der Pfarrer spricht nicht über die Todesursache, die Eltern schreiben verschämt ›Herzversagen‹ und ›plötzlich‹ in die Traueranzeige, doch hinter vorgehaltener Hand wird getuschelt: ›Wieso haben die das bei ihm denn nicht bemerkt, die hätten ihm doch helfen müssen?‹ «

Ich wollte ihr sagen, dass wir uns jetzt argumentativ die Hand reichen konnten. Genau das hatte ich gemeint, als ich sagte, alle redeten mit, doch keiner wisse, wovon. Wenn ich es mir recht überlegte, war das eigentlich eine recht gute Definition eines Elternabends.

»Auf einen Selbstmö… Suizidenten kommt eine Vielzahl von Freunden, Bekannten, Kollegen, Verwandten. Und die meisten von denen fühlen sich schuldig. Stigmatisiert.«

»Genau das hasse ich an Serien wie ›Tote Mädchen lügen nicht‹«, wandte ich ein. Die Verwirrungstaktik. Etwas scheinbar Absurdes sagen, das aber trotzdem Sinn ergibt und den Redeschwall deines Gegenübers versiegen lässt.

»Wie meinst du das?«

»Da wird so getan, als ob es dreizehn Schuldige gäbe und ein Opfer. Aber so einfach ist es nicht. Schuld ist hier die falsche Kategorie. So verständlich es auch ist, dass wir bei Katastrophen immer einen Schuldigen suchen, so falsch ist es, das bei Suiziden zu versuchen.«

»Ich bin sehr wohl schuld, dass mein Sohn sich fast das Leben genommen hat«, widersprach Christin.

»Falsch. Du bist schuld daran, die Faktoren, die dazu führten, nicht rechtzeitig bemerkt zu haben. Hätte Hector es durchgezogen und wären wir zu spät gekommen, wäre das eine Schuld, mit der du dann hättest leben müssen und an der du vermutlich zugrunde gegangen wärst. Aber ursächlich wären Umstände gewesen, die du kaum beeinflussen oder verändern kannst. Wie Hectors Sensibilität. Seine im Vergleich zu anderen Kindern höchstwahrscheinlich stärker ausgeprägte Empfindsamkeit. Fakt ist: Es gibt leider Hunderttausende vernachlässigte Kinder, denen übler mitgespielt wird und die in weitaus desolateren Verhältnissen groß werden und die dennoch nicht auf einen Sprungturm klettern.«

Ich redete schneller, damit sie es schwerer hatte, mich zu unterbrechen.

»Vielleicht hat es hormonelle Gründe, dass Hector Anfeindungen anders wahrnimmt als Gleichaltrige? Vielleicht ist seine Schilddrüse nicht in Ordnung? Hat er ein singuläres traumatisches Ereignis erlebt, vor dem ihn niemand hätte schützen können, das zu einer posttraumatischen Belastungsstörung führte? All das muss untersucht werden, aber nicht von dir, denn hier bist du kein Profi.«

Christin sah nicht sehr überzeugt aus. Platz 7 D steckte sich die Finger in die Ohren und sang »la, la, la«.

»Du sagst, ich bin keine erfahrene Therapeutin, also kann ich Menschen wie dich, ja sogar meinen eigenen Sohn nicht verstehen. Und wenn es am Ende zum Schlimmsten kommt, ist niemand schuld. Also leg ich jetzt einfach die Hände in den Schoß und lass die anderen mal machen?«

»Wieder falsch. Es gibt professionelle Hilfe für Menschen wie mich, richtig. Die hast du Hector besorgt, das ist gut. Aber das Wichtigste, was Menschen mit Depressionen, dunklen Gedanken und suizidalen Tendenzen brauchen, ist eine Familie.«

Die ich nie hatte.

»Diese Familie, zu der auch Freunde zählen, ist wie ein Haus. Du, Christin, bist ein Haus. Du kannst dich entscheiden, es leer stehen zu lassen wie in der letzten Zeit, als du so oft geflogen bist. Du kannst einen großen Zaun drum ziehen, Alarm- und Selbstschutzanlagen installieren und dich ganz unten im Keller in einen Panikraum verkriechen und alle anderen aussperren.«

»Oder ich male es bunt an, backe einen Kuchen, decke den Tisch und öffne die Türen …«

»… um die, die dir wichtig sind, bei einem Latte macchiato vor dem knisternden Kamin willkommen zu heißen. Vorausgesetzt, es ist Winter natürlich. Sonst kommen wirklich nur Frostbeulen mit einer Schilddrüsenunterfunktion zu Besuch.«

Sie lächelte traurig.

»Am Ende aber, das ist sehr schwer zu verstehen, darfst du dir nicht die Schuld geben, wenn dein Lieblingsmensch eine andere Tür wählt. Du kannst sie nur öffnen, hindurchgehen muss er oder sie dann schon selbst. Und – das ist genauso wichtig – auch der Lieblingsmensch, der dein Hilfeangebot nicht annimmt, trägt keine Schuld. Vielleicht sieht er dein Haus nicht, weil es für ihn in einem dunklen, düsteren Nebel steht, obwohl du es hell erleuchtet hast.«

Vielleicht hat er sich, so wie ich, in seinem Leben schon viel zu oft verlaufen und ist nun einfach müde.

Christin griff sanft nach meiner Hand. »Mein Haus steht offen. Das Licht brennt. Und es gibt Schokokuchen.« Sie sah auf meinen immer noch feuchten Schoß. »Aber keinen Kaffee. Das ist zu gefährlich.«

»Ich mag nur Schwarzwälder Kirsch«, sagte ich.

»Dann eben nicht.«

Wir lachten beide.

Platz 7 D sang lauter, es erinnerte mich an gregorianischen Gesang.

»Okay, ich gebe es zu. Als ich gehört habe, dass du heute fliegst, dass du also noch lebst, hatte ich die Hoffnung, dass du es dir anders überlegt hast. Ich hab jetzt verstanden, dass es mit rationalem Überlegen wenig zu tun hat. Aber vielleicht gibt es ja doch noch eine Tür, die du übersehen hast.«

»Ich …«

»Schhhh!« Sie legte mir den Finger auf die Lippen.

»Lass sie uns doch gemeinsam suchen. Ich will dich nicht verändern oder versuchen, dich für immer davon abzuhalten. Nur so lange, bis ich dich wenigstens etwas kenne, Sascha. Ich akzeptiere, dass du ein gebrochener Mann bist. Es ist schrecklich, was du mit Lara erleben musstest. Es ist mir egal, womit du dein Geld verdienst. Du hast wie jeder andere auf diesem Planeten das Recht auf körperliche Selbstbestimmung. Niemand darf dir reinreden. Das heißt aber nicht, dass ich das alles schweigend ertragen und alleine mit Zweifeln und Selbstvorwürfen zurückbleiben muss. Ich will dich verstehen, will dich analysieren, und, ja verdammt, ich will dich hier auf der Erde behalten, wenigstens so lange, bis ich wenigstens zu einem Prozent kapiert habe, was in dir vorgeht.«

»Das ist doch reiner Egoismus.« Ich lachte.

Sie grinste zurück. »Was denn sonst? Denkst du, ich bin dir auf ewig verfallen, nur weil du mich eben attraktiv genannt hast?«

»Und extrem seltsam!«, ergänzte ich.

»Natürlich geht es mir um Hector. Ich will bei ihm nie wieder irgendwelche Anzeichen überhören oder übersehen.«

Stille. Das Flugzeug rauschte, Platz 7 D wimmerte und schluchzte.

»Sprich es aus!«, forderte ich von Christin.

Sie nahm allen Mut zusammen und sah mir fest in die Augen. »Können wir versuchen, dein Haus zu sein?«

Die Frage war ebenso naiv wie liebenswert.

Wie gerne hätte ich sie in den Arm genommen, sie gedrückt und mit Tränen in den Augen einfach Ja gesagt.

Ich wandte mich ab und sah aus dem Fenster.

Wie paradox. Mein Leben lang hatte ich all meine Energie dafür verschwendet, mich zu verbiegen und zu verändern, um anderen zu gefallen. Die Ironie des Schicksals wollte, dass mir jetzt, wo ich erstmals jemanden getroffen hatte, der mich eventuell genauso akzeptierte, wie ich war, die Kraft fehlte, meine Maske abzulegen und einfach nur ich selbst zu sein.

Wer immer das auch sein sollte.

»Ich bin so müde«, sagte ich, während ich von hier oben auf eine Welt blickte, die durch die Wolken betrachtet wunderbar leer und menschenlos wirkte.

So wie der Platz neben mir, als ich nach einer Weile wieder nach rechts schaute.

Christin war fort.

Der Landeanflug hatte begonnen.