Kapitel 52

I ch habe Ihnen doch erzählt, dass ich mich für einen Irrenmagneten halte, so oft, wie verhaltensauffällige Menschen in mein Leben treten. Mit einigen davon war ich sogar befreundet, wie mit Franky, mit dem ich eine Zeit lang in einer Werbeagentur arbeitete und an dessen gewöhnungsbedürftigen Humor ich jetzt denken musste. Nur wenige Minuten nachdem ich den Bereitschaftsraum nach einer kurzen Unterredung mit dem Arzt wieder verlassen hatte und in Christins staunende Augen sah. Denn Franky hatte mich einmal in eine emotional vergleichbare Situation wie diese hier gebracht.

Es ist Jahrzehnte her, aber mir bricht bei der Erinnerung heute noch der Schweiß aus. Ich hatte mit meiner heutigen Ex-Frau Valerie den allerersten, hochromantischen Liebesurlaub in einem Strandhotel auf Kreta verbracht. Frisch verliebt aßen wir griechische Köstlichkeiten, tranken lokalen Wein und beobachteten von unserem Tisch am Meer aus den Sonnenuntergang, der an Kitschigkeit nur von unserem turteltaubenhaften Gegurre überboten wurde.

Händchen haltend saßen wir Knie an Knie und waren in einem Stadium der Liebesblindheit, in dem wir selbst einen Brocken Hack zwischen den Frontzähnen des Partners attraktiv gefunden hätten. Kurzum: Alles war perfekt. Bis die Torte kam.

Sie wurde von Suza an unseren Tisch gebracht. Eine zierliche Kellnerin mit Bobfrisur, die in dem kleinen Boutique-Hotel hin und wieder an der Rezeption eingesetzt wurde. Bis zu diesem Abend war sie ein Ausbund an Freundlichkeit gewesen. Schon beim Einchecken hatte sie sich über unser junges Glück gefreut, uns ohne Mehrkosten die »Hochzeitssuite« gegeben, beinahe täglich gefragt, wann die Glocken läuten würden und wann bei einem so perfekt harmonischen Paar, wie wir es waren, denn mit Nachwuchs zu rechnen sei. All das untermalt von einem Zweitausend-Watt-Lächeln, das sie uns regelmäßig schon aus der Ferne schenkte. Jetzt aber sah Suza sehr gedimmt aus. Sie wirkte verstört und blickte mich traurig und verwirrt zugleich an. Sogar etwas Missmut lag in ihrem Blick, als sie die Torte wortlos zwischen meinem Gyros und Valeries Bifteki platzierte.

»Äh, was ist das?«, fragte ich, denn den absurd hohen Schokocremeturm hatte ich nicht bestellt. Und so wie die Kellnerin dreinblickte, war es wohl kaum eine freundliche Aufmerksamkeit des Hauses. Es war auch kein Dreißigtausend-Kalorien-Gruß aus der Küche, wie ich gleich schockiert lernen sollte.

»Das hat Ihr Freund aus Deutschland für Sie bestellt«, sagte die Kellnerin kühl.

»Welcher Freund?«

»Franky.«

Oh, Gott. Mir schwante Übles, während Valerie noch nichts ahnend lächelte. Hätte ich ihr zu diesem frühen Zeitpunkt unserer Beziehung Franky bereits vorgestellt und sie daher gewusst, wozu der Gestörte in der Lage war, wäre sie vor Scham ins Meer gerannt.

»Hat er …?«, fragte ich wie betäubt vor Furcht.

Die Kellnerin nickte. »Ja, er hat eine Nachricht für Sie hinterlassen. Warten Sie. Ich lese vor.«

Nein, bitte nicht, dachte ich, versäumte es in meiner Schockstarre aber, laut zu schreien.

Suza kramte einen Zettel aus ihrer Schürze und las die Worte ab, die Franky ihr am Telefon durchgegeben haben musste:

»Liebes Hotelmanagement, bitte richten Sie Sascha Nebel aus, der gerade mit seiner Sekretärin Valerie bei Ihnen Urlaub macht: Seine Frau hat daheim einen gesunden Jungen zur Welt gebracht.«

Das Schlimme war nicht, dass Suza mich wegen dieses völlig absurden Scherzes nun für einen ehebrecherischen Betrüger hielt, der sich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen ihre Freundlichkeit und ein Zimmer-Upgrade erschlichen hatte, während er seine Frau daheim alleine stöhnend in den Wehen hatte liegen lassen. Das Schlimme war, dass ich so überfordert mit der Situation war, dass ich lachen musste. Weshalb Suza in mir nicht nur einen Bigamisten, sondern auch einen Geisteskranken vor sich wähnte.

Unnötig zu bemerken, dass auch Valerie mich verstört ansah.

Es heißt ja, dass eine glückliche Beziehung am Anfang wie ein perfektes Tongefäß ist. Bekommt es einen Riss, etwa durch eine Lüge, einen Seitensprung oder andere Verletzungen, kann man es sehr häufig kitten. Manchmal so gut, dass von außen nichts mehr sichtbar ist. Jedoch der Klang des Gefäßes, wenn man dagegenschlägt, wird nie wieder so rein und klar sein wie vor der Beschädigung. Heute bin ich mir fast sicher, dass an jenem Abend auf Kreta die Beziehung zwischen mir und Valerie einen ersten Knacks erlitten hat, auch wenn ich ihr seinerzeit natürlich glaubhaft versichern konnte, dass ich weder eine heimliche Ehefrau noch Nachwuchs hatte und Franky lediglich ein verhaltensauffälliger Witzbold in meinem Leben war. Nur, und das war die Frage, die ich sowohl in Suzas als auch in Valeries Augen las: Was für ein Mann hatte solche Freunde wie Franky?

Es war ebenjener Gesichtsausdruck, der zwischen Verwirrt- und Unsicherheit schwankte, der sich mir in diesem Moment auch in Christins Mimik zeigte. Sie hatte in der Zollschleuse noch vor den gläsernen Schiebetüren auf mich gewartet.

»Sie gehen?«, fragte sie den Arzt, der gemeinsam mit dem Sanitäter nach mir aus dem Raum getreten war. Auch er erinnerte mich an das emotionale Chaosdreieck, in dem ich mich auf Kreta befunden hatte. Eigentlich hatte mich der Mitarbeiter des psychiatrischen Notdienstes in eine geschlossene Abteilung einweisen wollen. Doch obwohl ich ihm gute Gründe dafür gegeben hatte, weswegen es dafür keinen Anlass gebe, blickte er zum Abschied noch einmal misstrauisch in die Runde, genauso wie Suza seinerzeit nach meinen gestammelten Erklärungsversuchen auf Kreta. Selbst ich fühlte mich wie damals. Gleichermaßen peinlich berührt wie belustigt über die Gesamtsituation, die mit wenigen Worten nur schwer verständlich zu machen war.

»Was ist los?«, fragte mich Christin, nachdem wir uns allein in dem Zwischengang wiederfanden. Selbst die Zollbeamten hatten sich mangels nachrückender Passagiere in die Pause verdrückt.

»Sie nehmen dich nicht mit?« Sie stand von der Metallbank auf, auf der sonst die Koffer gefilzt wurden.

Ich musste grinsen.

»Hast du deshalb meinen Rucksack ausladen lassen?«, fragte ich. Christin nickte verlegen. »Um Zeit zu schinden. Sie sagten, sie müssten dich in eine fürsorgliche Unterbringung aufnehmen, wie die das hier in der Schweiz nennen, und du solltest den Flughafen nicht verlassen, bevor sie da sind.«

»Verstehe.«

»Aber ich nicht!« Sie schüttelte den Kopf. »Wieso haben sie dich nicht mitgenommen?«

»Weil ich keine Gefahr darstelle. Weder für mich noch für andere.«

»Aber du willst doch …«

»Was? Mich umbringen?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich will mich nicht umbringen, Christin. Ich will nur so nicht weiterleben. Das ist ein gewaltiger Unterschied.«

Ihre Wangen röteten sich. »Aber das Resultat ist doch dasselbe, wenn du jetzt nicht unter Beobachtung in eine Klinik kommst. Du wirst tot sein.«

»Nein, denn ich stehe unter Beobachtung«, sagte ich.

Süß. Sie sah sich tatsächlich um.

»Ich meinte damit, ich habe mir auch Hilfe geholt, Christin. So wie du für Hector. In Berlin habe ich einen Therapeuten. Der Arzt hat ihn eben angerufen. Er hat ihm bestätigt, dass ich in guter Behandlung und medikamentös eingestellt bin.«

»Und hier in der Schweiz?«

»Besuche ich eine Selbsthilfegruppe.«

Sie holte tief Luft. »Dann bist du …?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin nicht übern Berg. Ich kann dir nicht versprechen, dass ich nie wieder versuche, mir etwas anzutun. Ich bin wie ein trockener Alkoholiker. Die Versuchung ist immer da. Ich versuche mich nur, so gut es geht, von der Minibar des Lebens fernzuhalten.«

Ich deutete zum Ausgang, doch sie hielt meine Hand fest, als ich gehen wollte. »Es tut mir leid, dass ich den Notruf gewählt habe.«

»Quatsch. Ich danke dir.«

»Wofür?«

Ich strich ihr eine Strähne aus den Augen. »Dass du hinschaust. Dass du reagierst. Und handelst. Auch auf die Gefahr hin, etwas falsch zu machen.«

Aus der Ferne hörte ich das Quietschen der Räder von Rollkoffern. Stimmengewirr wurde lauter. Offenbar war eine Maschine gelandet, denn nun tauchten auch die Zollbeamten wieder auf.

»Behalte das bei«, sagte ich zu ihr. »Deine Aufmerksamkeit. Dann musst du dir nie wieder Sorgen machen, bei Hector irgendwelche Anzeichen zu übersehen.«

Ich wandte mich von ihr ab und ging zum Ausgang. Sie folgte mir. Zwei Schiebetüren öffneten sich, und wir standen in der Ankunftshalle, noch vor der gläsernen Absperrung, hinter der ein Pulk von Besuchern auf Ankömmlinge wartete. Gut zwei Dutzend Menschen, die mehr oder weniger sehnsüchtig der Ankunft ihrer Verwandten, Freunde oder Kollegen entgegenfieberten. Einige mit Blumen und Kuscheltieren bewaffnet. Chauffeure mit Namensschildern. Ein Mann mit ZZ -Top-Bart und dazu passendem schwarzem Ledermantel hielt einen Strauß herzförmiger Luftballons in die Höhe.

»Und du bist mir nicht böse?«, fragte Christin.

Wir blieben stehen. Sahen einander an.

»Im Gegenteil«, antwortete ich. Menschen strömten an uns vorbei.

»Okay … also dann …« Wir umarmten uns und hielten uns etwas länger fest als nötig. Verlegen lösten wir uns zögerlich. Beide schafften wir es nicht, uns nach diesem intimen Moment der Nähe erneut in die Augen zu sehen. Unsere Blicke wanderten unabhängig voneinander über die Reihe der Wartenden.

Neben dem ZZ -Top-Imitator stach ein glatt rasierter, perfekt gescheitelter Mann aus der Reihe. In seinem schwarzen Frack sah er aus wie ein englischer Butler.

Christin und ich hatten ihn beinahe gleichzeitig entdeckt. Wir sahen uns an und mussten beide grinsen.

»Ich fliege morgen früh mit der ersten Maschine wieder nach Berlin. Wann hast du deinen Termin bei der Gesprächsgruppe?«

»Morgen Nachmittag.«

»Und? Denkst du auch, was ich denke?

Ich nickte. »Das wollte ich immer schon mal ausprobieren«, gab ich zu.

Sie lachte. »Ich auch.«

Und es war ja noch Zeit. Zumindest bis morgen früh.