Carpentras, 27. Mai 1939
Ma très chère Hannah,
was ich schon seit einiger Zeit befürchte, ist nun traurige Gewissheit. Gestern bekam ich Nachricht, dass mein Josef in einem Lager verstorben ist. In seinem letzten Brief, den ich vor über einem Jahr erhielt, schrieb er noch, dass sie nicht viel zu essen hätten und schwere Arbeit leisten müssten. Aber er war gesund und ganz guter Dinge, und er hoffte, dass man ihn spätestens mit Fertigstellung der Autobahn wieder ausreisen lassen würde.
Doch der Freund, der mir von seinem Tod geschrieben hat, meinte, es würde in Deutschland immer schlimmer statt besser, und dass ich auch in Frankreich nicht mehr lange sicher sein würde.
Dabei fühle ich mich hier schon länger nicht mehr wohl, denn der Unterpräfekt, der uns zu Beginn ein so guter Freund zu sein schien, macht mir immer eindeutigere Avancen, seit mein Josef nicht mehr hier ist. Es wird mit jedem Tag schlimmer, und ich hielt es nur aus, weil ich noch Hoffnung auf Josefs Rückkehr hatte.
Letzte Woche kam es dann zum Streit zwischen den Kindern. Der kleine Émile, der meinen Jakob von Anfang an vergöttert hat, plapperte etwas darüber, dass sie ja nun bald Brüder würden. Und Jakob spuckte ihm mitten ins Gesicht! Es gab riesigen Ärger, die Hälfte meiner Schüler hat gekündigt, und ich will nur noch fort von hier.
Deinem Rat folgend, habe ich mich zu Überfahrten nach Amerika kundig gemacht, und mein letztes Erspartes würde so gerade eben reichen. Aber man braucht Dokumente, Papiere und Bewilligungen dafür, es ist eine verflucht komplizierte Welt geworden. Ich habe keine Ahnung, wie lange das alles dauern wird. Ich schreibe dir wieder, sobald ich Genaueres weiß.
Ich bin tieftraurig, dass wir uns unter solchen Umständen wiedersehen werden. Aber gleichzeitig bin ich froh und glücklich bei dem Gedanken daran, all dies hinter mir zu lassen.
À bientôt!
Ta sœur Sophie