Das sanfte Geräusch der Wellen, die gegen die Mauer schlagen. Entfernte Möwenschreie. Motorenlaute, die erst an- und dann wieder abschwellen. Als ich zum ersten Mal die Augen öffne, ist das Licht, das durch das Fenster fällt, noch gedämpft. Ich möchte weiterschlafen. Noch einmal versinken in das Bett, dessen Geruch mich an das Waschmittel meiner Kindheit erinnert. Noch einmal versinken in das Vergessen. Schon halb wach, glaube ich nicht, dass mir das gelingen wird. Doch als ich die Augen erneut öffne, ist die Dämmerung bereits dem Licht des Tages gewichen. Die Laute des Wassers haben sich verstetigt, ebenso wie das Schreien der Möwen, die Geräusche der Vaporettos, der Wassertaxis und der Boote, die die Supermärkte beliefern oder den Müll abfahren. Vereinzelte Stimmen rufen sich etwas auf Italienisch zu. Ich versuche, mich nicht zu bewegen, als könnte ich so noch kurz die Zeit anhalten.
Mich überkommt das Gefühl einer gewissen Dankbarkeit. Ich muss mich nicht fragen, in welcher Stadt und in welchem Hotel ich mich befinde. Und fühle mich ausgeruht. Die Nacht zuvor haben mich die Motorengeräusche der Boote wach gehalten, was mich nicht überraschte, denn in den bewegten anderthalb Jahren, die hinter mir liegen, ist mir auch der Schlaf abhandengekommen. Jener verlässliche Schlaf, den man als gegeben hinnimmt, bis er ausbleibt. Ich brauchte lange, um einzuschlafen, und wachte mitten in der Nacht auf. Selbst wenn es mir gelang, länger zu schlafen, begann ich den Tag mit dem Gefühl schwerer Müdigkeit.
Ich überlege, wie lange es her ist, dass ich mich so entspannt gefühlt habe wie an diesem Morgen. Und erschrecke. Erst jetzt fällt mir ein, woran ich beim Aufwachen seit langem als Erstes denke. Doch womöglich ist es ein gutes Zeichen, dass mich dieser Gedanke später als gewöhnlich findet.
Während ich mich in der Foresteria, dem Gästezimmer des Palazzo, umschaue, stelle ich fest, wie bekannt sie mir schon vorkommt, obwohl ich erst seit ein paar Tagen hier wohne. Die karierte Bettwäsche, die altmodischen Volants, das an ein Bullauge erinnernde ovale Fenster, der dunkle Schreibtisch mit seiner turmalingrünen Muranoglas-Lampe — alles umgibt eine Aura von Verlässlichkeit. Vielleicht liegt das an den reinlichen Gerüchen des Zimmers, an den unverwechselbaren Geräuschen der Stadt. Vielleicht daran, dass der Aufenthalt hier, wie ich hoffe, das Ende einer langen Zeit der Ruhelosigkeit einleitet.
Anderthalb Jahre lang habe ich mich verausgabt. Fast jede Woche war ich für Lesungen und Veranstaltungen auf Reisen. Zugleich ließ ich vieles bleiben, was für mein inneres Gleichgewicht notwendig war. Ich hörte auf, jene Menschen zu sehen, die mir nahestanden, ließ persönliche Nachrichten unbeantwortet, auch die meiner besten Freundinnen und Freunde und meiner Familie. Ich achtete immer weniger darauf, was ich aß und wie ich meinen Körper behandelte. Bezichtigte mich in Momenten der Schwäche des Selbstmitleids, um meine Disziplin zu stärken. Ich hatte zunehmend das Gefühl, mir, meiner Gefühlswelt und meinem Denken fremd zu werden. Meine Erschöpfung wurde zu einem Dauerzustand. In den Monaten zuvor war diese Phase kulminiert. Deswegen hatte ich fast alle Termine abgesagt und mich von den sozialen Medien zurückgezogen, wo ich nur noch ab und zu ein Lebenszeichen von mir gab. Mit dem Aufenthalt in Venedig sollte eine neue Phase beginnen.
Wenn ich ein Grundgefühl für die zurückliegende Zeit benennen müsste, dann das des Verlorenseins. Ich habe den Eindruck, in einer Welt zu leben, die mir bekannt vorkommt, die immer noch nach vielen der mir vertrauten Regeln funktioniert, aber dennoch durch eine andere, eine unheimliche Version ihrer selbst ersetzt wurde. Die Sprache entzieht sich mir, wenn ich darüber reden möchte. Sie ist nicht in Reichweite. Sie nickt mir erst aufmunternd zu, nur um sich dann, traurig den Kopf schüttelnd, wieder von mir zu verabschieden.
Wie die Autorin Kathryn Schulz in ihrem Buch Lost & Found feststellt, ist Verlust eine sonderbare Kategorie, die alles Mögliche einschließen kann, auch Dinge, die nichts miteinander zu tun haben: das Große und das Kleine, den Alltag und die Weltgeschichte.1 Wir verlieren Schlüssel, Telefone oder unsere Lieblingskleidungsstücke, aber auch unser Herz, unseren Verstand oder unseren Glauben an die Welt. Und die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass wir mit den daraus resultierenden Gefühlen nur schlecht umgehen können. Dass wir der Verstörung nicht gewachsen sind, die mit diesen Verlusten und der von ihnen verursachten Trauer einhergeht.
Trauer gehört für uns alle zum Leben, egal, welche biografischen Zufälle dazu führen, dass wir mal früher, mal später mit ihr konfrontiert werden. Selbst wenn wir jene schweren Verluste, die unser Dasein nachhaltig erschüttern und unseren Alltag aus dem Gleis werfen, noch nicht erlebt haben — den Tod eines Partners oder einer Partnerin etwa, den eines Eltern- oder Geschwisterteils oder gar den eines Kindes —, haben wir alle Dinge verloren, die uns viel, manchmal sehr viel bedeuten. Wir haben Trennungen durchlebt. Haben von Menschen Abschied genommen, auch wenn wir es nicht wollten. Mussten uns von Lebensträumen lossagen. Nach solchen Verlusten scheine das frühere Leben immer noch irgendwo zu existieren, schreibt Hilary Mantel in einem Text über Trauer, doch man finde nicht mehr zu ihm zurück.2
Wir glauben, dass die Farbe des Trauerns Schwarz ist, das alles Licht in sich aufnehmende, alles auslöschende Schwarz. Und manchmal fühlt sich Trauer auch so an: wie der Nachklang einer Implosion, die im Inneren nichts als Trümmer hinterlässt. Doch für gewöhnlich läuft sie anders ab, für gewöhnlich wünscht man sich nur, mit einem so eindeutigen Gefühl konfrontiert zu werden, mit einer so absoluten Farbe und ihrem Versprechen der Katharsis. Die wahre Farbe der Trauer findet sich in den verwirrenden Abstufungen des Graus. Eines Graus des Unglaubens, der Erschöpfung, der Taubheit. Eines stillen, nichtkathartischen Graus, das sich scheinbar unwiderruflich über das Leben legt.
Ich lausche weiter den Wellen, Booten und Möwen der Stadt, den vereinzelten Stimmen. Noch liegend schaue ich durch das kleine Fenster auf das Wasser des Rio di San Polo, der ein paar Meter weiter in den Canal Grande mündet und nicht einmal durch einen Gehweg vom Centro Tedesco di Studi Veneziani im Palazzo Barbarigo getrennt ist, wo ich mich für ein paar Tage aufhalte. Nicht nur der Waschmittelgeruch der Bettwäsche, sondern die Einrichtung und das kleine Gästezimmer selbst scheinen wie selbstverständlich aus einer anderen Zeit zu stammen. Ich greife nach dem Telefon und schalte den Alarm aus, der gleich klingeln wird. Schließe noch einmal kurz die Augen.
Ich bin mir nicht sicher, wann die Trauer, gegen die ich mich wehre und die ich dennoch immer spüre, begonnen hat. Ich weiß nur, dass sie mich schon lange begleitet. Ich könnte ihren Beginn an jenem Tag verorten, als ich im Begriff war, eine Bühne in Heidelberg zu betreten, und meine Mutter anrief, die am Abend eigentlich nie anrief. Ich schaute auf das Telefon und auf die vielen Menschen, die in dem Saal versammelt waren, schaltete das Gerät aus, erklomm die Stufen zur Bühne, setzte mich auf den Stuhl neben der Moderatorin und entschied mich, die in mir aufkommende Panik zu unterdrücken und in den Saal zu lächeln. Ich wusste, was der Anruf bedeutete. Ein Teil von mir erwartete ihn seit Monaten. Mein Vater war schon lange krank gewesen. Dennoch hatte ich auf irrationale Weise an der Idee festgehalten, dass dieser Moment nicht eintreten würde. Ich wollte nicht, dass man mir anmerkte, was geschehen war. Ich absolvierte die Veranstaltung, beantwortete die Fragen der Moderatorin und der Zuschauenden und signierte anschließend meine Bücher. Danach ging ich mit den Veranstaltenden etwas essen. Ich floh so lange vor der Nachricht, bis ich am späten Abend wieder im Hotel war. Ich packte schon meine Sachen, um mit dem frühesten Zug zu meiner Mutter an die Mecklenburgische Seenplatte zu fahren, als ich sie zurückrief und von ihr hörte, dass mein Vater gestorben war.
Die Trauer um ihn begleitet mich jeden Tag. Zugleich habe ich das Gefühl, so viel mehr verloren zu haben als meinen Vater. Ich habe das Gefühl, dass sich sein Tod in eine Vielzahl von kleinen und großen Tragödien einreiht, dass sich mein privater Verlust mit den vielen kollektiven Verlusten vermengt, die wir in den vergangenen Jahren erfahren haben. Von ihnen potenziert wird. Manchmal bin ich mir nicht sicher, um wen oder um was ich trauere, ob ich das vermeintlich Kleine und das vermeintlich Große, meinen privaten Alltag und die Weltgeschichte, noch trennen kann.
Ein paar Tage vor meiner Reise unterhielt ich mich mit einer Freundin darüber. Gemeinsam überlegten wir, wann wir zum ersten Mal wirklich verstanden hatten, dass etwas ein Ende fand. Dass etwas, von dem wir dachten, dass es lange so bleiben würde, tatsächlich verlorengegangen war. Wir nahmen dieses Gefühl des Verlusts beide als akut wahr.
Spätestens seit den Ereignissen der Pandemie und des mit atomaren Drohungen einhergehenden russischen Feldzugs in der Ukraine hatten viele von uns realisiert, dass eine zuletzt fragiler werdende, doch immer noch greifbare Ära der Stabilität vorbei war. In Büchern, Artikeln und den Fernsehnachrichten wurde so anhaltend über eine Zeitenwende und manchmal sogar eine Apokalypse gesprochen, dass ich eine Abneigung gegen diese Worte entwickelte, gegen ihre Hülsenhaftigkeit, die mehr verdeckte als beschrieb.
Die Freundin hatte dieses Gefühl des Verlusts zum ersten Mal während des Sommers 2015 empfunden, als sie begann, geflüchteten Menschen zu helfen, und aufgrund der ihnen entgegenschlagenden Anfeindungen verstand, dass in unserer Welt etwas Grundlegendes ins Wanken geraten war. Davon angeregt, erzählte ich ihr von einem Partygespräch ein Jahr zuvor, als eine in Deutschland lebende russische Frau die kriegerische Eroberung der Krim trotz des Völkerrechtsbruchs zynisch als ein Recht ihres Landes verteidigt hatte. Doch eigentlich, meinten meine Freundin und ich, hätten wir schon viel früher begreifen müssen, dass sich etwas unaufhaltsam verschob. Wie lange wussten wir schon vom voranschreitenden Klimawandel, seinen omnipräsenten Extremwetterlagen, von der menschlich verursachten Erderwärmung, die bereits in der Spanne unseres Lebens so weit fortgeschritten war wie zum letzten Mal in einem geologischen Zeitraum mehrerer hunderttausend Jahre. Von den Diktatoren neuen Schlages, die auch in demokratischen Ländern die Kontrolle an sich rissen und die Uhr in eine Zeit des Totalitarismus, der Fremdenfeindlichkeit, der Misogynie und offenen Homophobie zurückdrehten. Von der plötzlichen Salonfähigkeit rechtsextremen Hasses, unter anderem in der ältesten Demokratie der Welt und in jenem Land, unserem Land, das sich aufgrund seiner Geschichte geschworen hatte, besonders wachsam gegenüber dieser Form des Hasses zu sein. Wir hätten es während der Finanzkrise 2008 ahnen müssen. Und womöglich auch schon 2001 nach den Terroranschlägen in New York und den ihnen folgenden US-amerikanischen Angriffskriegen in Afghanistan und im Irak. Und eigentlich hatte sie es gewusst, sagte die Freundin, sie wollte es nur nicht wahrhaben. Ich stimmte ihr zu.
Das Gespräch geht mir wieder durch den Kopf. Ich merke, dass ich noch nicht aufstehen möchte. Wir waren so damit beschäftigt, die Chronologie unserer kollektiven Verluste zu rekonstruieren, dass wir gar nicht dazu kamen, uns darüber auszutauschen, was wir konkret verloren hatten. Handelte es sich um ein Gefühl der Sicherheit? Um Gewissheiten? Ein gemeinschaftliches Selbstverständnis? Vielleicht sind die Verluste, die selbst die Zuversichtlichsten unter uns spüren, zu amorph und zu bedrohlich, um nicht schon ihrer Benennung instinktiv auszuweichen. Wie lässt sich der Erosion gesellschaftlichen Zusammenhalts ins Auge blicken? Wie einer schwindenden Aussicht auf eine freundliche Zukunft?
Selbst wenn wir versuchen, Worte dafür zu finden, stoßen wir auf einen inneren Widerstand, der uns davon abhält, uns die Tragweite unserer Verluste bewusstzumachen. Noch weniger kommen wir dazu, uns jener psychischen Arbeit zu stellen, die die für den Umgang mit ihnen notwendig ist. Schließlich betrauern wir nicht nur die Verluste von Menschen, die uns viel bedeuteten. Wir trauern um alles, was einmal eine zentrale Rolle in unserem Leben gespielt hat, um alles, was einmal beeinflusst hat, wie wir uns selbst sehen und sehen wollen, worauf wir hoffen und wonach wir uns sehnen. Wir trauern um alles, so der Philosoph Michel Cholbi, dessen Verlust unsere »praktische Identität« betrifft, unser Weltverständnis, die Grundlagen dessen, welchen Wert wir unserem Leben beimessen.3 Doch vielleicht haben wir, verführt vom Gefühl jener vermeintlichen Stabilität, verlernt, wie es geht, dieses Trauern. Möglicherweise waren wir dazu auch noch nie in der Lage.
Ich überfliege die Textnachrichten und E-Mails, die über Nacht hereingekommen sind, schaue mir die Eilmeldungen der Zeitungen an, die ich abonniert habe. Ich könnte den Beginn meiner anhaltenden Verstörung auch auf ein Telefonat mit meinem Vater zurückdatieren, auf unser letztes Telefonat. Er hatte Geburtstag. Seit seiner Erkrankung hatten meine Eltern niemanden sehen wollen. Zu groß war ihre Angst, dass er sich mit dem Virus anstecken könnte, das die Welt in Atem hielt und das sein Leben mit Sicherheit weiter verkürzen würde. Wenn sie sich darauf einließen, Besuchen unter bestimmten Bedingungen wie medizinischen Tests zuzustimmen, sagten sie in letzter Minute ab. Sie hatten selbst das gemeinsame Weihnachtsfest abgesagt, von dem wir wussten, dass es das letzte meines Vaters sein würde. Sie kämpften um jeden weiteren Tag, um jede weitere Stunde.
Ich konnte sie verstehen und zugleich auch nicht, wollte, dass alles anders war. Ich war dazu übergegangen, mir, jedes Mal wenn ich mit meinem Vater sprach, in Erinnerung zu rufen, dass es unser letztes Gespräch sein könnte. Was dafür sorgte, dass wir besonders innige Telefonate führten, bei denen ich an mich halten musste, um nicht in Tränen auszubrechen, was mir gerade zum Ende nicht immer gelang. Und mehr noch als unsere Gespräche selbst waren es diese Momente, in denen ich meine Tränen unterdrückte und ihm zum Abschied selbst die Worte im Hals stecken blieben, die das zum Ausdruck brachten, was ich ihm sagen wollte, aber nicht richtig sagen konnte: wie sehr ich ihn vermissen würde.
Bei unserem letzten Telefonat sagte er unvermittelt, dass ich und meine beiden noch lebenden Geschwister ihn jetzt besuchen könnten. Ich spürte mit einer Art Grauen, dass er es dieses Mal so meinte, dass er entgegen allen Befürchtungen wollte, dass wir ihn besuchten, dass er meine Mutter dieses Mal nicht im letzten Moment vorschicken würde, um abzusagen. Ich wollte nicht wahrhaben, was er mir eigentlich mitteilte: dass er das Gefühl hatte, in der letzten Phase des Sterbens angekommen zu sein. Unser Gespräch endete auf die vertraute Weise. Im Hals feststeckende Tränen. Nachdem wir aufgelegt hatten, ging ich auf meine Terrasse und zündete mir eine Zigarette an, dann begann ich, den Koffer für eine meiner Lesungen zu packen. Auf jeder Station der Lesereise, und auch wenn ich zwei oder drei Tage lang zuhause in Berlin war, sagte ich mir, dass ich den Besuch jetzt planen müsse. Dass ich es nicht tat, quälte mich.
Am Morgen vor meiner Lesung in Heidelberg holte mich eine Freundin aus Darmstadt ab, um mir Schwetzingen, das dortige Schloss und dessen bekannte Gartenanlage zu zeigen. Tulpenrabatten reihten sich aneinander, so weit das Auge reichte. Alles war in ein helles Grün getaucht, riesige Fliederbüsche warteten darauf, dass ihre Blütenknospen aufbrachen. Es war der Tag, an dem mir klar wurde, dass nun wirklich der Frühling begonnen hatte, der letzte Frühling meines Vaters, und ein Gefühl unterschwelliger, irrationaler Wut überkam mich, auf die Welt, in der das geschah, aber vor allem auf mich, weil ich meinen letzten Besuch noch nicht angetreten hatte. Weil ich fast drei Wochen hatte verstreichen lassen, ohne mich auf den Weg zu machen. Die Stunden, in denen ich begriff, dass es Frühling geworden war, waren die Stunden, in denen mein Vater starb.
Auch jetzt geht mir unser letztes Telefonat durch den Kopf. Seither habe ich mich mit vielen Menschen über Trauer unterhalten, und sie alle haben ihre eigene Geschichte, gehen mit ihrer eigenen Version des Schmerzes durch den Alltag, versuchen sich in ihren eigenen Erklärungen, übersehen ihre eigenen blinden Flecke. Trotz unzähliger Bücher und Podcasts, trotz einschlägiger Forschungen und populärpsychologischer Beiträge sind viele von uns nur sehr schlecht in der Lage, sich ihre private Trauer einzugestehen, sie anzunehmen. Womöglich weil jede Trauer so individuell ist, dass sie sich auch hilfreichen Kategorisierungsversuchen gegenüber als widerständig erweist. Womöglich weil jede Trauer auf einem Paradox beruht — darauf, dass wir etwas einsehen müssen, das wir nicht einsehen können. Darauf, dass Trauern heißt, sich das Herz brechen zu lassen, auch wenn uns all unsere Instinkte genau davon abhalten.
Das Erleben von Verlusten ist immer von einer spezifischen Unberechenbarkeit geprägt. In Das Jahr magischen Denkens schreibt Joan Didion, dass Trauer ein Ort sei, den niemand von uns kenne, bis wir ihn erreichten. Wir erwarteten, dass uns ein Verlust untröstlich mache, dass wir verrückt vor Trauer würden. Aber wir erwarteten nicht, dass wir buchstäblich verrückt werden.5 So verrückt wie in ihrem Fall, die mit kühlem Kopf glaubte, ihr verstorbener Ehemann würde seine Schuhe brauchen, wenn er aus dem Krankenhaus zurückkäme. So verrückt wie ich, der sich immer weiter isolierte und sich in die Exzesse seiner Arbeit flüchtete, nur um dabei jeden Tag an die Grenzen seiner Kräfte zu stoßen.
Wir alle sind auf unsere eigene Art unfähig zu trauern. Trauer besteht vor allem im Umgang mit ihren Unwägbarkeiten. Im Tanz mit der Verdrängung. In mancher Hinsicht gleichen diese Unwägbarkeiten den Wellen des Meeres, das draußen, vor der venezianischen Lagune, liegt. Meistens kann man gut mit den Bewegungen des Wassers, dem inneren Auf und Ab, umgehen, man lässt sich dorthin treiben, wohin die Wellen einen tragen. Dennoch gibt es Tage, an denen der Wellengang so stark ist, dass man in Not gerät und gegen das Untergehen kämpfen muss. Gegen Trauer kann man nur wenig ausrichten. Man kann nicht vor ihr weglaufen. Auch wenn man es versucht, gelingt es nie, sie ausreichend mit Essen, Sport, Medikamenten oder anderen Substanzen zu betäuben. Sie lässt sich auch nie komplett verdrängen, selbst wenn man unter dem Aufgebot aller Kräfte daran arbeitet. Trauer ist erschöpfend, egal, ob man sich ihrem Schmerz stellt und versucht, ihn durchzuarbeiten, egal, ob man ihn eisern von sich weist — es kostet immer mehr Anstrengung, mehr Energie, sich auf offener See über Wasser zu halten, als man glaubt aufbringen zu können.
An diesem Morgen ist meine innere Brandung, genau wie die draußen vor der Stadt, erstaunlich ruhig. Ich schlage die Bettdecke zurück. Es ist kalt im Zimmer, ich schlüpfe in meine Wollsocken und ziehe mir die Kleidungsstücke über, die ich am Abend zuvor auf einem Stuhl zurechtgelegt habe. Ich möchte einen Kaffee trinken, setze mich aber noch einmal auf das Bett. Ich weiß nicht, ob ich bereit für diesen Tag bin.
Während ich auf der Bettkante sitze, fällt mein Blick auf die weiß getünchten Mauern der Foresteria, deren Farbe bis zu einer bestimmten Höhe des Zimmers abbröckelt. Auch die grau gestrichene Tür zum Bad zeigt noch die Schäden des letzten großen Hochwassers an, dessen Bilder durch die Welt gingen und kurzzeitig zu einem Symbol dafür wurden, wie überaus real der Klimawandel und seine Folgen sind. Der Untergang dieser Lagunenstadt vor dem Adriatischen Meer scheint sich schon seit so vielen Jahren anzukündigen. Er scheint den Erzählungen, die sich um sie ranken, genauso eingeschrieben zu sein wie ihren Wasserwegen und historischen Gebäuden, deren Aussehen sich oft seit Jahrhunderten nicht verändert hat und die man auf jedem Canaletto-Gemälde wiedererkennt. Bereits im 19. Jahrhundert reiste man immer wieder ein letztes Mal nach Venedig, weil man glaubte, es würde bald in der Lagune versinken. Ein Topos, der seither alles prägt, was mit diesem Ort zu tun hat. Und der Ausdruck jener erstaunlichen Hybris ist, eine Stadt auf ein paar kleinen Inseln im offenen Wasser zu bauen, eine Stadt dazu, die von solch irrealer Schönheit ist, dass sie einem bei jedem Besuch von neuem den Atem stocken lässt, einer Schönheit, die Vorstellungskraft und Erinnerungsvermögen übersteigt.
Die graue Tür ist neu gestrichen, aber sie hat sich so verzogen, dass sie nicht mehr schließt. Man kann ihrem Anstrich ansehen, wie das feuchte Holz nach dem Trocknen in langen Stücken vom unteren Rand weggebrochen ist. Man kann ihrer neuen Farbe die Gewissheit ablesen, dass auch die nächste acqua alta kommen wird. Dass es unsinnig wäre, sie gegen eine neue, gut schließende Tür auszutauschen.
Verluste haben die Tendenz, sich zu akkumulieren. Die kleinen treffen auf die großen, die alten auf die noch frischen, die privaten Verluste auf jene, die wir alle durchmachen. Auch wenn wir unserem Leben einen neuen Anstrich verleihen, scheinen die alten Verluste durch. Trauer kann viele Jahre auf uns warten, versteckt in irgendeiner Nische unseres Ichs, ohne dass wir davon wissen. Erst recht die verdrängten und nicht von uns bearbeiteten Verluste summieren sich und können uns unvermittelt mit großer Wucht treffen.
Ich frage mich, ob es nicht eine Frage der Zeit war, ob ich vor der Akkumulation meiner Verluste nicht irgendwann kapitulieren musste. Die Einsicht ließ lange auf sich warten. In den Wochen zuvor hatte sich der ermüdende Marathon meines Lebens verlangsamt, so verlangsamt, dass ich mich häufig an einen Computer erinnert fühlte, der sich, kurz bevor er kaputtgeht, immer wieder aufhängt und nur noch in schleppendem Tempo arbeitet. Ich hatte das Gefühl, jenes spezifische Verlangsamen eines Systems zu erleben, das kurz vor dem Kollaps steht. Und hieb nur noch schneller und ungeduldiger auf die Tasten ein.
Wie Summer Praetorius in ihrem Essay »The Great Forgetting« beschreibt, stellt genau dieses Verlangsamen den Zeitpunkt dar, an dem Systeme ihre Resilienz verlieren, ihre Fähigkeit, nach Störungen zu einem neuen Gleichgewicht zu gelangen. Das gelte auch, so die Paläozeanografin, für unsere Ökosysteme. Die Zerstörung unseres ökologischen Gedächtnisses, das sich unter anderem im größten Artensterben seit zehn Millionen Jahren niederschlage, sorge für eine »Resilienzschuld«. Diese Resilienzschuld mache sich lange nicht bemerkbar und werde erst nach einer grundlegenden Störung des Ökosystems augenfällig, schreibt sie. Uns bleibe vor allem, auf jene Verlangsamung aller Prozesse zu schauen, um zu verhindern, dass ein Ökosystem seinen Kipppunkt erreiche und zusammenbreche.4
Einige unserer wichtigsten Ökosysteme zeigen schon deutliche Anzeichen für diese Verlangsamung, etwa der Regenwald des Amazonas. Auch kleinere Systeme wie die Lagune Venedigs scheinen sich diesen Kipppunkten zu nähern. Vielleicht, denke ich, war das in meinem Leben genauso der Fall. Und vielleicht geraten wir selbst in unserer Gesellschaft immer mehr an die Grenzen unserer Resilienz. Vielleicht sind die Risse und Überschwemmungsschäden, die sich überall zeigen, zu groß, als dass die Stabilität unseres kollektiven Gebäudes noch garantiert werden könnte. Die wievielte Lesung ist eine zu viel? Das wievielte Hochwasser ist eines zu viel? Die wievielte gesellschaftliche Spaltung, die wievielte Ungerechtigkeit, der wievielte ideologisch motivierte Angriff? Der wievielte Verlust? Ich wollte nicht mehr auf die Computertasten einhauen.
In ihrem berührenden Buch H wie Habicht erzählt auch die Autorin Helen Macdonald von ihrer Trauer um ihren Vater. Auch sie beschreibt, wie sie immer wieder Phasen durchlief, in denen ihr die Welt auf einmal unwirklich erschien und ihre selbstverständliche Lebensrealität verlorenzugehen drohte. Die Archäologie des Verlusts, so Macdonald, finde nie geordnet statt. Mit jedem Spatenstich, mit jedem Freilegen alter Strukturen, träten Dinge zutage, mit denen man nicht gerechnet habe.6 Wie recht sie hat. Egal, wie wir uns auf den Tod eines geliebten Menschen vorbereiten, egal, mit wie viel Resilienz wir die Veränderungen jener Welt angehen, in der wir leben, egal, wie alt wir sind, Verluste rühren tief in uns etwas auf. Sie sorgen dafür, dass Verdrängtes wiederkehrt. Dass sich die neue Realität des Lebens unserem Blick entzieht. Dafür, dass die Geschichten, die wir uns erzählen, in Frage gestellt werden.
Ich könnte den Beginn meiner Trauer auch auf ein drittes Telefonat datieren. Ein Telefonat mit meiner Mutter, das ich während eines Spaziergangs in der Hasenheide, dem Park in der Nähe meiner Wohnung, führte. Es war Spätsommer, der Herbst lag schon in der Luft. Mein Vater war wegen seines Lungenleidens immer wieder in der Lungenklinik gewesen. Seine Krankheit, eine Folge seines lebenslangen Zigarettenkonsums, war in den vergangenen Monaten schlimmer und seine Klinikaufenthalte waren häufiger geworden. Ich rief an, weil er eine besonders schwere Episode überstanden hatte und wieder nach Hause gekommen war. Meine Mutter stellte das Telefon laut, sodass mein Vater, noch immer schwach, mithören konnte. Ich fragte, wie es ihm gehe, und meine Mutter wich mir aus. Als ich nachhakte, konnte ich förmlich spüren, wie mein Vater den Kopf schüttelte. Meine Mutter klang aufgebracht, traurig. Sie wich mir auf eine so gereizte Art aus, dass ich nicht weiter nachbohrte. Ich erfuhr erst einige Wochen später, dass dies der Tag war, an dem man meinem Vater eröffnete, dass sich eine schwerwiegende Krebserkrankung in seiner geschädigten Lunge entwickelt hatte und ihm bestenfalls nur noch wenige Monate blieben. Er wollte nicht, dass meine Geschwister und ich das erfuhren. Er wollte uns so lange wie möglich vor diesem Wissen beschützen und uns noch ein paar unbeschwerte Wochen schenken.
Die Sonne schien. Die ersten Blätter leuchteten gelb. Als ich auflegte, versuchte ich das ungute Gefühl abzuschütteln, das mich erfüllte. Ich versuchte auch, das Bedürfnis zu unterdrücken, den nächsten Ausgang aus dem Park zu nehmen, um mir Zigaretten zu kaufen und wieder selbst mit dem Rauchen zu beginnen. Das tat ich erst einige Wochen später, kurz nachdem ich tatsächlich von der Diagnose erfuhr. Doch was an diesem Tag in Kraft trat, als ich nicht darauf bestand, dass meine Eltern mir die Wahrheit über den Gesundheitszustand meines Vaters sagten, war eine unausgesprochene Abmachung zwischen ihnen und mir: Wir möchten nicht, dass du weißt, wie schlimm es um uns steht. Wir möchten auch nicht, dass du nachfragst, denn wenn du ehrlich bist, möchtest du es gar nicht wissen. Es ist besser so, schien dieser unausgesprochene Vertrag zwischen uns zu sagen. Aber natürlich war es nicht besser so.
Ich frage mich, wann dieses unheimliche Leben, das ich führe, aufhören wird, wann ich wieder in jenes Leben zurückkehren kann, das ich zuvor geführt habe, das Leben, das ich kenne, als meines wiedererkenne.
Wir verlieren die ganze Zeit Dinge. Permanent, jeden Tag, bewusst oder ohne es zu merken, und doch leben wir in der Illusion, dass uns Verluste nur sporadisch heimsuchen, dass die Menschen, die wir lieben, für immer bei uns bleiben werden, dass unser Leben, unsere politische Ordnung und unser Frieden beständig sind, immun gegen schwerwiegende Umwälzungen. Tief im Inneren wissen wir vielleicht, dass sich all das über Nacht ändern kann. Doch wir tun alles, um dieses Wissen vor uns versteckt zu halten, alles, um an unserer Illusion der Beständigkeit festhalten zu können.
Seit langem wache ich jeden Morgen immer wieder neu in der Zeit der Verluste auf. Ich möchte, dass das anders ist. Aber immerhin wache ich auf, denke ich. Ich wache auf, wie erschöpft oder ausgeruht auch immer, wie traurig oder zufrieden, angstvoll oder frei. Verdient nicht dieser Umstand schon so etwas wie Dankbarkeit? Ist aufzuwachen, jeden Tag von neuem aufzuwachen, nicht unser grundlegendstes Geschenk? Das eigentliche Privileg der Lebenden gegenüber den Toten? Ich frage mich, ob es einen Weg geben könne, dieses Privileg trotz allem wieder schätzen zu lernen. Ich streiche kurz über die karierte Bettdecke, lausche noch einmal den Lauten der Wellen, der Möwen und der Boote. Dann stehe ich auf und beginne den Tag.