III

Nachdem ich mich geduscht und für den Tag fertig gemacht habe, gehe ich nach draußen in die Stadt. Ich stoße die schwere Pforte des Palazzo auf und folge der engen, dunklen Gasse, die ein paar Ecken weiter auf eine etwas breitere Gasse führt. Es ist das erste Mal, dass ich im Winter in der Stadt bin. Im Gegensatz zu seiner deutschen Variante fühlt er sich sehr mild und frühlingshaft an. Ich möchte in die Gallerie dell’Accademia, eines der Museen, die ich immer besuche, wenn ich hier bin. Einige der dortigen Bilder kommen mir inzwischen wie alte Bekannte vor, bei denen man in jedem Fall vorbeischauen, nach deren Befinden man sich erkundigen möchte. Die Stadt ist belebt, überall zwängen sich zwei Ströme von Menschen in jeweils gegenläufiger Richtung aneinander vorbei. Aber es ist vergleichsweise früh und Karneval ist erst in ein paar Tagen. Die Gassen und Brücken der Stadt sind für hiesige Verhältnisse noch ohne größere Probleme passierbar.

Die Tasche, die ich über der Schulter trage, habe ich mir zwei Tage zuvor in einem der teuren Läden in der Fondaco dei Tedeschi gekauft, in den ich mich früher nie hineingetraut hätte, weil ich davon ausging, dass er nicht für Menschen wie mich bestimmt ist. Ich konnte sie mir eigentlich nicht leisten, hatte aber das Gefühl, etwas zu brauchen, an dem ich mich ein wenig festhalten kann, etwas, das mich durch die Auswirkungen des Arbeitspensums der vergangenen Monate trägt. Mein Vater hätte den Namen des Designerlabels nicht gekannt. Den Preis der Tasche hätte er als obszön empfunden und sich über meine Unvernunft geärgert. Er hätte den Kopf geschüttelt und sich an all die anderen in seinen Augen seltsamen Sachen erinnert, die ich in meinem Leben gemacht habe. An den Nasenring, den ich mir mit neunzehn piercen ließ, an das Stechen eines Tattoos mit Anfang zwanzig, an mein Leben in New York, in einem Land, für das er zeitlebens negative Gefühle hegte, an meine Idee, vom Schreiben zu leben, anstatt in den Hafen eines sicheren Jobs zu steuern. Vielleicht hätte er den Kauf der Tasche mit dem Umstand in Verbindung gebracht, dass ich dem Leben meiner Familie auf dem Land den Rücken gekehrt habe, das vom Ethos und auch vom Stolz der arbeitenden Schicht geprägt war. Dann hätten wir über etwas anderes geredet, darüber, wie es dieses Jahr mit der Ernte aussah, wie sich die Preise für Milch, Weizen, Raps und Schweinefleisch entwickelt haben. Über seinen Tagesablauf oder die Katze, die ihm zugelaufen war und die er fütterte, damit sie das Ungeziefer aus dem Stall fernhielt. Ohne viele Worte darüber zu verlieren, hätte ich ihn wissen lassen, dass ein Teil von mir jenes Ethos bis heute teilt. Dass ich nicht vergessen habe, woher ich komme, und das auch nicht tun werde.

Der Nebel hat sich über die Mauern und die Schaufenster der Läden mit den Karnevalsmasken, Glaswaren, Antiquitäten und Büchern gelegt. Er steht vor den Cafés und Gelaterias, über den kleinen Brücken, die man alle paar Meter überquert, über den Campi, die sich langsam mit Menschen füllen, in den Höfen der Universität, wo sich einige Studierende versammelt haben. Er scheint der Stadt ihr Geheimnis zurückzugeben.

In meiner Tasche befindet sich unter anderem Ufer der Verlorenen, das Venedig-Buch von Joseph Brodsky, das Lucy mir zwei Tage zuvor in die Hand gedrückt hat. Ich habe es fast durchgelesen. Nach seiner Flucht aus der Sowjetunion hatte der Schriftsteller in den Vereinigten Staaten ein Zuhause gefunden. Doch im Winter kehrte er meistens zurück nach Europa, um einige Wochen in Venedig zu verbringen, trotz der feuchten Kälte und der Hochwassergefahr in dieser Jahreszeit, trotz der schlecht funktionierenden Heizungen in den Wohnungen und Hotels, trotz der Einsamkeit, die damit einherging. Während ich durch die nebligen Gassen gehe, kann ich das mehr denn je nachvollziehen.

Der schmale Band ist stellenweise sehr unangenehm und stellenweise sehr berührend. Unangenehm, weil sich der unhinterfragte Sexismus der Achtzigerjahre darin so offen zeigt, die Arroganz einer selbsternannten und selbstverständlich männlichen Kulturelite. Manche Passagen liest man fast mit Unglauben. Doch dann stößt man auf einige der genauesten und schönsten Beschreibungen Venedigs, die es gibt, und neben einer erstaunlichen Selbstüberzeugung lässt Brodsky immer wieder auch seine Traurigkeit, seine Verletzlichkeit, die von ihm erfahrenen Traumata und sein immerwährendes Zweifeln durchscheinen. Es ist eine hymnische Beschwörung dieser Stadt, eine Beschwörung, die ihre Kraft daraus gewinnt, dass man beim Lesen versteht, wie wenig Orte es für Brodsky sonst gab, an denen er sich aufgehoben fühlte. Es sind die Aufzeichnungen eines Gestrandeten. Wenn Brodsky durch das matt erleuchtete Labyrinth Venedigs streift, hat man den Eindruck, dass er das als Erlösung vom endlosen Wandeln durch das Labyrinth seines Lebens empfindet.

Während ich durch die Gassen gehe, die Brücken überquere, die Richtung einschlage, von der ich glaube, dass sie richtig ist, nur um meinen Weg zwei, drei Ecken weiter wieder zu überdenken, habe auch ich das Gefühl, durch einen atmosphärischen Irrgarten zu streifen. Der Nebel nimmt dem Auge die Schärfe, lässt alle Details verschwimmen. Man hat in dieser Stadt häufig das Gefühl, sie sei kein realer Ort, weil überall Wasser ist, weil alles, was man von Städten sonst kennt, fehlt, die Straßen, die Verkehrsmittel, die Bürgersteige — und dieses Gefühl wird durch die »berühmte nebbia«, wie Brodsky es nennt, noch verstärkt. Sie mache die Stadt noch »außerzeitlicher«, schreibt er, und lösche alles aus, »was Gestalt hat: Gebäude, Menschen. Kolonnaden, Brücken, Statuen.«16

Der Nebel scheint dabei eine Auslöschung vorwegzunehmen, die in der Architektur Venedigs ohnehin schon angelegt ist. Selbst jene Gebäude, die erst vor kurzem renoviert wurden, sehen so aus, als wären sie dem Verfall preisgegeben worden. Und dennoch ist alles so unerklärlich und entwaffnend schön, dass man Schwierigkeiten hat, ein anderes Wort dafür zu finden als »schön«.

Auf merkwürdige Weise lässt der Nebel die Grenzen zwischen mir und der Stadt verschwimmen. Er forciert die Orientierungslosigkeit, derer man sich hier nicht erwehren kann. Schon bei meinen ersten Aufenthalten — zu einer Zeit, als noch regelmäßig Kreuzfahrtschiffe in Wolkenkratzergröße an den Giardini vorbeifuhren — stellte ich fest, dass mir mein Orientierungssinn hier komplett abhandenkam. Jede Brücke brachte ihn durcheinander, jede Sackgasse, jede Abzweigung, die dafür sorgt, dass man unbemerkt vom Weg abkommt, verunsicherte ihn. Am Ende jedes Aufenthalts hatte ich das Gefühl, mich etwas besser auszukennen, nur um beim nächsten Mal festzustellen, dass ich wieder von vorne anfangen und mir die Führung der Gassen, Brücken und Kanäle neu einprägen musste. Auch während dieses Aufenthalts verlaufe ich mich jeden Tag von Neuem. Man kann dem entgegenwirken, indem man das mit einem GPS ausgerüstete Telefon zu Rate zieht, doch man wird schnell feststellen, dass die Wege so verworren sind und die Abzweigungen so schnell aufeinanderfolgen, dass man gezwungen ist, ohne Unterlass auf den Bildschirm zu schauen, und so die Stadt nicht mehr sieht. Irgendwann beschloss ich, das Telefon in der Tasche zu lassen und es nur in Notfällen zu konsultieren.

Möglicherweise gehört es einfach zum Wesen der Stadt, dass sie einen dazu zwingt, die Kontrolle abzugeben und zuzulassen, dass man sich selbst immer mal wieder abhandenkommt. Ihre Architektur hat keine Logik. Man kann sich nur zurechtfinden, indem man ungefähr die Richtung kennt und sich an ein paar Ankern orientiert. Vielleicht werden diese Anker mit der Zeit differenzierter, vielleicht beginnt sich die innere Landkarte irgendwann zu füllen, doch das dauert länger als an den meisten anderen Orten. Und gerade heute habe ich den Eindruck, umherzuirren, zu verschwinden, ja mich aufzulösen. Was vielleicht auch genau das ist, was ich eigentlich möchte. Vielleicht fühle ich mich in dieser Stadt so wohl, weil sie mein Gefühl des Verlorenseins so gut spiegelt. Weil sie ihm einen idealen Echoraum bietet. Ihm eine besonders schöne Form gibt.

Ich folge dem Weg, bis ich die Chiesa di San Tomà vor mir auftauchen sehe, überquere den kleinen Rio de Ca’ Foscari, schwenke auf den Campo San Barnaba ein, folge den Gassen und Brücken des Sestiere Dorsoduro, finde es schön, dass die Stadtviertel hier nicht Viertel, sondern »Sestieri«, also »Sechstel«, heißen, und komme schließlich bei einer kleinen Pasticceria an, in der ich auch schon die vergangenen Tage gefrühstückt habe. In sehr schlechtem Italienisch bestelle ich einen doppelten Espresso und zwei Fritelle, und die Verkäuferin lacht. Gestern und vorgestern habe ich das Gleiche bestellt. Der Kaffee, den die Verkäuferin schnell und mit souveränen Handgriffen an einer großen, zischenden Maschine zubereitet, ist besonders vollmundig, und die beiden Fritelle, kleine Krapfen, die es hier nur zwischen Neujahr und Karneval gibt, sind so gut, dass ich gleich noch welche bestellen möchte. Wenn man die Pfannkuchen nicht mit großer Vorsicht zum Mund führt, quillt Vanille- oder Pistaziencreme durch ihren hauchzarten Teig. Während ich die Fritelle genieße, frage ich mich, wie viele Jahre Übung man benötigt, um ein eigentlich einfaches Gebäck in solcher Perfektion zu backen. Ich stelle den leeren Teller und die Tasse auf die Theke, als ich fertig bin, und sage »a domani!«, bis morgen. Die Verkäuferin lacht und wünscht mir einen guten Tag.

Nach einigen Schritten sehe ich schon den Ponte dell’Accademia, eine große Brücke, die über den Canal Grande führt und die Sestieri Dorsoduro und San Marco miteinander verbindet. Es ist nur schwer vorstellbar, dass es diese Stadt mit ihren wunderbaren Cafés und ihren freundlichen Menschen irgendwann einmal nicht mehr geben könnte, dass sie aufgrund der unter ihr aktiven tektonischen Verwerfungen und des steigenden Meerespiegels irgendwann in den Fluten versinken wird. Etwas irritiert mich an dieser Aussicht, die als vergänglichkeitstrunkene Erzählung die Wahrnehmung Venedigs in verschiedenen Ausformungen schon so lange prägt. Etwas, das ich nicht im Worte fassen kann. Denn trotz allem machen sich Menschen hier die Mühe, das Backen kleiner Winterkrapfen zur Vollkommenheit zu bringen. Jeden Tag öffnen sie die Tür zu einer kleinen Pasticceria, bereiten Espressi und Cappuccini zu und verkaufen ihre Pasticcini für wenig Geld. Was hält sie davon ab, nicht in Lethargie oder bloßen Hedonismus zu verfallen? Ich möchte etwas von ihnen lernen, kann aber noch nicht sagen, was genau.

Womöglich rührt mein Unbehagen auch von den allgegenwärtigen Beschwörungen der Apokalypse her, denen wir seit einigen Jahren überall begegnen. Ich muss an Eva Horns Buch Zukunft als Katastrophe denken, das ich vor ein paar Wochen gelesen habe. Die Kulturwissenschaftlerin analysiert darin die ubiquitären postapokalyptischen Filme, Computerspiele, Romane und populären Sachbücher, die das Ende unseres Planeten oder zumindest das Ende des Lebens, wie wir es kennen, vorhersagen. Derartige Untergangsszenarien spiegeln ein Zukunftsgefühl wider, das von Jahr zu Jahr greifbarer zu werden scheint. Doch was sagen sie wirklich aus? Die bloße Fortsetzung unseres Lebens scheine sich darin, so Horn, »langsam zu einem katastrophischen Bruch« aufzuaddieren. Ihrer Beobachtung zufolge sind diese Szenarien von einer »seltsamen Ambivalenz« geprägt: Sie seien »Wunschtraum« und »Angsttraum« zugleich. Sie bearbeiteten »unausgesprochene Konflikte«, befriedigten »uneingestehbare Wünsche« und »diffuse Ängste«.17

Horn glaubt, dass apokalyptische und postapokalyptische Fantasien etwas illustrieren, das wir für möglich halten, aber nicht begreifen können. Sie gingen in der Regel von einem Blick der Menschheit auf sich selbst nach ihrem Untergang aus. Und davon, dass uns das vermeintliche Wissen um eine Zukunft nicht dazu dienen wird, diese Zukunft anders zu gestalten. Horn findet dafür den anschaulichen Begriff der »blinden Reflexitivität«. Damit meint sie eine von jenen Fantasien provozierte Alarmbereitschaft, eine Alarmbereitschaft, die zumeist ins Leere läuft, weil sie gepaart ist mit einer »ganz praktischen Distanzierung von allen Konsequenzen«.18

Viele von uns haben spätestens seit den Ereignissen der Pandemie das Gefühl, eine Art Realwerdung endzeitlicher Szenarien zu beobachten. Doch bei dieser Realwerdung wird auch offensichtlich, dass sie völlig anders verläuft, anders aussieht und sich anders anfühlt als vorhergesagt. Unsere fiktionalen und nonfiktionalen Apokalypse-Erzählungen nehmen die eigentlichen Bedrohungen, denen wir heute gegenüberstehen, nicht in den Blick und können es vielleicht auch gar nicht. Sie geben vor, etwas vorherzusagen, was sich nicht vorhersagen lässt. Trotz all des Wissens und der Fantasie, die in sie fließen, sind sie letztlich von einem grundsätzlichen Scheitern der Vorstellungskraft geprägt. Vor allem scheinen sie dazu zu dienen, uns von der Verantwortung für die immer wahrscheinlicher werdenden Folgen des Lebens, das wir führen, zu entlasten. Sie geben uns die Möglichkeit zu sagen, wir haben es schon immer gewusst, aber ändern konnten wir nichts.

Halb bewusst, halb unbewusst zünde ich mir eine Zigarette an, als ich vor der Accademia stehe. Ich schaue weiter auf den Ponte dell’Accademia, auf dem sich die Menschen drängen, um Fotos zu machen. Von der hölzernen Brücke aus ist eines der bekanntesten Postkartenmotive Venedigs zu bewundern: die Mündung des Canal Grande im Canale della Giudecca, markiert von der riesigen Kuppel der Santa Maria della Salute und dem goldglänzenden Globus der Punta della Dogana, des einstigen Zollamts der Stadt, in dem heute die zeitgenössische Kunstsammlung von François Pinault gezeigt wird. Ich frage mich, ob einige der Menschen, die mit ihren Kameras beschäftigt sind, auch an die venezianischen Untergangsszenarien denken, die im heutigen Nebelkleid besonders wirklich und besonders unwirklich zugleich erscheinen.

Ich rauche meine Zigarette, nehme das Telefon aus meiner Tasche und sehe, dass meine Mutter mir Fotos von Schneeglöckchen, Winterlingen und Krokussen aus ihrem Garten geschickt hat. In den beiden letzten Jahren vor dem Tod meines Vaters hat sie sich immer weniger um ihren Garten kümmern können. Mein Vater brauchte ihre Unterstützung und vermisste sie, wenn sie zu lange aus dem Haus war. Und sie wollte so viel Zeit wie möglich mit ihm verbringen. Nach seinem Tod plante sie eine Umgestaltung des Gartens, die einem Großprojekt glich. Sie ließ Bäume roden, wilde Hecken verkleinern, änderte die Führung der Beete. Im Spätherbst bestellte ich ihr mehrere hundert Blumenzwiebeln. Ich wusste, dass sie diese sehr mögen, sich selbst aber nie leisten würde: weiße Triumphtulpen, rot-weiß gestreifte Papageientulpen, die aussahen, als stammten sie aus einem flämischen Gemälde, Tulpen in unterschiedlichen Rosatönen, verschiedene Narzissensorten in unterschiedlichen Weißabstufungen, unzählige Krokusse und alte Frittalarienzüchtungen. Es waren so viele Zwiebeln, dass sie viele Tage damit verbrachte, sie zu setzen. Die Fotos sind die ersten Bilder, die sie mir von ihnen schickt. Im Laufe der nächsten Wochen werden es mehr werden, doch mit ihnen wird auch ihre Ernüchterung wachsen: Die Zwiebeln werden fast alle später blühen als gedacht, einigen von ihnen wird der lehmige mecklenburgische Boden nicht bekommen, andere werden von Wühlmäusen aufgefressen werden. Erst im Mai, wenn die Blüten der Triumphtulpen in zarten weißen Tupfern über dem Grün der Stauden ihres Gartens schweben, wird ihre spürbare Enttäuschung der Freude weichen. Die Zukunft entzieht sich der Vorhersagbarkeit, im Guten wie im Schlechten. Erst recht, wenn wir auf sie zählen, um die heftigsten Ausschläge unseres Gefühls von Verlust und Trauer etwas erträglicher zu machen.

Ich sehe mir die Fotos genauer an, stelle mir vor, wie der Garten in ein paar Wochen aussehen wird, mache ein Foto vom nebligen Venedig und schicke es ihr. Dann stecke ich das Telefon wieder in meine Tasche, rauche die letzten Züge meiner Zigarette und schaue dabei weiter auf die Brücke. Mir kommt ein Bild in den Sinn, das eine Freundin von mir bei meinem ersten Besuch der Stadt gemacht hat, an das Geländer dieser Brücke gelehnt, jung, schlank, braungebrannt, mit kurzer Hose und einem engen, mit bunten Hibiskusblüten gemusterten Hemd. Viele Jahre bevor sich das erste Grau in meine Haare und sich die ersten Falten in mein Gesicht schlichen, viele Jahre bevor mein Vater starb. Zu einer Zeit, als Gedanken an eine Pandemie oder einen erneuten europäischen Krieg uns allen absurd vorgekommen wären. Als wie auch immer geartete Endzeitgefühle in weiter Ferne lagen. Als ich mein Gesicht in die warme, orange Abendsonne hielt und lächelte. Ich frage mich, ob sich jenes Hibiskusblütenhemd vielleicht noch in einer Kiste in meiner Abstellkammer befindet. Es war einige Jahre lang eines meiner liebsten Kleidungsstücke gewesen.

Nachdem ich mein Ticket gekauft und die Tasche und den Mantel in ein Schließfach geschlossen habe, gehe ich ins Obergeschoss der Accademia, der Chronologie der Ausstellung folgend. Die mit Gold besetzten Altarbilder aus dem 13. Jahrhundert blenden mich. Recht zügig passiere ich die Fülle von Bellinis, Carpaccios und Tizians, ein Bild bedeutender als das nächste, bis ich zu dem großen Saal komme, in dem die Veroneses hängen.

Paolo Veronese mochte ich schon immer am liebsten von all den Malern der kleinen Lagunenstadt, die über die Jahrhunderte hinweg die Kunst prägten und sich dabei gegenseitig überboten. Die meisten Kunsthistorikerinnen, die ich kenne, verehren Tizian und Carpaccio. Mit großem Ernst zielten sie in ihren Bildern darauf ab, einen kunstvollen Spiegel venezianischen Lebens zu schaffen und damit ihrer Zeit ein Denkmal zu setzen — einer Zeit, als Venedig der mächtigste und reichste Stadtstaat der Welt war, als tiefempfundene Religiosität mit Abenteuergeist, Handelslust und Multikulturalität einherging, als exotische Waren und Geschichten aus entfernten Ländern den Alltag prägten. Wundersame Begebenheiten und Heiligengeschichten wurden in alltäglich wirkenden Szenen dargestellt und vermittelten das Gefühl, dass die Malenden gewissermaßen anwesend, ja Augenzeugen dieser Begebenheiten waren.19 Auch Veronese gehört zu diesen Malenden, doch seine Bilder sind in meinen Augen die schönsten von allen. Sie spielen mit einem charakteristischen Überschuss an Dramatik, Lebenslust und Eleganz, der einem manchmal fast den Atem raubt. Mit großer Selbstverständlichkeit greifen sie nach dem Himmel.

In seiner berühmten Verkündigung schnellt die weiße Taube, der Heilige Geist, wie ein Raktengeschoss auf Maria zu und zieht dabei den Schweif eines kleinen Kometen nach sich. Die lesende Muttergottes, der gleich von Erzengel Gabriel die Botschaft ihrer Schwangerschaft überbracht wird, wirkt nicht gerade erfreut. Es ist eines jener Bilder, die sich nicht reproduzieren lassen, kein noch so gutes Foto kann die Magie der gemalten Szene einfangen. Das offene Haus mit seiner Säulenarchitektur und die Landschaft dahinter wirken geradezu einladend. Ich möchte die stilisierte Madonnenlilie, die Gabriel in der Hand hält, auf meinen Schreibtisch stellen und jeden Tag vor mir sehen. Ich möchte die wallenden, leuchtenden Brokat-, Seiden- und Baumwollstoffe, die ihn in bewegten Lagen und Faltenwürfen umfließen, besitzen, sie in meiner Wohnung vor die Fenster hängen oder über mein Sofa werfen. Ich möchte Maria sagen, dass sie ihrer Eingebung trauen und Gabriel und das Taubengeschoss ignorieren und stattdessen einfach in Ruhe weiterlesen soll. Ich möchte mir dieses Bild jeden Tag anschauen können.

Meine Eltern sind beide schon in ihrer Jugend aus der Kirche ausgetreten. Es war einer ihrer Glaubenssätze, nicht zu glauben. Sie waren auch noch nie in Venedig. Abgesehen von kleinen beruflichen Exkursionen nach Polen und Tschechien, sind sie nie ins Ausland gereist. Da die Gärten und Tiere, die sie hatten, gerade im Sommer Aufmerksamkeit benötigten, fuhren wir auch nicht zusammen in den Urlaub, als ich Kind war. Sie haben mich nie in New York besucht. Auch meinen jüngeren Bruder, der ein Jahr in Australien verbrachte, nicht. Je kränker mein Vater wurde, desto vergeblicher wurde es, ihnen auch nur eine Reise nach Paris, Wien oder Budapest vorzuschlagen oder einen Aufenthalt in einem kleinen Resort am Mittelmeer. Auch jetzt lässt sich meine Mutter keine Reise von uns schenken.

Ich frage mich, ob ich auch deshalb so gerne reise, auch deshalb manchmal so empfänglich für die Ästhetik anderer Orte, die Wirkung fremder Bildwelten bin. Etwas in mir begreift es immer noch als ein Wunder, dass es diese Orte, diese Bilder, diese anderen Welten gibt. Dass Tauben mit Kometenschweifen und Engel in schillernden Kostümen über Leinwände fliegen und mir das Gefühl vermitteln, dass es möglich wäre, geradewegs in diese Leinwand, dieses Haus und diesen Garten zu treten.

Die meisten Bilder von der Wohnung und den Gärten meiner Kindheit, die noch in meinem Kopf herumgeistern, haben inzwischen die Qualität unwirklicher Erinnerungen angenommen, gefärbt von der ostdeutschen Alltagsästhetik der Achtzigerjahre. Doch einige von ihnen stechen daraus hervor. Die überschwängliche Fülle weißer Päonien und hellblauen Rittersporns im Juni. Lange Sommertage am See, in dem ich stundenlang schwamm. Der rote Saft von Erdbeeren, Himbeeren und Johannisbeeren an den Fingern, wenn man sie in großen Mengen erntet. Der Geruch überreifer Tomaten und geschroteten Getreides in heißen Sommern. Der immer wieder überraschende Schmerz, wenn man mit nackten Füßen versucht, über die Stoppeln eines abgeernteten Weizen- oder Gerstenfeldes zu laufen. Die Feuchte des Bodens, die Kühle der Luft, wenn man im Herbst Kartoffeln nachstoppelt. Der große runde, mit einer weißen Tischdecke gedeckte Tisch, an dem wir samstags und sonntags Mittag aßen. Die Wärme der mit Holz und Kohle beheizten Kachelöfen im Winter. Sie sind Teil eines Archivs sensorischer Verluste in meinem Inneren, eines Archivs verlorener Erfahrungen, die sich genau so, wie sie damals waren, heute nicht mehr machen lassen, weil die Umwelt, in der ich sie gemacht habe, nicht mehr existiert. Heute baut meine Mutter andere Tomatensorten in ihren Gewächshäusern an, das Volumen ihrer Beerenernte hat sich um ein Vielfaches verkleinert. Niemand stoppelt mehr Kartoffeln nach.

Auch die wenigen Fotos, die von dieser Zeit existieren, bringen die Wahrnehmungen in ihrer alten sensorischen Kraft nicht zurück. Manchmal werden sie wachgerufen, wenn ich bestimmte Bücher lese, Christa Wolfs Sommerstück etwa, wenn ich mit den großen weißen Leinenhandtüchern, die meine Mutter mir mal überlassen hat, Geschirr trockne oder im Sommer aus einer Schale Sauerkirschen eine süße, kalte Suppe mit Mehlklößchen mache, mit Zimtstangen und Nelken gewürzt. Manchmal fallen mir zufällig Gegenstände in die Hände, die blitzartig Erinnerungen an damals wachrufen, eine Vase auf einem Trödelmarkt etwa, die auch in der Wohnung meiner Kindheit hätten stehen können, ein großes Steingutgefäß in einem Antiquitätenladen, das jenen ähnelt, in denen meine Mutter kleine saure Gurken einlegte.

Kürzlich durchfuhr mich ein solcher Blitz, als ich in einem Antiquariat die dunkelblau und braun eingebundenen Werke von Marx und Engels und von Lenin stehen sah, dicke Bände, die an die zwei Regalmeter füllten. Ich hatte kurz das Bedürfnis, einen von ihnen in die Hand zu nehmen, folgte dem Impuls aber nicht. Der Anblick machte mich traurig. Mein Vater hatte sie alle besessen, sie standen auch nach der Wende viele Jahre lang im Bücherregal meiner Eltern. Ich wusste nicht, was mit ihnen passiert war, und nahm mir vor, meine Mutter danach zu fragen, vergaß es dann aber wieder. Als ich jene Designertasche kaufte, erinnerte sie mich an sie. Ihrer Farbgebung, ihrer Oberflächenbeschaffenheit, der beschichteten Leinwand ihrer Bucheinbände wegen, oder einfach weil mein Unbewusstes ein besonders passendes Bild für mein schlechtes Gewissen finden wollte.

Mein Vater hatte sich die Marx-Engels-Lenin-Gesamtausgaben gekauft, als er im zweiten Bildungsweg sein agrarwissenschaftliches Diplom machte. Zu jeder Art von Studium in jenem Staat gehörte die ideologische Indoktrination, und bei meinem Vater, seit den Sechzigerjahren ein Mitglied der herrschenden Partei, der trotz vieler Zweifel und negativer Erfahrungen, trotz des Wissens, wie viel in jenem real existierenden Sozialismus im Argen lag, nie die grundsätzliche Überzeugung bezüglich dessen Richtigkeit verlor, traf diese ideologische Auseinandersetzung auf großes Interesse.

Ich kann mich daran erinnern, wie ich als Kind staunend durch die eng bedruckten, dünnen Seiten der Ausgaben blätterte. Staunend, weil sie so ernst und wichtig aussahen und weil der Sinn ihrer Seiten weitgehend im Verborgenen für mich blieb. Mein Vater, in dessen häuslichen Hoheitsgebieten, etwa der Garage oder dem Werkzeugschuppen, meist Unordnung herrschte, hatte einen großen Teil dieser Bände gelesen und verschiedene Sätze fein säuberlich mit einem Lineal und Kugelschreibern in unterschiedlichen Farben unterstrichen. Er hatte sich nicht nur durch diese Texte gearbeitet, weil er es musste, sondern weil sie ihm etwas sagten.

Er verbrachte die Sommer jeden Tag bis spätabends auf dem Mähdrescher, um Getreide zu ernten, überwachte die Beregnungsanlagen der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft und schob, wenn es nötig war, auch Schichten in den Schweine- und Rinderställen des Betriebs. Trotzdem hatte er sich die Zeit für diese Lektüre genommen und sich dabei eine Reihe philosophischer Werkzeuge angeeignet. Einmal, als ich im ersten Semester meines Studiums meine Eltern besuchte, hatte ich ein Buch des französischen Theatertheoretikers Antonin Artaud im Gepäck, das ich für eine Hausarbeit lesen musste und zunächst nicht wirklich verstand. Mein Vater fragte mich, was ich dort lese, ich zeigte ihm das Buch, und wir gingen zusammen ein paar Absätze durch. Er brach die komplizierten Sätze in einzelne Teile auf und setzte ihre einander widersprechenden Bedeutungen miteinander in Beziehung. Mit großer Selbstverständlichkeit leistete er hermeneutisch-dialektische Textarbeit. Es war das erste und blieb das einzige Mal, dass ich verstand, welche Beziehung er zu jenen Marx- und Leninbänden unterhielt und wie viel sie ihm lange Zeit bedeuteten. Später, gegen Ende seines Lebens, hörte er komplett auf zu lesen. Selbst die Ken-Follett-Romane, für die er sich eine Zeit lang begeisterte, blieben ungeöffnet liegen, wenn ich sie ihm schenkte. Den größten Teil seiner letzten Lebensjahre verbrachte er mit seinem Atemgerät vor dem Fernseher, schaute Fußball-, Handball- und Billardspiele. Auch wenn ich das lange nicht erkennen wollte, übte er das Sterben.

Ich gehe weiter durch die Räume der Accademia, eile an den Tintorettos vorbei, deren düsteres, angestrengtes Drama ich nicht mag, und bleibe nur gelegentlich stehen, wenn mich in ihnen ein besonders hübscher dunkelhaariger Mann anschaut. Während ich mich auf den Weg ins untere Geschoss des Museums mache, wo die Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts zu sehen ist, frage ich mich, ob es nicht einem Verrat an meinem Vater gleichkommt, wenn ich in den Luxusgeschäften der Fondaco dei Tedeschi oder ihren Berliner Pendants einkaufen gehe. Ich frage mich, warum ich das erst seit seinem Tod tue. Frage mich, ob ich damit jene mecklenburgischen Marx- und Leninausgaben nicht im Nachhinein mit Füßen trete, und mit ihnen das Erbe meines Vaters. Ich versuche, diesen Gedanken abzuschütteln. Ich bin mir nicht sicher, ob dieser innere Konflikt jemals aufzulösen sein wird, ob sich solche Konflikte der Herkunft überhaupt jemals auflösen lassen.

Mir fällt die Lektüre eines Buchs des Philosophen Jonathan Lear ein, bei der ich immer wieder an meine Eltern und den Zusammenbruch ihres einstigen Lebens denken musste, an das Ende des Lebens, wie sie es kannten. Es heißt Radikale Hoffnung. »Wir sind Geschöpfe, deren Gegenwart und Zukunft von verschiedenen Vergangenheiten überschattet, genährt und verfolgt werden«, heißt es darin, »Vergangenheiten, derer wir womöglich nicht gewahr sind und die dennoch stets ein Anliegen für uns bilden.«20

Lear setzt sich in seinem Buch mit Plenty Coup, dem Häuptling der indigenen nordamerikanischen Crow, auseinander. Sein besonderes Augenmerk liegt auf der »ontologischen Verletzlichkeit«, die sich im Zusammenbruch einer bekannten Welt, im Ende einer Lebensweise zeigt. Eine Verletzlichkeit, derer wir uns heute wieder bewusst sind, die wir aber nur schlecht benennen können, obwohl viele unserer Eltern und Großeltern sie schon am eigenen Leib erfahren haben. Für die meisten von uns — auch jene, die einen gesellschaftlichen Zusammenbruch als Kinder, Jugendliche oder junge Erwachsene erlebt haben — ist es schlicht nicht vorstellbar, was es bedeutet, wenn die im Laufe eines Lebens gewonnene praktische Vernunft auf einmal nicht mehr greift. Wenn viele Verhaltensweisen, die auf das abzielen, was angemessen ist, plötzlich ins Leere laufen. Lear untersucht, was mit Menschen passiert, die ihr Leben nach zunächst unbekannten Regeln führen müssen und vom Gefühl erfasst werden, ihre Kinder an eine Welt zu verlieren, die sie nicht kennen. Die mit einer Trauer konfrontiert werden, die man nicht in Worte fassen kann und für die es auch keinen Raum gibt, weil man damit beschäftigt ist, sich ein neues Leben aufzubauen. Der Philosoph möchte herausfinden, wie es ist, nicht einmal ahnen zu können, was die Zukunft bereithält.

Lears Buch liest sich so erschütternd, weil es die Traumata der indigenen Menschen Nordamerikas begreifbar macht, die sich auch nach dem an ihnen verübten Genozid immer weiter summieren. Weil es verstehbar macht, welch unglaubliche psychische Kraft es erfordert, trotz dieser Traumata Hoffnung auf eine Zukunft zu schöpfen und zu versuchen, ein gutes Leben zu führen. Weil man begreift, dass, selbst wenn diese Zukunft eintritt, das Gefühl einer grundlegenden Fragilität bleiben wird.

Historische Traumata sind singulär. Es wäre fahrlässig und dumm, sie zu vergleichen, vor allem, wenn eines dieser Traumata die Folge eines genozidalen Verbrechens unvorstellbaren Ausmaßes ist. Dennoch überkamen mich bei der Lektüre des Buches regelmäßig Gedanken an meine Eltern und die große Zäsur ihres Lebens. Ich musste daran denken, wie meine Mutter ihre Arbeit verlor, die ihr sehr viel bedeutete, und wie sie unentwegt nach neuen Arbeitsmöglichkeiten suchte. Musste daran denken, wie der landwirtschaftliche Betrieb, in dem mein Vater arbeitete, zusammenbrach und er und einige seiner Kolleginnen und Kollegen ihn in eine Genossenschaft überführten und diese trotz vieler Hindernisse am Laufen hielten. Ich musste daran denken, wie lang seine Liste der Vorwürfe an die Treuhandgesellschaft war, die das kollektive Vermögen jenes Staates, in dem er gelebt hatte, veräußerte und mit der die neugegründete Genossenschaft immer wieder in Konflikt geriet. Musste daran denken, mit welcher Obszönität einige Menschen aus der alten Bundesrepublik aus Unwissen und Unerfahrenheit Kapital schlugen. Daran, wie die kollektiven Narrative dieser Ereignisse bis heute, mehrere Jahrzehnte danach, von Herablassung und Überlegenheitsgefühlen gegenüber Menschen wie meinen Eltern geprägt sind. Daran, wie selten ich auch mit engen Freundinnen und Freunden über meine Herkunft spreche, weil sich diese Überlegenheitsgefühle und Vorurteile selbst bei Menschen zeigen, bei denen man es nicht erwarten würde. Weil es so schwer ist, die Nichtverstehbarkeit solcher historischen Zäsuren, solcher Endpunkte vertrauter Lebensweisen begreifbar zu machen. Ich dachte daran, wie es meinen Eltern trotz allem gelang, etwas von jener Hoffnung aufzubringen, von der Lear spricht, wie es ihnen gelang, sich ein neues Leben aufzubauen, das mir wie ein gutes Leben vorkommt und in vieler Hinsicht besser als das war, das sie zuvor geführt hatten. Ich begann nur sehr langsam zu erahnen, was es bedeutet, sich der Tatsache zu stellen, dass das Leben, wie man es kennt, zu Ende geht.

Im Untergeschoss der Accademia bleibe ich vor den Reliefs und Skulpturen von Antonio Canova stehen, weiße, neoklassizistische Marmorfantasien aus dem späten 18. Jahrhundert, die die griechische und römische Skulptur romantisieren, sie noch moderner, noch sinnlicher machen, als sie ohnehin schon ist. Jedes Mal wenn ich im Victoria & Albert Museum in London bin, mache ich ein Foto von seinem Theseus, im Metropolitan Museum in New York bleibe ich wie gebannt vor seinem Perseus stehen.

Es sind ideale männliche Körper, die eine so offene wie subtile Sexualisierung erfahren, wie sie in der religiös-patriarchalen Kunst sonst nur weiblichen Körpern vorbehalten ist. Es gibt nur wenig wirklich schöne Männer in der Kunstgeschichte, und hier in den Gallerie dell’Accademia stehen einige von ihnen: Canovas Paris und sein Creugas etwa oder seine berühmten Ringer, die mit ihren nackten Körpern von unfassbarer Perfektion so übereinander herfallen, dass ihre Betätigung eigentlich nur durch den Titel der Skulptur als Sport erkennbar ist. Ich mache ein Foto, um es einem befreundeten Künstler zu schicken, der gerade an einer Serie von Zeichnungen arbeitet, die Männer beim Ringen zeigt. Dann reiße ich mich von Canova los, um zu meinem Lieblingsbild in der Accademia zu gehen.

Eva Horn schreibt, dass unsere gegenwärtigen Katastrophenahnungen letztlich höchst diffus seien. Ihre Drohung beruhe auf dem so langsamen wie unheimlichen Zusammenbrechen hyperkomplexer Systeme, auf kompliziert miteinander verwobenen Desastern. Dieser Umstand lasse sie immer unkonkret bleiben. Die Kulturwissenschaftlerin bringt unsere gegenwärtige Vorstellung von der Zukunft mit dem Begriff einer »Katastrophe ohne Ereignis« auf den Punkt. Für sie besteht darin der größte Unterschied zum Katastrophendenken des Atomzeitalters und der schaurigen Weltuntergangssehnsucht der Romantik.

Viele Werke, an denen ich vorbeigehe und auf die ich mal flüchtigere, mal genauere Blicke werfe, verweisen noch auf eine andere, alles andere als ereignislose Katastrophe. Sie sind von der Vorstellung einer göttlichen, nicht menschengemachten Apokalypse geprägt: die des Jüngsten Gerichts. Im Grunde zeigen sich in der gesamten Kunstgeschichte bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Spuren dieser zukünftigen Katastrophe. »Die christliche Heilsgeschichte sah im Weltende (…) eine Figur ultimativer Zukünftigkeit«, schreibt Horn. In ihm habe sich die endgültige göttliche Wahrheit offenbaren sollen, der »Wert und Unwert aller Dinge, aller Menschen, aller Machtstrukturen«. Es habe den »Aufbruch in eine neue, ewige Ordnung« symbolisiert.21 Womöglich sind viele der alten religiösen Bilder auch deshalb heute noch so wirksam: Sie erzählen die Geschichte der größten, je erfundenen Verheißung. Und womöglich lassen sich entfernte Echos dieser Verheißung auch in den Endzeitszenarien vernehmen, die uns heute umtreiben.

Ich komme beim Raum an, in dem mein Lieblingsbild des Museums hängt, gehe zielstrebig auf die kreisrunde Leinwand zu, die einen Durchmesser von fast fünf Metern hat und ihren goldenen Rahmen zu sprengen scheint. Es ist ein Fresko von Giambattista Tiepolo, das ursprünglich an der Decke der venezianischen Chiesa delle Cappuccine hing. Ich setze mich auf das Sofa vor dem Gemälde.

Die Kreuzauffindung der hl. Helena handelt davon, wie Helena auf einer Pilgerreise nach Jerusalem auf das Kreuz stößt, an dem Jesus starb. Umgeben von Engeln und einer Schar von Schaulustigen, begegnet man ihr im Moment ihres Triumphs. Der Bildaufbau wird vom gigantischen Kreuz bestimmt, das bis in die Wolken reicht. Links unten befindet sich eines der anderen Kreuze, die in dem ausgehobenen Grab gefunden wurden. Rechts unten ein Toter, der von der Berührung mit dem echten Kreuz wieder zum Leben erweckt wurde und so dessen Authentizität bezeugt.

Doch jede Inhaltsbeschreibung tut diesem Bild eigentlich unrecht. Man muss die Geschichte, die darin anklingt, nicht kennen, um sich von seiner berauschenden Wirkung erfassen zu lassen. Alles in diesem Fresko scheint in Bewegung zu sein. Es lässt sich nicht in Worte fassen, mit welcher Leichtigkeit und malerischen Bravura Tiepolo diese Szene einfängt. Mit welchem Witz, welcher Intelligenz und welch glorioser Traumlogik er sie ausstaffiert. Die leuchtenden Kleider der heiligen Helena bauschen sich im Wind, als stünde sie vor den Windmaschinen eines Fotoshootings. Ein großer, ernster Engel fliegt herbei, um über der Szene ein Weihrauchfass zu schwingen. Putti purzeln fröhlich aus den Wolken, in denen sie offensichtlich wohnen, oder kreisen um deren Gravitationsfeld. Sie lassen sich fallen und sausen durch die Luft, weil sie Spaß daran haben und sich die Zeit mit all dem vertreiben, was man selbst auch tun würde, wenn man Flügel hätte. Alles ist in ein einzigartiges Licht getaucht.

Das Leuchten des Werks, seine Lust an den Möglichkeiten der Malerei, seine leichtfüßige Exaltation nehmen mich in Besitz. Ich könnte Stunden auf diesem Sofa verbringen, ohne je das Gefühl zu bekommen, ich hätte alles auf dem Bild gesehen. Es scheint eine Antwort auf meine gegenwärtige Gefühlslage zu beinhalten, die ich nicht greifen kann. Was mich daran anzieht, ist mehr als Eskapismus. Vielmehr scheint die Antwort in seiner Freiheit zu liegen, seiner unglaublichen imaginativen Freiheit. Auch in diesem Bild wirft das christliche Weltende seine Schatten voraus, doch zugleich könnte es nicht unbeeindruckter davon sein. Spielerisch entledigt es sich der Macht apokalyptischer Imagination. Da, wo sonst die Vorstellungskraft scheitert, öffnet es beschwingt die Räume der Fantasie. Es feiert die Gegenwart der Wahrnehmung und des Sehens. Zugleich stellt es klar, wie uneinsehbar die Zukunft ist. In Tiepolos Bild scheint für mich plötzlich jene radikale Hoffnung aufzublitzen, von der Lear spricht. Ich überlasse mich seiner Wirkung, gebe mich ihr hin, verliere mich darin so, wie ich mich in dieser Stadt verliere. Und je länger ich es anschaue, desto greifbarer scheint die Ahnung einer grundlegenden Freiheit für mich zu werden. Der Freiheit, mir eine andere Welt vorzustellen, wenn auch nur für einen Moment.

Als ich das Gebäude der Accademia verlasse, in meinen Mantel gehüllt und meine Tasche wieder über der Schulter, liegt der Nebel, der schon etwas durchlässiger wirkt als zwei Stunden zuvor, noch wie ein beruhigender Schleier über der Stadt, verleiht Palazzi und Kanälen eine melancholische Eleganz.

Manchmal muss man sich verlorengehen, denke ich, muss einräumen, dass man sich verlaufen hat. Manchmal lässt sich nur so die Möglichkeit erlangen, wieder zu sich zu finden. Manchmal kann man die Wirklichkeit erst als die akzeptieren, die sie ist, wenn man sich eingesteht, dass man sie nicht mehr kennt. Vielleicht brachte mir das neblige Venedig, brachte mir Tiepolos Gemälde dies gerade bei. Vielleicht wollte ich genau das lernen: auch im Nebel einen Weg zu finden, den richtigen Weg zu finden, nachdem meiner in eine Sackgasse geführt hatte.

Ich entschließe mich, meinen Plan für den Tag zu ändern und erst einmal nicht wieder zurück ins Centro zu gehen, um in der dortigen Bibliothek zu arbeiten. Stattdessen möchte ich etwas tun, das ich während meiner Venedig-Aufenthalte noch nie getan habe, aus Zeitnot und aus Angst, der fehlenden Dringlichkeit wegen, aus Skepsis. Jetzt scheint der richtige Zeitpunkt dafür gekommen zu sein. Ich spreche mir Mut zu und mache mich auf den Weg.