VI

Nachdem ich meinen Laptop in der Foresteria abgelegt und mich rasch umgezogen habe, komme ich in den Portego, wo Lucy schon unter einer der beiden gläsernen Jugendstillaternen auf mich wartet. Sie schaut von ihrem Telefon auf und lächelt, als sie mich kommen sieht. Wir umarmen uns, und während wir zur Vaporetto-Haltestelle schlendern, rauchen wir gemeinsam eine Zigarette. Ich fühle mich ihr so verbunden. Bevor wir uns hier in Venedig etwas näher kennenlernten und gemeinsam Yoga machten, hatte ich ihre Bücher gelesen, die ich sehr mochte. Wir waren uns schon bei verschiedenen Anlässen in Berlin begegnet und haben einen gemeinsamen Freund, aber wir kannten uns nicht gut. Ein paar Tage später werden wir uns Karnevalskostüme überwerfen, einen Dreispitz aufsetzen und mit einer schon lange in Venedig lebenden Mitarbeiterin des Centro ins Café Florian auf dem Markusplatz gehen und in unserer etwas albernen Aufmachung durch die Gassen ziehen, was einem kleinen Freundschaftsbeweis gleichkommt.

Der Vaporetto, den wir nehmen wollen, hält gerade an der Anlegestelle, als wir dort ankommen. Das Restaurant liegt im Sestiere Castello, hinter dem Markusplatz, schon fast bei den Giardini mit ihren Pavillons, wo abwechselnd die Biennalen für Kunst und Architektur stattfinden. Es sind nur einige Stationen. Wir setzen uns auf einen der leeren Vierersitze des Boots, und für einen kurzen Augenblick habe ich den Eindruck, in Berlin oder London zu sein, in einem Bus und nicht in einem Vaporetto zu sitzen, so selbstverständlich fühlt es sich an.

Wir erzählen uns von unserem Tag, berichten einander, was wir gesehen, woran wir gearbeitet haben, und auch, woran wir nicht arbeiten konnten, obwohl wir es uns vorgenommen hatten. Ich erzähle ihr von meinen Besuchen in der Accademia und auf der Toteninsel. Hinter den großen Vaporetto-Fenstern begleiten die Lichter der abendlichen Stadt unsere Unterhaltung. Während wir eine Haltestelle nach der anderen passieren, an den sanft angestrahlten Fassaden des Palazzo Grassi, der Accademia, des Peggy-Guggenheim-Museums und der Santa Maria della Salute vorbeifahren, schauen wir gelegentlich nach draußen. Wie aus dem Nichts sagt Lucy plötzlich, dass ihr diese Stadt manchmal wie ein alter, sterbender Körper vorkomme, den man schmücke und balsamiere wie für eine festliche Beisetzung. Das Lachen bleibt mir im Hals stecken. Es ist eine der treffendsten Beschreibungen Venedigs, die ich je gehört habe.

Mit den an- und abschwellenden Geräuschen des Motors im Ohr schauen wir uns kurz um, wir wollen sehen, wie viel Stationen es noch bis zu unserem Ziel sind. Mein Blick wird von der Weite des Giudecca-Kanals in den Bann gezogen, der im Dunkeln noch stärker als sonst wie der Teil eines großen Sees oder des Meeres wirkt. Unter den derzeitigen Wetterbedingungen lässt sich das andere Ufer nur schwer erkennen. Dass diese Stadt meine Empfindungen des Verlusts in den vergangenen Tagen hochgespült hat, muss auch am Wasser liegen. Die Wellen der Trauer treffen mich hier mit größerer Wucht, nehmen mich mit aufs Meer, mit auf das große, überall greifbare Meer der Trauer dort draußen, mit auf den Ozean unserer aller leichten und schweren, bearbeiteten und unbearbeiteten Abschiede. Sicherlich ist es an der Zeit für diese Auseinandersetzung. Und sicherlich ist es auch an der Zeit für den Entschluss, meiner vorsätzlichen Überforderung Einhalt zu gebieten und ihrer zuerst willkommenen, dann zerstörerischen Logik der Verdrängung zu entkommen. Aber es liegt auch an diesem Ort, an der seltsamen Qualität des immer präsenten Wassers, das Dinge an der Oberfläche zerstört und sie der Erosion übergibt, aber in seinen Tiefen die Spuren dieser Erosion und auch die Trümmer anderer Havarien bewahrt. An diesem Wasser, das mich immer wieder auf die Schwellenzustände des Lebens zurückwirft, auf seine Umbrüche und Wandlungen.

Der Ethnologe Arnold van Gennep gelangte in seiner Untersuchung von Trauerritualen zur Überzeugung, dass diese Rituale fast immer rites de passage darstellten, Rituale des Übergangs. Seinem anthropologischen Verständnis zufolge geht Trauer mit zwei grundlegenden Zustandsveränderungen einher: Für die Verstorbenen mit dem Übergang vom Reich der Lebenden in das Reich der Toten und für die Trauernden mit dem Übergang aus dem Reich der Überlebenden in das der Lebenden, in dessen Gemeinschaft sie sich wieder eingliedern, wenn sie gelernt haben, mit ihren Verlusterfahrungen umzugehen. Trauer ist für van Gennep nichts, was man überwinden muss, sondern ein Problem der Transformation, der Verwandlung. Seiner Ansicht nach sind es vor allem die Toten, die uns dabei helfen, diese Transformation zu leisten. Im Gegenzug helfen wir den Toten durch unsere Trauer, ihre eigene Verwandlung, ihren eigenen Übergang zu vollziehen. Es ist kein Zufall, dass häufig auf die Metaphern der Reise zurückgegriffen wird, wenn man von Tod und Trauer erzählt. Auf die Metaphern einer Reise, die fast immer übers Wasser führt, selbst wenn die Toten in den meisten Fällen keine eigene Insel haben wie hier.44

Mir kommt auch Judith Butlers Trauertheorie wieder in den Sinn, die in manchen Aspekten an van Gennep anzuschließen scheint.45 In ihren Überlegungen wendet sie sich unter anderem gegen die Freud’sche Unterscheidung zwischen Trauer und Melancholie, zwischen gelungener und pathologischer Trauer. Eine Unterscheidung, die auch in den therapeutischen Diskussionen der jüngeren Zeit lange tonangebend war, wenn es um Verluste ging. Sie glaubt nicht, dass Trauer jemals vollumfänglich gelingen kann und Verluste sich jemals vollständig betrauern lassen. Dass die »erratische Herrschaft der Trauer«, wie Barthes es nannte, jemals ein wirkliches Ende findet. Auch ich glaube das nicht mehr.

Trauer, so Butler, bestehe in der Akzeptanz der »Tatsache, dass einen der Verlust, den man durchmacht, verändern wird«. Trauern hat für sie »damit zu tun, eine Verwandlung zu akzeptieren, bei der man nicht vorhersehen kann, was an ihrem Ende steht«.46 Trauern in diesem Sinne würde heißen, das anzunehmen, was die Zeit der Verluste mit uns macht. Es würde heißen, den mit der Trauer einhergehenden Verlust unserer Intaktheit zu akzeptieren und hinzunehmen, dass wir zunächst nicht wissen können, was mit uns geschieht. Ich habe oft versucht, mir Butlers Überlegungen ins Bewusstsein zu rufen. Doch eigentlich beginne ich erst jetzt, in dieser majestätischen, untergehenden Stadt mit ihrem geschmückten und einbalsamierten Körper in den Weiten des Wassers, zu begreifen, was sie bedeuten.

Der Weg von der Anlegestelle ist nicht lang, wir verlaufen uns nur kurz. Das Lokal liegt in einer schwer einsehbaren Seitengasse. Es ist eines jener Restaurants, für die man lange im Voraus reservieren muss, und als wir eintreten, sehen wir, warum: Nur wenige Tische versammeln sich um eine kleine Bar und die offene Küche dahinter. Eine Köchin, zwei Köche, zwei Kellnerinnen und ein Kellner kümmern sich lediglich um eine Handvoll Gäste am Abend.

Lucy hat die Reservierung eigentlich für drei Personen gemacht, für sich, Frauke und deren Ehemann, der für ein paar Tage zu Besuch ist. Allerdings liegt dieser Ehemann seit gestern krank in der Wohnung im Centro, und Frauke hat sich entschlossen, ihm Gesellschaft zu leisten. Ich bin froh, dass Lucy mich stattdessen eingeladen hat, und auch froh, dass wir nur zu zweit sind. Ich bin mir nicht sicher, wie gut es mir gelungen wäre, den Abend allein zu verbringen. Aber mir ist auch bewusst, dass ich einem Gespräch zu dritt sozial nicht unbedingt gewachsen gewesen wäre.

Andrea, der Besitzer des Restaurants, zeigt sich erst enttäuscht, dass wir die Reservierung nur zu zweit wahrnehmen, und fragt mit leichter Entrüstung, warum wir nicht früher Bescheid gegeben hätten. Dann fragt er, ob die Person, die zuhause geblieben ist, wenigstens die Person sei, die ein veganes Menü bestellt habe, und als wir nicken, klatscht er in die Hände, hüpft erfreut auf und ab und sagt, dann sei alles verziehen. Während er uns unsere Mäntel abnimmt, ruft er den Mitarbeitenden mit einem kleinen Jubeln in der Stimme zu, dass il vegano nicht gekommen sei, und alle von ihnen beginnen zu lachen und zu jubeln und werfen in einem angedeuteten Tanz die Arme in die Luft. Es ist eine wahnsinnig komische Szene, auch Lucy und ich müssen lachen. Andrea führt uns zu einem der kleinen Holztische mit grün und rot karierten Tischdecken, zieht die Stühle nach hinten und bittet uns, Platz zu nehmen. Eine Kellnerin fragt uns, was wir trinken wollen, und gibt uns eine Karte mit dem Menü des heutigen Abends.

Lucy bestellt sich einen Wein, ich mir eine Mandarinenlimonade, und während wir uns über das Centro, seine Mitarbeitenden und Stipendiatinnen unterhalten, wird mit den Getränken auch schon der erste Gang serviert — Crudités aus Möhren, Fenchel, Kohlrabi und grünem Spargel, die mit Salbeiöl besprüht werden und wie meine Limonade ungewöhnlich gut schmecken. Ein Großteil des Gemüses kommt von Sant’Erasmo, der Gemüseinsel, die ich noch nicht kenne. Ich werde sie mir erst ein paar Monate später, bei einem erneuten Besuch der Stadt, anschauen und sie unter strahlend blauem Himmel zu Fuß umrunden, wenn die vielen wilden Feigenbäume dort ihre ersten Früchte tragen und auf den Feldern große Distelpflanzen mit den länglichen violetten Artischocken wachsen, die man hier isst. Ich beginne mich zu entspannen, wirklich zu entspannen, zum ersten Mal an diesem Tag. Etwas an dem deliziösen Essen, der lässigen Atmosphäre im Restaurant und an Lucys Gesellschaft sorgt dafür, dass ich merke, wie eine gewisse Schwere von mir abfällt. Wenigstens für eine Zeit. Es ist ein wunderbares Gefühl.

Ich erzähle Lucy von einer Begegnung im Centro, die mich ratlos zurückließ. In der Gemeinschaftsküche schwärmte eine Stipendiatin von ihrer behüteten Kindheit in einer fränkischen Kleinstadt und von ihrer Familie, auf die sie sehr stolz war. Sie ging davon aus, dass ich ihr gerne zuhörte. Sie klagte dann, wie wenig ihr die thüringische Stadt, in der sie ihre Doktorarbeit schreibt, gefalle, als wie rückständig sie das Leben dort empfinde. Im Vertrauen auf Zustimmung und auf das Teilen ihrer Empörung begann sie, über die vermeintliche Faulheit und die ihrer Ansicht nach allgemeinen rechtsextremen Neigungen von Ostdeutschen zu sprechen. Etwas an jenem herrschaftlichen Palazzo mit seiner langen aristokratischen Geschichte, etwas an ihrer psychischen Verfassung schien bei ihr das Bedürfnis auszulösen, ein soziales Territorium abzustecken, und ich fragte mich, warum. Obwohl ich eigentlich nicht viele Menschen ad hoc unsympathisch finde, spürte ich eine große Abneigung ihr gegenüber. Ich nahm meine Arbeitssachen und meinen Tee und verabschiedete mich, ohne Widerspruch einzulegen, in die Bibliothek.

Auch Lucy hat solche Erfahrungen gemacht, und unser Gespräch beginnt, sich an den Klassenfragen entlangzuhangeln, die unser beider Leben auf jeweils andere Art bestimmen. An den allgegenwärtigen Inszenierungen sozialer Schicht, denen man sich, egal, wie sehr man es versucht, nur schlecht entziehen kann. Egal, wie sehr man meint, außerhalb dieser Schichten zu stehen, egal, wie sehr einen ein gewisser Erfolg, ein gewisser Wohlstand und ein gewisser über die Jahre unbewusst angeeigneter Habitus vor den Abgründen dieser Klassenfragen schützen. Während des Gesprächs wird mir klar, was mich an der raumgreifenden Haltung von Menschen wie jener Stipendiatin so stört: dass ihre Annahme, die Menschen ihrer Umgebung würden sich selbstverständlich für jemanden aus ihrer sozialen Schicht interessieren, auch bei mir funktioniert. Dass ich mit meinem Schweigen genauso auf sie reagiere, wie mein Vater auf solche Menschen reagiert hatte: mit stiller Verachtung, er mit seiner Marx-Engels-Lektüre gerüstet, ich mit meiner teuren Designertasche. Doch ohne gegenzuhalten, ohne das eigene Territorium zu behaupten.

Nacheinander kommen erst gegrillter Tintenfisch mit Wachtelbohnen-Püree und kurz geschmortem Treviso-Radicchio und dann eine gebratene Seezunge mit Polenta und Broccolo Fiolaro, einer wilden Broccoli-Art, auf den Tisch. Während des Essens verfallen wir in Schweigen. Es ist so gut, so unprätentiös und doch so fein, geschmacklich so komplex und perfekt aufeinander abgestimmt, dass es ganz natürlich einfordert, mit allen Sinnen und fast zeremonieller Langsamkeit genossen zu werden.

Zwischen den Gängen erzählt Lucy von ihren eigenen Erfahrungen mit solchen Situationen. Obwohl wir aus unterschiedlichen Ecken des Landes kommen, obwohl wir anders aufgewachsen sind, stellen wir fest, dass es uns ähnlich ergeht, wenn wir mit ihnen konfrontiert werden. Lucy erzählt, wie sie als Teenagerin die Schule abbrechen musste, eine Weile ohne Wohnung war und schließlich in einer Fischfabrik arbeitete. Sie berichtet von der Angst, die sie in jener Zeit ihres Lebens hatte, der Angst, dass es keine Möglichkeit gebe, daraus auszubrechen. Sie berichtet auch, wie es ihr gelang, später trotzdem Schreiben zu studieren, wie sie das Gefühl hatte, immer besser sein zu müssen als die Schreibenden aus anderen sozialen Schichten, wie sich dieses Gefühl mit der Zeit in eine Gewissheit verwandelte. Sie erzählt davon, wie es ist, auf der Bühne voyeuristisch auf die eigene Herkunft angesprochen zu werden, wie man sich auch auf Festen, Empfängen und Preisverleihungen meist etwas fremd fühlt. Wie man die Empfindung, häufig leicht ungläubig am Rand des Geschehens zu stehen, nie ganz verliert. Erst recht nicht, wenn die eigene, einigermaßen geglückte Biografie von anderen Menschen, bewusst und unbewusst, als Rechtfertigung unseres Systems der Ungleichheit herangezogen wird.

Ich weiß genau, wovon Lucy spricht, glaube genau zu wissen, wie sie sich fühlt, weil ich diese Gefühle teile. Zugleich bewundere ich sie dafür, wie gut sie darüber sprechen kann, wie reflektiert ihre Auseinandersetzung mit diesen Themen ist. Mir wird bewusst, dass ich mir ein Leben eingerichtet habe, in dem ich mir die meiste Zeit erzählen kann, dass Dinge wie Klasse, Kampf und soziale Schicht nicht zählen, dass ich analysierend außerhalb dieser Parameter stehe. Und wie schon am Morgen im Museum sehe ich mich erneut im Licht eines unbewussten Assimilationsprozesses, mit dem ich nicht glücklich bin, der an sich keinen Wert hat, außer dem, mein Leben ein wenig einfacher zu machen und mich vor Gefühlen der Bitterkeit zu schützen. Ich habe mich auf diese Anpassung, die zudem nie völlig gelingen wird, nicht bewusst eingelassen. Doch ich ahne auch, dass dieser Prozess, der weder an der Ungerechtigkeit des Systems, in dem wir leben, noch an der Wahrheit meines Lebens etwas ändert, nicht mehr umkehrbar ist.

Irgendwann sagt Lucy, wie dankbar wir für das Glück sein können, wenigstens ein paar Jahre lang vom Schreiben zu leben, obwohl dieser Weg für uns über größere Hindernisse führte als für andere Menschen. Wie dankbar wir dafür sein sollten, dass wir Zeit in dieser Stadt und in diesem wunderbaren Restaurant verbringen. Auch dieses Gefühl teile ich.

Nachdem uns Andrea eine Creme mit kandierten Früchten und Nüssen zum Dessert gebracht hat, die wir mit der gleichen Andacht essen wie die anderen Gänge, lockert sich die Atmosphäre im Raum. Einige der Tische haben sich geleert und stattdessen sind ein paar Freundinnen und Freunde des Personals vorbeigekommen, um ihren Abend hier ausklingen zu lassen. Eine Kellnerin macht Negronis und verteilt sie unter den noch Anwesenden. Mir stellt sie eine weitere Mandarinenlimonade hin. Andrea dreht die Musik auf. Erfreut stelle ich fest, dass ich fast jeden der Songs kenne und mitsingen könnte, nur nicht auf so emphatische Weise, wie er und seine Freundinnen und Freunde es tun. Es ist alte Popmusik, eine eklektische Playlist. George Michaels »Freedom« wird von Marco Armanis »È la vita« abgelöst und dann von Linda Ronstadts »Long, long time«. Ich beobachte die Szene und genieße sie.

Es ist schon lange nach Mitternacht, als wir bezahlen und uns auf den Weg zurück ins Centro machen, viel zu spät für mich. Doch es ist traumhaft, durch die leere Stadt zu laufen. Es ist kühl, aber nicht kalt, es ist eine der Spätwinternächte, die den Frühling schon erahnen lassen. Der Duft der Mimosenbäume, die in den grünen Ecken der Stadt schon zu blühen beginnen, scheint in der Luft zu liegen. Wir schlendern über den Markusplatz, gehen an den Luxusgeschäften auf der Calle Larga XXII Marzo vorbei, an den Glas- und Masken- und Lederwarenläden, deren Schaufenster auch noch zu dieser Zeit beleuchtet sind.

Als hätten wir den Abend über Mut sammeln müssen und fänden erst in der Ruhe der nächtlichen Stadt den Raum dafür, tauschen wir uns schließlich auch über die neuesten Nachrichten aus. Viele dieser Nachrichten machen uns Angst. Fast automatisch beginnt sich das Gespräch um unser Gefühl zu drehen, dass uns so etwas wie der selbstverständliche Blick in die Zukunft endgültig abhandengekommen zu sein scheint. Dass es so aussieht, als könnte unsere Zukunft keine Versprechen mehr für uns bereithalten. Wir beide haben dieses Gefühl schon lange.

In den vergangenen Jahren, spätestens seit den Ereignissen der Pandemie, habe ich immer wieder bewusst versucht, mich dieser fehlenden Gewissheit zu stellen. Ich habe versucht, mich nicht von der wachsenden Unsicherheit und Angst um mich herum lähmen zu lassen. Doch inzwischen ist dieser Versuch an seine Grenzen gelangt. Ich bin mir nicht mehr sicher, wie viel inneres Vertrauen mir geblieben ist.

Während unserer Unterhaltung merke ich, wie sehr ich jene Person, die unerschrocken in die Zukunft schaut, vermisse. Jene Person, die ich einmal war und die in einer Welt lebte, in der sie sich alle möglichen Zukunftsvorstellungen machen konnte. Ich bin froh, dass die meisten dieser Vorstellungen nicht wahr geworden sind und weiß, dass ich, selbst wenn sie Wirklichkeit geworden wären, kaum zufriedener wäre als heute. Aber ich trauere dieser Person hinterher, die sie hatte, ich vermisse ihre Zuversicht. Ich vermisse selbst die nicht mehr ungebrochene Zuversicht jener Person, die sich vornahm, sich bewusst den Unsicherheiten und Ängsten der Zeit zu stellen und ihr Leben trotzdem in vollem Maße auszuschöpfen. Doch letztlich ging diese Person davon aus, dass sich irgendwann eine neue Zukunftsvorstellung einstellen werde, dass eine Zukunft auf sie zukäme, an die sie so leicht glauben könnte wie an jenes verlorene Futur. Bisher ist diese Vorstellung ausgeblieben. Und ich befürchte, dass es dabei bleiben wird.

Eine Weile laufen Lucy und ich in Gedanken versunken nebeneinanderher. Nur ab und zu nehmen wir Gesprächsfetzen des Abends und der vergangenen Tage wieder auf, um kurz danach wieder der Stille der Stadt zu lauschen. Wir gehen über die Rialtobrücke, die tagsüber so voll ist, dass man sie kaum passieren kann, und nun fast leer daliegt. Wir bleiben stehen, schauen eine Weile den die Lichter der Stadt spiegelnden Canal Grande hinab und schlagen schließlich den Weg in Richtung Centro ein.

Mir geht eine Passage eines Buchs des Philosophen Travis Holloway durch den Kopf. »Wie können wir unser Leben am Ende der Welt führen?«, heißt es darin. »Wie genießen, lieben oder trauern? Worüber reden wir mit unseren Freundinnen und Freunden?«47 Womöglich sind das die wichtigsten Fragen unserer Zeit. Doch ihre konkrete Beantwortung bleibt der Philosoph in seinem Buch über Demokratie und Kunst schuldig. Er macht noch nicht einmal den Versuch. Und letztlich kann man diese Fragen auch nicht beantworten. Es kann keine Antwort auf sie geben, weil wir erst dabei sind, herauszufinden, wie diese aussehen kann. Weil wir gerade erst begonnen haben, nach ihr zu suchen. Weil sich dieser Prozess nicht abkürzen lässt.

Auch Jonathan Lears Idee der »radikalen Hoffnung« kommt mir, wie schon am Vormittag, in den Sinn. Für Lear besteht Hoffnung angesichts drohender Zerstörung darin, die eigene Vorstellungskraft für radikal andersartige Möglichkeiten der Zukunft zu öffnen. Darin, einen Weg zu finden, sich der eigenen Verzweiflung zu widersetzen. In einer Haltung, mit anderen Worten, die unsere Realität, unsere Trauer und Verluste in den Blick nimmt und uns trotz allem ermöglicht, einen aufmerksamen Umgang mit der Welt zu kultivieren. Es ist eine so verheißungsvolle Idee, eine Idee, die mich anzieht. Dennoch bleibe ich innerlich auf Distanz zu ihr.

Als wir schließlich am Palazzo ankommen, tauschen wir uns zum Abschied über unsere Pläne für die nächsten Tage aus und erneuern unsere Verabredung zum Yoga. Froh über diesen Abend, umarmen wir uns. Ein Gefühl der Dankbarkeit gegenüber Lucy erfüllt mich, während wir winkend in unsere Hauseingänge treten. Und ich frage mich, ob Dankbarkeit nicht eine Antwort auf das Fehlen jener Zukunftsvorstellungen sein kann. Jene echte Dankbarkeit, die uns manchmal schwerfällt. Dankbarkeit für Abende wie diese, die wir auch in bewegten, traumatisierenden Zeiten genießen können. Dankbarkeit für die Zeit mit den uns nahestehenden Menschen. Dankbarkeit für die Zeit, die wir mit den Menschen, die nicht mehr am Leben sind, verbringen durften. Dankbarkeit auch für die Trauer, für ihren Schmerz und für die Krise, in die sie uns stürzt. Dankbarkeit, weil sie genauso zum menschlichen Dasein gehört wie all jene Geschenke des Lebens, für die wir dankbar sind, weil uns das leichtfällt. Ich weiß nicht, wie viel Übung ich darin habe, diese Form der Dankbarkeit in mir ausfindig zu machen. Doch ich weiß, dass ich sie gerne häufiger aufbringen würde. Dass ich sie vielleicht irgendwann einmal ohne Zweifel und innere Widersprüche aufbringen werde.

Ich mache das Licht in der Foresteria an, lege meine Tasche ab und hänge meinen Mantel an den Garderobenhaken. Ich beginne, mich für die Nacht fertig zu machen, lege Brodskys Ufer der Verlorenen auf das Schränkchen neben dem Bett und schlage die Decke zurück. Doch dann stelle ich fest, dass ich noch zu wach bin, um schlafen zu gehen. Ich greife nach dem Schlüssel und einer dicken Strickjacke und schleiche durch durch das Halbdunkel des Palazzo, um eine letzte Zigarette zu rauchen. Im Piano Nobile angekommen, mache ich das Licht an und gehe durch den Salotto auf die große Terrasse. Ich stelle mich an die Balustrade, über mir der Nachthimmel mit seinen unwirklichen leuchtenden Wolkenstreifen.

Unten tuckert langsam ein einsames Boot den Canal Grande entlang. Ich schaue auf die prunkvollen Palazzi auf der gegenüberliegenden Seite, auf ihre privaten Anlegestellen mit den bunt gestreiften Holzpfählen, einige von ihnen glänzend und neu, andere schon etwas abgenutzt und schief, darauf wartend, bald wieder ausgetauscht zu werden. Das nächtliche Strahlen der Stadt, ihr Schmuck und ihr Balsam bewirken, dass ich mich auf eine hell ausgeleuchtete Theaterbühne versetzt fühle. Eine Bühne, auf der sich schon seit Jahrhunderten Tag für Tag verschiedenste Dramen abspielen, die alles, was nach ihnen kommt, formen, auch meine eigene kleine Geschichte, meine Tage an diesem Ort. Auf eine Bühne, die mit ihrer Vergänglichkeit kämpft und auf der das Leben trotzdem jeden Tag weitergeht. Häufig sogar mit einer bezaubernden Leichtigkeit. Selbst in dieser Zeit der Verluste.

Wie so oft an diesen Tagen überkommt mich ein Gefühl der Ehrfurcht, wenn ich mir die Palazzi anschaue, ein Staunen darüber, wie undurchdringlich, unverständlich und überwältigend schön dieses Leben und diese Welt sein können. Das Gefühl lässt meine alltäglichen Gedanken und Wünsche in den Hintergrund treten. Es macht mich auch, merke ich, meiner eigenen Fragilität bewusst. Womöglich schenkt uns gerade diese Form der Ehrfurcht eine Ahnung davon, dass die Welt so viel größer als unser Verständnis von ihr ist. Lässt uns ihre Schönheit spüren, aber auch ihre Endlichkeit und ihre Gewalt. Und unser Ausgeliefertsein.48

Eine Woche vor seinem Tod begann mein Vater stiller zu werden und mehr zu schlafen als sonst. Er saß fast den ganzen Tag über in einem großen Sessel im Wohnzimmer, aß kaum noch, wie meine Mutter mir später erzählte, und beschränkte sich auf nur noch wenige Worte. Es war schwerer für ihn geworden, sich zu konzentrieren. Er musste starke Schmerzmittel nehmen. Der Tumor hatte sich weiter in seinem Körper ausgebreitet, auch in seinem Gehirn befanden sich inzwischen Metastasen. Am Morgen des Tages, an dem er starb, stellte meine Mutter fest, dass sich sein Zustand akut verschlechtert hatte. Zeitweise war er kaum noch ansprechbar. Voller Panik rief sie einen Krankenwagen, um meinen Vater in die Lungenklinik bringen zu lassen, in der er behandelt wurde. Bevor sie seine Sachen zusammenpackte und dem Wagen mit dem Auto folgte, setzte sie sich zu ihm in die Kabine, um sich von ihm zu verabschieden. Mein Vater konnte sie verstehen, doch er war nur noch in der Lage, ihr zuzunicken und ihre Hand zu drücken.

Nach einem negativen Covid-Test durfte meine Mutter das Krankenhaus betreten. Sie setzte sich an das Bett, in dem mein Vater an Maschinen angeschlossen lag, und hielt seine Hand, die er periodisch drückte, um ihr zu zeigen, dass er wisse, sie sei bei ihm. Irgendwann schlief er ein. Ein Arzt sagte meiner Mutter, dass sein Zustand noch relativ stabil sei, so stabil zumindest, dass sie nach Hause fahren, sich ein paar Stunden ausruhen und dann wiederkommen könne. Wahrscheinlich machte er sich Sorgen um sie. Sie stand unter Schock. Meine Mutter war kaum in der Wohnung angekommen, als das Telefon klingelte und ihr der Arzt mitteilte, dass mein Vater gestorben war.

Wenn ich mir diese Szenen vom Tod meines Vaters vor Augen führe, kommt mir oft Simone de Beauvoirs Memoir Ein sanfter Tod in den Sinn, ihre Erinnerungen an das Sterben ihrer Mutter. Nicht nur weil de Beauvoir darin so treffend das Auf und Ab der Hoffnung und des Bangens beschreibt, wenn jemand, den wir lieben, stirbt. Oder weil sie zeigt, wie sehr sich nach dem Tod das Bedauern und das Bereuen ins Leben der Überlebenden einschleichen, egal, wie viele oder wie wenig Gründe es dafür gibt. Vor allem muss ich an de Beauvoirs Erinnerungen denken, weil sie darin so minutiös beschreibt, mit welchem Aufwand, mit welcher psychischen Intensität wir versuchen, den Tod mit Hilfe der modernen Medizin zu bekämpfen.

An einer zentralen Stelle sagt eine Krankenschwester zu Poupette, de Beauvoirs Schwester, sie könne ihr versichern, dass ihre Mutter »une mort très douce«, einen sehr sanften Tod, gehabt habe. Dennoch lässt das Memoir keinen Zweifel daran, wie schwer das Sterben ist. Sie macht klar, dass das moderne medizinische Management vielleicht für eine größere Sanftheit des Tods sorgen, ihm aber nichts von seiner Gewalt nehmen kann.49 Ganz gleich, was wir gegen ihn unternehmen, ganz gleich, mit welchen Mitteln wir ihn zu zähmen versuchen, der Tod ist immer eine Gewalt. Eine ehrfurchtgebietende Naturgewalt.

Ich zünde mir die Zigarette an, ziehe an ihr. Der Rauch breitet sich in meiner Lunge aus. Er macht für kurze Zeit meine Gedanken klarer und sorgt dafür, dass meine Gefühle etwas weniger ausschlagen, eine Spur weniger intensiv sind, als sie es sonst wären. Ich rauche wegen dieses Hauchs der Erleichterung, rauche, weil es meinen Schmerz etwas erträglicher macht. Der Unterschied ist bei genauerer Betrachtung kaum der Rede wert, doch wenn man tagein, tagaus mit diesem Schmerz lebt, fällt auch ein kleiner Unterschied ins Gewicht. Ich rauche, um die Kulissen meines Lebens vor dem Einstürzen zu bewahren, um den Grad der Erschütterung zu verringern, die die Verluste der vergangenen Jahre nach sich ziehen. Und ich frage mich, ob es nicht Zeit wird, damit aufzuhören. Ob es nicht an der Zeit ist, mich dem Schmerz in seinem vollen Umfang zu stellen, den Verlusten meines Lebens ungefiltert zu begegnen, die Erschütterung in mich aufzunehmen und zu schauen, was mit den Kulissen passiert, wenn ich sie nicht mehr künstlich aufrechterhalte. Womöglich werden sie stehen bleiben wie die Kulissen dieser spektakulären Theaterbühne, die vor mir liegt.

Ich frage mich, mit anderen Worten, ob es nicht an der Zeit ist, auf Augenhöhe mit meinen Gespenstern zu leben. Delphine Horvilleur stellte fest, dass »wir unter ganz rationalen Gesichtspunkten alle mit Gespenstern leben. Mit den Gespenstern unserer persönlichen, familiären oder kollektiven Geschichte, mit den Gespenstern der Nation, in die wir hineingeboren wurden, mit denen unserer Kultur, mit den Gespenstern der Geschichten, die man uns erzählt (oder eben nicht erzählt).«50 In ihren Überlegungen nimmt sie eine Denkfigur von Jacques Derrida auf, der glaubte, dass Verluste zu erfahren immer auch heiße, ihren Gespenstern zu begegnen. Wir könnten nur leben lernen, schreibt er in seinem Buch Marx’ Gespenster, wenn wir »lernen, mit den Gespenstern zu leben« — in unseren Beziehungen und alltäglichen Gesprächen, in den persönlichen Entwicklungen, die wir vollziehen. Schließlich sei unser ganzes Leben von diesen Gespenstern geprägt, von Generationen von Gespenstern.51

In seinem Buch versucht er, so etwas wie eine Spektrologie des marxistischen Erbes zu entwickeln. Die Gespenster der Philosophie von Karl Marx und der gesellschaftlichen Projekte, die in seinem Namen angestoßen wurden, suchten uns noch heute heim, so Derrida. Der Geist des Marxismus kehre in unseren Ideen von Gerechtigkeit, in unseren Fragen nach dem guten, dem richtigen Leben wieder. Wir alle seien die »Erben Marx’«, glaubt er, ob wir wollen oder nicht.52

Seine Spektrologie ließe sich im Grunde noch um andere Gespenster erweitern. Um jene Gespenster, die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten in unser Leben getreten sind: um das Gespenst einer Demokratie, die die allermeisten von uns selbstverständlich verteidigen. Das Gespenst eines dauerhaften europäischen Friedens. Das Gespenst eines Klimas jenseits der Extreme. Um das Gespenst eines lebenswerten Planeten, auf dem Tiere und Pflanzen nicht in unvorstellbarer Geschwindigkeit aussterben.

Derrida glaubt, dass unsere Verpflichtung, das Erbe unserer Gespenster anzutreten, eine ethische sei. Wir müssen über sie reden, dürfen das Gespräch über sie nicht abbrechen lassen, fordert er. Nur so haben wir die Möglichkeit, uns unserer Trauer und unseren Verlusten zu stellen. Ich bin mir sicher, dass meinem Vater diese Überlegungen gefallen hätten. Mir gefallen sie ebenfalls. Ich begegne jenen Gespenstern, auch den Marx’schen Gespenstern, die ganze Zeit. Immer, wenn ich an ihn denke, sehe ich sie.

Während ich rauche, überlege ich, ob ich wirklich bereit bin, mich ihnen zu stellen. Auch in den nächsten Monaten werde ich mich das oft fragen. Manchmal werde ich den Eindruck haben, dass mir das gelingt, manchmal werde ich mich gegen ihre Präsenz mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln der Uneigentlichkeit wehren. Auch von jener radikalen Hoffnung, die Lear beschreibt, werde ich allenfalls nur eine Ahnung bekommen. Doch ich werde es immer häufiger schaffen, die Verwandlung zu akzeptieren, die die Zeit der Verluste in mir bewirkt. Ich werde annehmen, dass ich nicht weiß, zu welchem Ergebnis sie führt. Und ich werde wieder eine verhaltene Zuversicht in mir spüren, erst zögerlich und selten, dann häufiger und selbstverständlicher. Es wird eine andere Zuversicht sein, sie wird sich weniger hoffnungsvoll anfühlen, angepasster, informierter, realistischer als früher, es wird eine Zuversicht gesenkter Erwartungen sein. Doch ich werde beginnen, mit ihr durch den Tag zu gehen, und irgendwann wird sie ein Gefühl sein, das mir vertraut vorkommt, das ich, wenn es mir schlechtgeht, wie ein besonders schönes und warmes Kleidungsstück überziehen kann. Ich werde meine Trauer — die um meinen Vater und die um den Zustand der Welt — spüren, aber sie wird mich nicht mehr so erschüttern. Ich werde mich traurig fühlen, aber nicht mehr durchgehend traurig sein. Ich werde mir Sorgen machen, aber meine Angst vor der Zukunft wird mich nicht lähmen. Ich werde mir regelmäßig ins Bewusstsein rufen, dass die Zukunft trotz allem noch nicht geschrieben, sondern Zukunft ist.

Ich nehme einen letzten Zug von meiner Zigarette, genieße den Ausblick und die Wirkung des Nikotins, das für eine wohlige Benommenheit in meinem Körper sorgt. Wenige Wochen später werde ich wieder mit dem Rauchen aufhören, es wird seine Funktion erfüllt haben. Aufzuhören wird mir zu meiner eigenen Überraschung nicht sehr schwerfallen.

Plötzlich sehe ich, wie eine Möwe über die Balustrade der nur schwach beleuchteten Terrasse watschelt und fast neben mir zum Stehen kommt. Sie schaut mich kurz an, wie um mich zu fragen, ob das in Ordnung sei, dreht ihren Kopf wieder zum Kanal, den historischen Fassaden der Stadt, zum Wolkenhimmel. Es ist eine jener Mittelmeermöwen, mit weißem Federkleid an Kopf und Bauch und silbergrauen Flügeln, die an ihren Spitzen ein schwarzes Bandmuster haben. Die langen Beine, die Flossen und der Schnabel des Vogels sind gelb. Die Möwe dreht sich noch einmal zu mir um, legt leicht den Kopf zur Seite und schaut mich an. Ich schaue zurück, auch ihre dunkel umrandeten Augen wirken gelblich. Dann dreht sie sich wieder um und setzt sich hin, als würde sie sich zum Schlafen niederlassen wollen. Ich rauche weiter, und gemeinsam schauen wir uns Venedig an. Ich verspüre das Bedürfnis, ihr über das Federkleid zu streichen.

Die Grenze zwischen uns und den Tieren ist so viel unklarer, als wir immer glauben. Wir konzentrieren uns darauf, dass Tiere keine Vernunft haben. Die Frage sollte aber eher sein, warum uns das Leid mit ihnen verbindet. Was wir mit ihnen gemeinsam haben, ist unsere Verletzlichkeit. Wir teilen unser Ausgeliefertsein mit ihnen.53 Als sich die Möwe wieder zu mir umschaut, vermeine ich ihr Ausgeliefertsein sehen zu können. Sehen zu können, wie sie ihren Leidenschaften und ihrem Begehren folgt, ohne darüber nachzudenken. Wie treu ergeben sie ihrem Schicksal ist, auch wenn sie davon keinen Begriff hat. Und für einen kurzen Moment werden dieser Tag, diese Stadt, diese Arbeit der Trauer, diese Zeit mit all ihren Ereignissen und Bedrohungen bedeutungslos. Wir erkennen die glücklichen Momente im Leben nur selten. Dies könnte einer von ihnen sein.

Mir ist kalt geworden. Letztlich hat mich doch die Müdigkeit überkommen. Ich schaue noch einmal zur Möwe. Ich befinde mich schon im Gehen, als sich etwas in mir an einen großen Regenbogen erinnert fühlt, den ich nach dem Tod meines Vaters sah und der mir wie ein Zeichen von ihm vorkam. Es ist die gleiche Regung, die mich, immer wenn ich eine katholische Kirche besuche, Kerzen für ihn und meinen Bruder anzünden lässt. In diesem Augenblick habe ich das sichere Gefühl, die Möwe richte mir einen Gruß aus. Ich schaue sie ein letztes Mal an, hebe die Hand zu einem leichten Winken und grüße zurück.