Lenzerheide, Graubünden
1824
Im Alter von siebzehn Jahren durchtrennte Johann Friedrich Moser mit dem Messer, das er tagsüber zum Häuten von Tierkadavern benutzte, seinem ersten Sohn die Nabelschnur.
Die Mutter besass schon mehr Lebenserfahrung als der jäh zum Vater gewordene Jüngling: Eugenia war zweiundzwanzigjährig und hatte bereits die Pocken und die Franzosen durchgemacht. Doch auch für sie war es die erste Geburt, und als sie danach wie tot im von Fruchtwasser und Schweiss und Blut durchtränkten Stroh lag, war sich Johann Friedrich sicher, dass sie diese Tortur kein zweites Mal erdulden würde.
Aus dem Tal war eine zerfurchte Frau gekommen, die innerhalb eines Jahres ihren Mann und zwei Töchter verloren hatte und sich nun als Hebamme anbot, um etwas gegen den Tod zu unternehmen. Kaum war es da, kümmerte sie sich um das blutige Bündel, wusch es mit etwas gar kräftigen Handgriffen und wickelte es in das Lammfell.
Gebannt sah Johann Friedrich ihr zu und dachte, dass es fahrlässig gewesen war, diese vom Unglück umrankte Person ins Haus zu bestellen. Darüber vergass er völlig, sich um seine Frau zu kümmern, deren Schreie plötzlich verstummt waren. Erleichtert stellte er fest, dass sie blinzelte. Er trocknete mit seinem Hemdärmel ihr Gesicht, behutsamer, als die Hebamme das Kind gewaschen hatte, hielt ihre Hand fest, suchte nach Worten, fand keine.
Johann Friedrich Moser kannte sich mit toten Tieren und kaputten Kesseln aus, aber nicht mit Neugeborenen und Frauen, die eben entbunden hatten. Seit Eintritt der Wehen hatte er alles darangesetzt, sich an der Aufgabe zu beteiligen, und doch fühlte er sich die ganze Zeit hilflos, um nicht zu sagen: überflüssig. Ein Becher Wasser, ein liebes Wort, ein Streichen über die Wange – keine von seinen Handlungen war von wirklichem Nutzen gewesen. Eugenia hatte das gemeinsame Kind allein zur Welt gebracht.
So blieb sein wichtigster Beitrag zur gelungenen Geburt die Säuberung des Ziegenstalls. Schon Tage zuvor hatte er die drei Ziegen tätschelnd auf das Himmelsdach eingestimmt und sie auf die zugefrorene Wiese geführt, er hatte den Stallboden gewischt, mit heissem Wasser geschrubbt und grosszügig mit Stroh belegt. Eugenia konnte sich am Tag der Niederkunft über die Schmerzen, über Gott und dessen ganze Natur beklagen, nicht aber über die liebevoll vorbereitete Geburtsstätte.
Später trug Johann Friedrich seine erschöpfte Frau vom Stall in die Stube. Die Hebamme brachte das Kind, legte es der Mutter auf die Brust, und zu Johann Friedrichs Entsetzen verabschiedete sie sich daraufhin. Sie wollte ihn bereits allein mit den beiden lassen? Aber das Kind lebte, die Mutter auch, und die Hebamme gab sich hoffnungsvoll, dass sich daran über Nacht nichts ändern würde.
Nachdem sie gegangen war, setzte er sich an die Bettstatt und hörte, wie das Kind atmete – sein Sohn, der noch kaum etwas anderes konnte als atmen. Er sollte Johann Friedrich heissen, was er angesichts der geringen Strapazen, die er im Vergleich zu seiner Frau erlitten hatte, etwas ungerecht fand. Es war eine Ehre, die er im Grunde nicht verdiente. Aber was wollte man, das Kind war nun mal ein Junge und kein Mädchen. Eugenia drehte den Kopf zum Mond, der im Fensterrahmen hing, da fiel ihm ein, dass man den Jungen auch Eugen hätte nennen können. Eugenias Vater hiess so und hatte ihr den Namen damals aus Verzweiflung gegeben, da er keine Söhne bekam. Mit einem Eugen hätte man die missglückte Familiengeschichte wieder einigermassen zurechtgebogen. Allerdings konnte man sich auch nicht alle Probleme der Vorgeneration aufhalsen. Er bemerkte, dass er an einem Eugen viel weniger Freude gehabt hätte als an einem Johann Friedrich – und dass er den Namen seines Sohnes wohl zur Bestimmung erhoben hatte, um sein Gewissen zu entlasten. Eine Weile noch hörte er dem beständigen Atem zu, und plötzlich bekam er Angst.
Leise stahl er sich aus der Stube und schritt hinaus in die kalte Novembernacht. Aus einem Hohlraum im Vordach zog er die Flasche Kräutergeist hervor, die er sich für aussergewöhnliche Tage aufbewahrte. Er hielt sie gegen den Mond und stellte erschrocken fest, wie tief der Pegel stand, dabei hatte es in vergangener Zeit kaum aussergewöhnliche Tage gegeben. Vielmehr hatte er aus fadenscheinigen Gründen die gewöhnlichsten Tage zu aussergewöhnlichen erklärt. Heute aber musste er sich nichts vormachen: Noch bevor er sich auf die Bank setzte, nahm er einen grossen Schluck und – da sich das recht gewöhnlich anfühlte – gleich noch einen.
Ruhe und Dunkelheit hatten sich über das Land gelegt. Ein paar Holzpfähle, die im Sommer einen Zaun bildeten, steckten teilnahmslos in der Erde. An den Abhängen rundherum zeichneten sich die Umrisse dunkler Wälder ab, und unten im Tal lag ein Schimmer auf dem Vazersee.
Es war alles schnell gegangen. In einer Spelunke in Bregenz war er ihr letzten Herbst auf den Fuss getreten, einer Frau mit pechschwarzem Haar und himmelblauen Augen. Sie hatten zusammen einen Krug Wein getrunken, dann getanzt zu den verträumten Liedern eines Barden, und dann waren sie ein paar Tage gemeinsam durch Kälte, Wind und Regen marschiert bis zur Lenzerheide, wo Johann Friedrichs Vater einst einen Stall gebaut hatte. Es gefiel ihm, sie bei sich zu haben, und sie sah offenbar über sein junges Alter hinweg, weil er recht kräftig war vielleicht und bereits Bartwuchs aufwies. Sie hatten nie über sich und die Zukunft gesprochen. Sie war einfach bei ihm geblieben, und jetzt waren sie eine Familie. Es war schnell gegangen.
Als die Flasche leer war und er immer noch Tatendrang hatte, nahm er die Mundharmonika aus der Hemdtasche. In die Stille spielte er eine Melodie, die er schon von seinem Vater gehört hatte, und der hatte sie einst auf Wanderschaft aufgeschnappt, in einer Gaststätte im Piemont oder von Vagabunden in den Vorarlberger Wäldern. Es war eine schöne Melodie, die ihn glücklich machte, die ihn traurig machte, beides zur gleichen Zeit, weshalb er nicht wusste, ob er weiterspielen sollte. Er versuchte, sein Spiel ein wenig abzuändern, und schon klang die eben noch schöne traurige Melodie schief, doch die Melancholie blieb in der Luft, und Johann Friedrich fürchtete, dass nicht allein die Melodie schuld daran war.
Er richtete den Blick nach oben und sah die sieben hellen Sterne, die in der immergleichen Anordnung leuchteten, als wären sie miteinander verkettet. Es war der Grosse Wagen, der beständig wie der Mond seit Urzeiten über den Nachthimmel fuhr, und da wurde Johann Friedrich vom Gefühl getragen, dass auch er von nun an mit allem verbunden war. Er war ein Teil der ewigen Kette geworden, das Mühlrad, auf das alle Schicksale seiner Vorfahren zuflossen und aus dem alle Schicksale seiner Nachkommen herausströmten. Er hatte die Fäden der Vergangenheit mit jenen der Zukunft verwoben, in den Lauf der Geschichte eingegriffen, das Universum verändert. Und jetzt sah er die abertausenden Sterne am Himmel funkeln, wie von einer mächtigen Hand hingeworfen, um den Menschen eine leise Ahnung des Mysteriums zu geben, unter dessen Schleier sie lebten und starben. Johann Friedrich atmete fiebrig, die Kälte schnitt ihm in die Kehle, und als er an den Sternen vorbei in die Unendlichkeit sah, spürte er das Gewicht des ganzen Weltalls auf seinen Schultern.
Benommen vom Schnaps und von der Schwere, die auf dem ganzen Tal lastete, hörte er eine Stimme. Sie klang zart und allwissend und trug ihm auf, den Hang hinunterzumarschieren, in Richtung Süden zu ziehen und nicht mehr zurückzukommen. Johann Friedrich liess die Stimme, liess die Gedanken zu, er stellte sich vor, den Hof zu verlassen, jetzt sofort, und mit ihm die Arbeit, die Frau, das Kind, die Vergangenheit und die Zukunft, um draussen in der Welt jemand zu werden, den es noch nicht gab. Oder der zu sein, der er wirklich war.
Er stand auf und schwankte zum nahen Schuppen. Ein Rabe flatterte krächzend vom Dach, als Johann Friedrich die knarrende Tür aufmachte. Er trat hinein ins Fliegengesurr, hob die frischgeschliffene Truhe auf und brachte sie hinaus ans Mondlicht.
Er öffnete den Deckel. Dutzende Knochen lagen darin, die er sorgfältig gehäutet, abgefleischt und gekocht hatte. Eine Rindermittelhand, ein Ziegenhorn, ein Marderschädel, ein Pferdehufbein, Schweinezähne, Fuchsrippen, Hundespeichen, ein beinahe vollständiges Rattenskelett ... Das war das Leben, dachte er, das Leben auf Erden. Sein Sohn würde Freude daran haben. Schon bald. Johann Friedrich nickte und versorgte die Truhe wieder im Schuppen. Sein Atem hatte sich beruhigt.
Hinter dem Ziegenstall fand er die Ziegen. Schutzsuchend hatten sie sich gegen die Wand gedrückt und dämmerten so dicht beieinander dahin, dass sich ihre Hörner beinahe verkeilten. Froh darüber, dass alles vorbei war, führte er eine Ziege nach der anderen zurück in den Stall. Sie meckerten dankend.
Er ging wieder in die Hütte und warf ein Holzscheit ins Feuer, damit die Stube bis zum Ende der Nacht warm blieb. Seine Frau und sein Sohn erholten sich in tiefem Schlaf. Johann Friedrich blieb stehen und betrachtete die beiden, während Licht und Schatten der Flammen über ihre Gesichter zuckten. Der Kleine verzog leicht den Mund und spreizte die Finger, als würde er träumen, und Johann Friedrich fragte sich, ob das möglich war, ob man nicht zuerst die Welt kennenlernen musste, bevor man träumen konnte, oder ob man schon mit Träumen geboren wurde. Eugenia regte sich nicht. Mit beinahe ebenso zarten Zügen wie ihr knapp zwei Stunden altes Kind lag sie da, so verloren auf der Welt wie er vorhin unter dem Grossen Wagen und den unendlich vielen Sternen. Ein kleiner schwarzer Falter landete auf ihrer Stirn, und als Johann Friedrich ihn behutsam fortwischte, spürte er ihre Wärme, ihren Puls und ihre Hoffnungen. Seine Melodie auf der Mundharmonika war verklungen, der Kräutergeist hatte seine Kraft verloren, und nie hatte es eine Stimme gegeben, die ihn auf Abwege zu bringen versuchte. Er liess sich nieder, legte den Arm um die beiden und schlief überwältigt vor Glück bald ein.