Obervaz, Graubünden
1844
Die Tränen des Vaters waren ihm schleierhaft. Ein weinender Mann war schon seltsam genug, aber noch weniger verstand Paul Fidel die Ursache. Es war doch alles Vaters Idee gewesen, Vaters Wille, und Paul Fidel hatte sich ohne zu fragen gefügt. Wenn der Vater nicht wusste, was das Richtige für seinen Sohn war, wer dann? Gewiss, ein halbes Jahr bestand aus einer unvorstellbaren Menge an Tagen. Doch als der Vater ihm auf dem gescheckten Rücken eines Kalbs, der als Landkarte diente, die Weiten der Welt erklärt hatte, begriff Paul Fidel, dass er ein Grosser werden konnte. Eine Reise in den Norden, durch ferne Länder und prächtige Landschaften bis ans Schwäbische Meer und das sagenumwobene Schwabenland – es war ein Abenteuer, das Helden schuf. Und nun stand der Vater so gebrochen da, als wäre wieder eines seiner Tiere gestorben.
Auf den Bergen lag noch viel Schnee und im Tal sammelte sich der Nebel, als rund dreissig Kinder aus verschiedenen Bündner Dörfern fortzogen in einen ungewissen Sommer. Unter Paul Fidels Gefährten befanden sich Buben, die gar nicht viel kräftiger aussahen als er, und sogar Mädchen – so hart konnte das Unterfangen also nicht sein. Die Reisegemeinschaft wurde von einer älteren, gleichwohl stämmigen Frau angeführt. Allein ihre zerfetzten Stiefel erzählten Legenden von endlosen Märschen, und die Entschlossenheit, mit der sie voranstapfte, duldete keine Saumseligkeiten. Auf dem ersten Teilstück wagte es niemand, das von ihr wortlos verordnete Schweigen zu brechen. Bald aber fing sie mit einer überraschend tiefen Stimme an zu beten, und ein strenger Blick über die Schulter gebot der ganzen Prozession, ihre Bitten im Chor zu wiederholen. Glorreicher Erzengel Raphael, du grosser Fürst der himmlischen Heerscharen! Du gütiger Arzt Gottes! Du Schutzengel der Reisenden! Mit deinem Lichte erleuchte uns! Mit deinem Heilmittel heile uns! Mit deinen Flügeln beschütze uns!
Behütet hinter dem Schild aus Worten durchstreiften sie den Landstrich, ein unbarmherzig voranschreitendes Gebet, doch Paul Fidel dachte dabei weder an den Erzengel Raphael noch an die Worte, die ihm wie von selbst über die Lippen kamen. Er dachte an Vater und Mutter, an seine Kälber, den Vazersee und das Lenzerhorn – die Welt, die er kannte, schien hinter ihm unterzugehen. Und wer war er ohne seine Welt? So ähnlich, vermutete er, fühlte man sich nach dem Tod. Aber der Kummer in ihm tobte, die Füsse schmerzten und trugen ihn in die Fremde, wo er als Fremder weiterlebte.
Bedrohlich erhoben sich zu beiden Seiten die schneebedeckten Berggipfel, aus dem Ausland wehte ihm ein kühler Wind ins Gesicht, und der stetig abfallende Weg, der hinter der linken Talseite verschwand, führte geradewegs in den Abgrund.
Doch kurz darauf öffnete sich die Landschaft und der Frühling kehrte ein. Schon aus einiger Entfernung erblickte er auf dem sonnenbeschienenen Feld ein Mädchen. Es konnte auch eine junge Frau sein. Versunken pflückte sie Blumen und sammelte sie in einem Korb. Sie trug einen blauen Rock, dessen Saum beim Gehen über das Gras strich. Honigfarbenes Haar fiel ihr bis zur Hüfte über den Rücken. Paul Fidel war fasziniert. Er, der sich bereits nach allem Vertrauten sehnte, witterte in der Blumenpflückerin zumindest etwas, das er mit der Heimat verband. Oder gefiel ihm einfach, was er sah? Gefielen ihm die Blumen, die glutroten Blüten, mit denen die Wiese gesprenkelt war, gefiel ihm gar das Mädchen, das die Blumen sorgfältig zupfte und in den Korb legte? Endlich vernahm sie die anmarschierenden Stimmen, drehte sich zum Weg hin um, blieb aufrecht stehen. Sie wischte sich eine Strähne hinter das Ohr, die ihr an der Wange klebte. In der Hand hielt sie eine einzelne Blume, Mohn möglicherweise, ein Blütenblatt löste sich und schwebte davon.
Es war der Korb. Ein grosser, fein geflochtener Korb mit zwei runden Henkeln, und mit dem Korb erkannte er auch sie. Ihm schauderte. Lange hatten sie ihn in seinen Träumen heimgesucht, diese sonderbaren Gestalten mit dem hellen, fast weissen Haar, als hätte der Wahnsinn sie allesamt gebleicht: der versoffene Schinder, der sein Pferd auf dem Gewissen hatte, die drei Söhne mit den Gifttränken – und die kleine Kräutersammlerin.
Sie war grösser geworden, natürlich, der Körper runder und das Gesicht weniger rund, das Haar etwas dunkler. Eigentlich war sie damals ganz nett gewesen, doch er hatte ihr niemals getraut, sie war eben trotzdem eine Moser, und wie viele Schauergeschichten hatte er über die Moser inzwischen gehört!
Der Weg führte dicht an ihr vorbei. Wenige Schritte trennten Paul Fidel noch von ihr, einige Fuss, zwei Armlängen. Doch immerfort starrte er sie an, so ungehemmt, wie man einen Baum anstarrt oder eine schlafende Kuh.
Plötzlich liess sie die Blume fallen, erhob die Hand und winkte. Und da sie ihn dabei ansah, ihre Augen stets seinem Gang folgten, war es offensichtlich, dass sie nicht dem ganzen Kinderzug zum Abschied winkte, sondern ihm allein. Paul Fidel war darüber so verblüfft, dass er wegsah, dass er so tat, als hätte er sie nicht bemerkt. Sie existierte nicht, hatte nie existiert, er wollte Frieden.
Dann sah er doch zurück. Sie hatte den Blick von ihm gelöst, kniete sich hin und hob die fallengelassene Blume wieder auf. Und aufgewühlt entschied er für sich, dass er höchstens eine unbekannte Blumenleserin gesehen hatte, vielleicht aber auch nur ein wunderliches Trugbild.
«Trinkt!», rief die Anführerin, «trinkt alle! Sonst fallt ihr bald vor Erschöpfung um», und beinahe hätte Paul Fidel die Worte nachgebetet. Er sah, wie sie sich über ein Brunnenbecken beugte und Wasser aus der hohlen Hand schlürfte. Ohne zu zögern gehorchte er, obwohl er noch keinen Durst hatte, und auch keines der anderen Kinder schien die Anweisung der Anführerin anzufechten: Alle tranken, um nicht bald vor Erschöpfung umzufallen. Dann marschierten und beteten sie weiter.
Allmählich fand Paul Fidel die beharrliche Beterei sinnvoll. Nicht ihres Inhalts wegen, zumal die Forderungen an den Erzengel immer obskurer wurden – er verstand längst nicht mehr, was genau man von ihm verlangte. Doch die Gebete verunmöglichten jegliches Gespräch, schützten ihn vor unliebsamen Unterhaltungen, das wusste er zu schätzen. Er zog seine eigenen den fremden Gedanken vor, und seine eigenen Gedanken behielt er lieber für sich.
Sie kamen zu einer Schlucht. Vor langer Zeit war hier die Landschaft entzweigerissen worden, und immer noch klaffte sie auseinander wie eine tiefe, nie verheilte Wunde der Erde. Das musste sie sein, befürchtete Paul Fidel, die Naturgewalt, deren Name wie eine liebliche Apokalypse klang: die Rabiosa.
«Verwunde unser Herz durch die brennende Liebe Gottes!», rief die Anführerin, während sie hoch über der Schlucht den Pfad entlangstiefelte, ohne die Geschwindigkeit zu drosseln. Die meisten Kinder hielten Schritt, allerdings auf Kosten des Nachbetens.
«Und lass diese Wunde nie heilen!», rief sie auf einer schmalen Brücke, die sich auf beiden Seiten der Schlucht an die Felswand klammerte. Paul Fidel wagte einen Blick hinab in den dunklen Spalt, aus dem das Ansinnen der Anführerin widerhallte.
«Damit wir immer auf dem Weg der Liebe bleiben!» Der nächste Ausruf vermischte sich mit dem noch nicht verklungenen Echo und löste ein weiteres, noch kräftigeres Echo aus. Die Anführerin, in ihrer Litanei nun von sämtlichen Kindern im Stich gelassen, hörte sich an wie ein Chor, dessen Stimmen sich in der Schlucht sammelten, um mit aller Macht ins Gottesreich geschleudert zu werden. Paul Fidel geriet ins Straucheln, die Brücke unter seinen Füssen schaukelte, schwebte, fiel –
«Und durch die Liebe alles überwinden!»
– bis er eine Hand in der seinen spürte, die ihn sicher auf die andere Talseite geleitete.
Sie hatte kupferrotes Haar und eine merkwürdig gespaltene Oberlippe. Paul Fidel versuchte zu ergründen, was gerade geschehen war. Das Mädchen hatte ihn ungefragt bei der Hand genommen, und er hatte nichts dagegen getan. Er musste ohnmächtig geworden sein. War er gestürzt? Er fand keine Schürfungen, keine Schmerzen, keine Erinnerung. Hinter ihm hing die Brücke wie ein Foltergerät in der Luft. Es war unschwer zu erkennen, dass man sie entweder mit höchster Konzentration passierte – oder gar nicht. Hatte das Mädchen ihn vor einem Unglück bewahrt? Er traute sich nicht, sie zu fragen. Beschämt darüber, dass sie mehr über ihn wusste als er selbst, gelangte er zum vorläufigen Schluss: Etwas war geschehen.
«Es kommen keine weiteren Schluchten», sagte sie leise.
Er sah sie fragend an.
«Ich war schon zwei Mal im Schwabenland. Jetzt wird es flacher.»
Das beruhigte ihn einerseits, andererseits dämpfte es ein wenig sein Gefühl, sich auf grosser Entdeckerfahrt zu befinden.
Inzwischen bildeten sie den Abschluss des ganzen Zugs. Hier konnte man sich das Mitbeten sparen, es war nutzlos, die Anführerin war weit weg. Allerdings konnte man sich nun unterhalten.
Sie erzählte ihm, dass sie Lina hiess. Fünfzehn war. Aus Savognin kam. Dann sah sie ihn auffordernd an.
Paul Fidel. Vierzehn. Obervaz. Noch war ihm das Gespräch nicht geheuer.
«Ein schöner Name», sagte sie lächelnd.
Und er lächelte schüchtern zurück.
Was wollte sie? Warum gab sie sich mit ihm ab? Er dachte nach. Sie wirkte – echt. Nichts an ihr war falsch. Er nahm sich vor, freundlicher zu ihr zu sein. Sollte er sie etwas über das Schwabenland fragen?
«Hat man im Schwabenland viel Heimweh?», fragte er.
«Du hast jetzt schon Heimweh, nicht wahr?»
Wie konnte er nur so dumm sein. Heimweh gehörte sich nicht, schon gar nicht nach kaum zwei Stunden, doch Vaters Tränen leuchteten ihm längst ein, und jetzt hatte er sich mit einer unbedachten Äusserung selber in die Bredouille gebracht.
«Ein halbes Jahr dauert eine Ewigkeit», sagte er, um seine Würde noch halbwegs zu retten.
«Du darfst nicht immer an zu Hause denken. Dann dauert die Ewigkeit nur ein halbes Jahr.»
Aus ihrem Mund hörte sich das ganz einfach an, und sie musste es ja wissen. Er versuchte, das Thema zu wechseln und seiner Stimme einen sorglosen Klang zu geben: «Ist es schön im Schwabenland?»
«Du musst zu einem guten Bauer gehen», sagte sie, «dann wird alles gut.»
«Und wie weiss ich, ob ein Bauer gut ist?»
«Mit deinem Gefühl. Und schau hin, ob er ein Kreidezeichen auf dem Rücken hat.»
«Ein Kreidezeichen?»
«Ja. Wer einen schlechten Bauer hatte, macht ihm im nächsten Jahr heimlich ein Zeichen auf den Rücken. Damit die anderen Kinder ihn meiden.»
Paul Fidel hörte ihr aufmerksam zu, sagte aber nichts mehr. So viele Sachen fielen über einen herein, wenn man mit jemandem sprach. Irgendwann brauchte man wieder Stille, um sich mit allem auszusöhnen. Es gab also gute und schlechte Bauern, das bedeutete für einen Unheilspropheten wie Paul Fidel vor allem, dass es auch schlechte Bauern gab. Schon dachte er wieder an den Schinder von der Lenzerheide, und dass die Welt da draussen voller finsterer Gestalten war, vermutlich auch oder gerade im Schwabenland. Aber obwohl es Lina war, die ihn mit ihren Auskünften beunruhigte, dachte er gar nicht daran, sich wieder von ihr zu entfernen, und wenn er hinter ihr herlief, betrachtete er hingerissen das rote Band, das ihr Haar zusammenhielt.
Gegen Abend schritten sie durch die Tore Churs. Die Häuser standen hier so dicht nebeneinander, dass sie sich die Mauern teilten, und während die Anführerin ihr Gefolge durch die Gassen lotste, erhielt Paul Fidel einen Einblick in die Sitten der Stadt. Vor einer Schänke sass ein pausbäckiger Mann auf einem Fass, reckte seinen Becher in die Luft und sang. Ein Junge zog seinen Milchkarren durch den Dreck und ging an einer Greisin vorbei, ohne sie zu grüssen. Ein Hund trank aus einer Pfütze. «Die Schwabenkinder kommen», klang es aus einem Fenster, eher abschätzig als bewundernd. Paul Fidel war froh, als dieser Spiessrutenlauf bei der Standeskanzlei ein Ende fand. Der Reihe nach musste jedes Kind vor einen Mann treten und ihm Name, Alter und Herkunft nennen. Er hatte saubere Hände und war offenbar sehr intelligent – selbst komplizierte Ortschaften wie Marmorera oder Tschiertschen schrieb er umgehend auf, ohne eine Miene zu verziehen. Als Paul Fidel das Schriftstück in den Händen hielt, das ihm die Türen zur Welt öffnete, erstrahlte über seinem Haupt der Stolz des Vaters. Er studierte die eben erst getrockneten Schwünge, die mutmasslich seinen Namen bedeuteten, versuchte, sie zu entwirren und den Zeichen einen Laut zuzuordnen, da hörte er in seinem Rücken etwas Eigenartiges.
Carina, sagte Lina mit gedämpfter Stimme, Carina Casaulta. Vierzehn. Aus Lumbrein.
Paul Fidel drehte sich um und sah, wie sie den Pass zwei Mal faltete und in der Rocktasche verschwinden liess.
«Carina?», fragte er überrascht, ohne vorher zu überlegen, ob er fragen sollte.
Eine Eiseskälte trat in ihre Augen, doch dann sah sie ertappt zu Boden und hielt sich den Zeigefinger senkrecht vor den Mund.
Er war erleichtert. Die Geste zog ihn ins Vertrauen. Lina. So würde er sie weiterhin nennen, denn er hatte den unsinnigen Verdacht, sie schon ewig zu kennen, sie war der Engel an seiner Seite, der Engel mit der zarten Hand, der gespaltenen Lippe und dem roten Band im Haar, sie war Lina, und würde sie sich plötzlich in etwas anderes verwandeln, verwandelte sich die ganze Welt. Lina also führte etwas im Schilde, und sobald sich die Gelegenheit dazu ergab, würde sie ihm alles erklären.
Zur allseitigen Enttäuschung verliess man die Stadt, ohne irgendwo zum Abendessen einzukehren. Auch Lina beklagte leise, im Jahr zuvor habe es in Chur noch ein Stück Brot gegeben, und schon fragte sich Paul Fidel, wie viele Schluchten man wohl noch überqueren musste.
Der Tag hatte sich bereits hinter die Berge zurückgezogen, als die Kinder hungrig und entkräftet den Fluss entlangmarschierten, der sich endlos durch die Gegend bahnte, doch die verstummten Gebete der Anführerin gaben Anlass zur Hoffnung, dass auch ihr langsam die Luft ausging. Als man sich vom Flusslauf trennte und auf das mächtige Bergmassiv zusteuerte, begann einer der kleineren Jungen herzhaft zu weinen und sprach damit der ganzen Gruppe aus der Seele. Doch dann wurde am Fusse der Felswand erst ein helles Fenster sichtbar, und bald das ganze Haus.
Man erwartete sie im Essraum mit einer Mehlsuppe. Sie war ekelhaft und trotzdem köstlich. Alle rümpften nach dem ersten Löffel die Nase. Alle nahmen einen zweiten Teller.
«Danke», sagte Paul Fidel zu Lina und schaffte es nicht, sie dabei anzusehen. Seine Schüchternheit, die er schon ein wenig abgestreift zu haben glaubte, war zurückgekehrt. Draussen und bei Tag war es einfacher gewesen. Draussen betteten sich die Bewegungen, die man machte, in die Landschaft ein, und was man sagte, verklang rasch im Wind. Jetzt sassen sie sich eine Tischbreite entfernt gegenüber, konnten einander das Gesicht erkunden, und das Licht der Kerze, die zwischen ihnen stand, bildete einen eigenen Raum, einen kleinen fragilen Kosmos – hier war jeder Blick ein Blick, jedes Wort ein Wort.
«Wofür?»
«Dass du mir das Leben gerettet hast.» Er raufte sich zusammen und sah sie an, eine ganze Sekunde lang. Quälte sich, berauschte sich. Zwei Sekunden. Er litt und fieberte, dass ihm wieder schwindelte. Drei – genug. Sie war etwas Besonderes. Für ihn. Und als Beweis dafür wollte er ihr sein Leben verdanken, wollte den Zauber besiegeln, der zwischen ihnen entfacht war. Er wollte, dass ihre Hand über sein künftiges Schicksal bestimmte.
Sie sagte nichts. Vielleicht sah sie alles genauso.
Bevor den ersten Kindern am Tisch die Augen zufielen, wurden sie auf ihre Zimmer beordert, die Mädchen in den ersten Stock, die Buben in den dritten. Paul Fidel liess sich erschöpft auf einen Strohsack fallen, doch wie hätte er jetzt schlafen sollen? Er hatte an einem Tag mehr erlebt als in einem Jahr. Er hatte zwei Mädchen in die Augen gesehen.
Die Blumenpflückerin. Natürlich war es nicht bloss eine Blumenpflückerin gewesen, sondern das Schindermädchen, langjährige Heldin seiner Albträume. Und natürlich würde er sie nicht vergessen, so wie er auch sonst nichts vergass. Er wusste, dass all seine Erlebnisse in ihm aufgezeichnet wurden wie in einem Buch. Aber er war jetzt stark genug. Er war ein Abenteurer. Ohne Eltern war er zu einer gefährlichen Reise aufgebrochen, hatte eine Schlucht überquert, in deren Rachen der Teufel wohnte oder sogar ein Drache, und kurz vor dem Fall ins Totenreich kam ein Engel, der wollte, dass er lebte, sein Engel Lina – er hatte wirklich grosses Glück gehabt.
Als die anderen Buben um ihn herum zu schnarchen begannen, stand Paul Fidel auf. Er hatte Durst. Er schlich aus dem Zimmer, die Treppe hinunter in den zweiten Stock, wo vermutlich die Anführerin schlief. Er horchte an einer Tür. Es war still. Er schlich die Treppe hinunter in den ersten Stock, horchte an der Tür und stellte sich vor, wie Lina dahinter lag und schlief und vom vergangenen Tag träumte. Es war still. Er ging weiter, hinab ins Erdgeschoss.
Auch im Essraum war es still, doch da war jemand. An einem Tisch sass die Anführerin. Vor ihr standen ein Krug und eine Kerze, die ihr Gesicht beflackerte. Paul Fidel blieb stehen und versteckte sich hinter dem Türrahmen. Er sah, wie sie einen Schluck aus dem Krug trank und ein Schaumstreifen über ihrem Mund kleben blieb. Trank sie ernsthaft ein Bier? Ansonsten tat sie nichts. Sie sass da und starrte mit versteinertem Gesicht in die Kerze. Ein Schauer lief Paul Fidel über den Rücken. Er sah nicht mehr die strenge und gottergebene Anführerin mit der tiefen Stimme. Er sah eine einsame Frau, die sich zwischen Graubünden und dem Schwabenland verloren hatte, gepeinigt vom Schmerz, vom Allmächtigen im Stich gelassen. Sie war, dachte Paul Fidel nun, eine arme Seele, die keinen Frieden fand.
Verstört eilte er zurück auf sein Zimmer und legte sich hin, immer noch durstig zwar, aber froh darum, dass für ein paar Stunden nichts mehr passieren würde.
Am nächsten Tag betrat die Reisegemeinschaft ein neues, unbekanntes Land: Liechtenstein. Nachdem man angeblich die Grenze überschritten hatte, machte sich bei Paul Fidel Enttäuschung breit. Alles sah genau gleich aus wie in der Schweiz, die Landschaft, die Häuser, sogar die Leute. Der Fleck auf dem Rücken des Kalbs hatte vielversprechender ausgesehen. In Balzers forderte die Anführerin, seit Tagesanbruch wieder unverwüstlich, die Kinder zum Betteln auf. Kaum hatte sie ihren Blick abgewandt, nahm Lina Paul Fidel erneut an der Hand und zog ihn in eine Seitengasse, und dieses Mal war es anders, dieses Mal geschah es ganz ohne Not. Sie setzten sich auf eine Mauer am Rand eines Bachs, der durch die Stadt floss, zogen ihre Schuhe und Socken aus und staunten über die Blasen, die wie Pocken aus ihren Füssen stiessen. Dann tauchten sie die Füsse ins eiskalte Wasser und teilten sich die letzte Birne, die Linas Mutter ihr mit auf die Reise gegeben hatte.
«Wie heisst du denn nun?», fragte er mit vollem Mund. «Lina oder Carina?»
«Ich heisse Bigna.»
Das nun war schwer zu begreifen.
«Ich wollte dir meinen richtigen Namen nicht sagen. Und ich wollte dir auch meinen falschen Namen nicht sagen.»
Er kaute auf einem Stück Birne.
«Ich bin Bigna. Aber im Pass bin ich Carina.»
«Und Lina?»
«So heisse ich nur für dich.»
Der Bach umspülte wohltuend ihre Blasen, und als sich ihre Füsse unter Wasser berührten, versuchte Paul Fidel, sein Herzklopfen vor ihr zu verbergen.
«Ich verrate dir jetzt ein Geheimnis», sagte sie. «Aber du musst es für dich behalten. Versprochen?»
Ein Geheimnis und ein Versprechen, das waren grosse Worte. Paul Fidel erinnerte sich nicht, jemals in so klandestines Wissen eingeweiht worden zu sein.
«Ich komme nicht mehr zurück. Ich bleibe für immer im Schwabenland.» Sie schob den Ärmel ihres Mantels nach hinten und zeigte Paul Fidel ihren nackten Unterarm. Er war voller blauer Flecken. «Wenn mein Vater nichts zu essen hat, dann trinkt er. Und wenn er trinkt, dann schlägt er mich. Doch jetzt schlägt er mich nie mehr. Paul Fidel?»
Er blickte auf die blauen Flecken und spürte den Schmerz.
«Geht es dir gut?»
Sie legte ihre Hand auf seine Schulter. Der Schmerz wurde noch grösser.
«Wirst du denn niemanden vermissen?», fragte er leise. «Deine Mutter? Deine Geschwister?»
Darauf verfinsterte sich Linas Gesicht und sie sagte nichts mehr.
Während der nächsten Tage sprachen sie nicht mehr über Linas Pläne. Die Reise war hart und beschwerlich, und doch fürchtete Paul Fidel, je näher man dem Ziel kam, ihr Ende. Recht gut gefiel ihm das Schloss in Vaduz, das hoch über der Ortschaft thronte, und doch wartete er beim Anblick des Fürstenpalasts vergeblich auf die erstrebte Euphorie. Die reichhaltigste Mahlzeit gab es in der Pilgerstube des Klosters in Feldkirch, wo die Kapuziner Brot, Früchte und Wein auftischten, den sie allerdings restlos selber tranken. Ansonsten hatte man die Kraft aus ermüdenden Gebeten zu schöpfen. Nach fünftägigem Marsch erreichte die Gemeinschaft das Schwäbische Meer bei Bregenz.
Das Meer war riesig, es erstreckte sich bis an den Horizont, und gegenüber konnte man kein Ufer sehen. Im Hafen schwebte ein riesiges Schiff auf dem Wasser. Zwei hohe Masten und ein Schornstein schwankten im nassgrauen Himmel, auf dem Deck stand ein Mann, von Rettungsringen flankiert, und hielt sich mit beiden Händen am Geländer fest. Mit Bedenken ging Paul Fidel über den Steg an Bord, doch nachdem er sich vergewissern konnte, dass das schwere Schiff aus unerfindlichen Gründen nicht im Wasser versank, auch dann nicht, als es sich langsam in Bewegung setzte, begann ihm die Schifffahrt zu gefallen.
Staunend beobachtete er, wie sich der Bug durch die Wellen pflügte, wie die Möwen nebenher in der Luft hingen und der Wind mit Linas Haaren spielte. Über die Reling gebeugt genossen sie es eine Weile, ganz ohne Anstrengung voranzukommen, bis Lina Paul Fidel mit einer Kopfbewegung dazu aufforderte, ihr zu folgen.
Eine Treppe führte die beiden hinab in den Bauch des Schiffes. Sie passierten eine Tür, gingen einen engen Gang entlang, in den kaum Tageslicht drang, öffneten eine weitere Tür und traten in die vollkommene Dunkelheit. Paul Fidel war es, als wären sie im Nichts angelangt. Sie hatten die Wirklichkeit verlassen.
«Bald werden sich unsere Wege trennen.» Ihre Stimme klang ganz nah und doch fern. «Und vielleicht werden wir nie mehr ungestört zusammen sein.»
«Aber», sagte er und schwieg.
«Ich möchte dir etwas schenken.»
«Was denn?»
«Eine Erinnerung.»
Er hörte nur noch seinen eigenen Atem, er hielt ihn an, und wie ein Traumwandler tastete er in der Dunkelheit nach ihr. Endlich fand er sie, spürte ihre kalten Hände, ihre Finger, und einen feinen Stoff, den sie ihm reichte.
«Schliess die Augen.»
Er schloss die Augen.
«Und jetzt öffne sie wieder.»
Er öffnete sie wieder.
«Es gab keinen Unterschied, nicht wahr? Das bedeutet: Wann immer du die Augen schliesst, ist wieder jetzt.»
Und dann zog sie ihn an sich, er versank in ihren Armen, in einer Flutwelle der Verwirrung, in einem Meer von Glück, in dem er ertrinken wollte, doch noch lebte er, jetzt erst lebte er, und bevor er unterging, fühlte er ihren warmen Atem an seinem Hals, strich mit der Handfläche über ihr Haar, und plötzlich, ganz schüchtern, beinahe verängstigt vor so viel Aufregung, trafen sich in der Finsternis ihre Lippen.
Von da an wusste Paul Fidel, wovon sein Vater gesprochen hatte. Ein Abenteuer. Ein Held. Eine Reise in ein verwunschenes Land. Und dass er nicht seekrank geworden war und sich das Wunder unter Deck bloss herbeigeträumt hatte, bewies ihm das rote Band, das er geschenkt bekommen hatte. Engel Linas Haarband – er wagte kaum, es mit seinen schmutzigen Fingern zu berühren, aus Angst, die vergangenen Tage nachträglich zu trüben.
Sie hatte recht gehabt. Es war die letzte Gelegenheit gewesen, ungestört zusammen zu sein. In Friedrichshafen trafen sie auf weitere Gruppen, die ebenfalls aus der Schweiz, aus Liechtenstein, Vorarlberg oder dem Tirol im Anmarsch waren. Die Stimmung unter den Kindern wurde angespannter. Viele Gerüchte über das Auswahlverfahren machten die Runde. Wer gross und kräftig sei, koste natürlich mehr und werde daher von den gutbetuchten Bauern erstanden. Die ausgemergelten Kinder kämen auf ebenso ausgemergelte Höfe. Die Liechtensteiner seien nicht sehr beliebt, da sie die kürzeste Anreise hatten und sich kaum Durchhaltewille erwarben. Die Kinder hingegen, die sich über den verschneiten Arlbergpass gekämpft hatten, nehme man gerne, da sie über eine hervorragende Härte verfügten. Über die Schweizer gebe es geteilte Meinungen. Die einen schätzten sie als tüchtige Arbeiter, die anderen mieden sie, weil sie einen nicht verstanden und die Aufträge immer nach eigenem Gutdünken ausführten.
Am siebten Tag liefen Paul Fidel, Lina und ihre Bündner Gefährten auf den Marktplatz von Ravensburg ein. Und sofort wurden sie Teil der Hektik, die dort herrschte. Alles war in Bewegung, nirgendwo gab es Platz, überall Kinder und Bauern, Weinen und Gelächter, die Buben hierher, die Mädchen daher, Gedränge, Stösse, ein Schlag in den Rücken, Paul Fidel stürzte zu Boden, jemand trat ihm auf den Arm, er schrie auf, ein älterer Junge half ihm, und als er wieder auf den Beinen war, fand er Lina nicht mehr, er wollte nach ihr rufen, sie suchen, sich einen Weg zu ihr bahnen – da wurde ihm klar, dass er sie für immer verloren hatte.
Die Menschenmenge um ihn herum löste sich auf.
Der Tumult brach zusammen.
Der Lärm erstarb.
In dieser Leere hörte er zuerst nur eine Stimme, die auf und ab ging, dann erfasste er Wörter, seltsam artikulierte Wörter, die schwäbische Sprache offenbar, und schliesslich bemerkte er, dass man über ihn redete. Und dass er neben einem Brunnen stand und sein Gesicht ganz nass war.
«Ist mir etwas hager», sagte der Mann mit dem buschigen Bart. «Und bleich. Als hätte er getrunken.»
Ein anderer Bauer kam hinzu, in der einen Hand hielt er eine Pfeife, in der anderen einen Korb Äpfel. «Wenn du ihn nicht nimmst», sagte er in angenehm melodischem Ton, «dann nehme ich ihn schon.» Und dann tätschelte er Paul Fidel die Wange und sah ihm zutraulich in die Augen. Seine Hand roch nach Tabak und Schaf. «Du kannst doch arbeiten, oder?», fragte er.
Paul Fidel erforschte sein Gefühl. Die Pfeife. Äpfel. Schafe. Der Bauer machte ihm einen ganz freundlichen Eindruck. Er nickte.
Zufrieden reichte der Bauer ihm einen Apfel und führte ihn durch eine schmale Gasse vom Marktplatz.
Erst nachdem man Ravensburg hinter sich gelassen hatte und gemächlich über das Land marschierte, entdeckte Paul Fidel auf dem Rücken des freundlichen Bauern das Kreidekreuz. Er steckte die Hand in die Hosentasche, tastete nach dem Band und spürte die Kraft, die es ihm verlieh. Bigna hatte die Heimat verlassen, Carina blieb im Schwabenland – Lina aber gehörte für immer ihm. Und da der Bauer sich nicht nach ihm umsah, schloss Paul Fidel für einen Moment die Augen und kehrte zurück in den Schiffsbauch, in die dunkle, lichtdurchflutete Unterdeckkabine, umgeben von den unermesslichen Tiefen des Schwäbischen Meers.