Obervaz, Graubünden
1875
Der Winter hatte den Wald in ein Märchen verwandelt. Die schneebeladenen Tannenzweige schlossen sich zu einem Gewölbe zusammen, das den Himmel verschluckte, die Sträucher beugten sich unter der Last des Schnees und bildeten weisse Höhlen, und auf dem Boden lag eine dicke Schneedecke, unter der die Natur in tiefem Schlaf stillstand.
Doch da waren diese Spuren. Kleine Füsse, grosse Füsse, Pfoten, in der Kälte scharf in den Schnee gestochen, regelmässig durchschnitten von den Kufen des Wagens. Es waren die Spuren von Franciscus, seinem Vater und dem Esel, die sie frühmorgens auf dem Hinweg hinterlassen hatten. Diesen Spuren folgte Franciscus in umgekehrter Richtung – sie allein wussten, wie man diesem gottverlassenen Ort wieder entkam.
Die vergangenen Stunden waren säuberlich auf dem Waldboden aufgezeichnet. Hier war er in die Knie gegangen, um sich die Schuhe nachzuschnüren. Hier hatten sie mit einem Schlenker den Ameisenhaufen umfahren. Hier hatte der Esel uriniert. Wenn der Wald ein Buch war, dann waren diese Spuren die Schrift, die den Morgen festhielt, und wenn man sie las, erlebte man alles noch einmal. Es schmerzte ihn, dass er auf dem Rückweg neue Spuren neben die bereits bestehenden zeichnete und die Geschichte zertrat. Manchmal gelang es ihm, seinen kleinen Fuss in eine grosse Fussspur des Vaters zu setzen, dann blieb alles, wie es war. Aber spätestens der übernächste Schritt stiess wieder in den unversehrten Schnee und erinnerte ihn daran, dass alles seinen Lauf nahm, und dass es irgendwann sowieso wieder Sommer wurde und der Schnee mitsamt den Spuren verschwand.
Er hätte darauf bestehen sollen, dass der Esel ihn begleitete. Es wäre jetzt gut gewesen, nicht allein zu sein. Doch der Esel hatte sich seinen Bitten gegenüber taub gestellt, und bald war es Franciscus zu kalt geworden, sich diesen Kapriolen auszuliefern. So hatte er sich schliesslich dem Willen des Esels gebeugt. Nicht umgekehrt. Das machte ihn traurig.
Er kam zu einer Lichtung. Kein Buckel im Gelände kam ihm bekannt vor, kein Baum, nur der Himmel sah aus wie überall. Hier war er bestimmt noch nie gewesen. Die Spuren behaupteten etwas anderes. Die Sonne und der Schnee blendeten ihn, alles war so hell und weiss, dass es schmerzte. Er wusste nicht, wie lange er schon durch den Wald watete, doch er bemerkte, wie durstig er war. Von einem Zweig brach er einen Eiszapfen ab und fuhr sich mit der Spitze über die Lippen. Er spürte nichts. Er legte sich ein Stück Eis auf die Zunge, es löste sich auf, er schluckte. Dann sank er rücklings in den Schnee, atmete ein paar Mal tief aus und sah dem Atem zu, wie er in kleinen Wolken zum Himmel hochstieg.
Sollte er die Augen zumachen, wie es Vater ihm beigebracht hatte? Wenn man die Augen schloss, konnte man in der Zeit reisen. Man konnte entscheiden, dass wieder gestern war. Oder letztes Jahr, wenn man sich gut erinnerte. Man konnte auch entscheiden, dass bereits morgen war, also ein Tag, den man noch gar nicht kannte, doch das war kniffliger. Mit etwas Übung konnte man sogar eine Epoche besuchen, in der man selber nicht gelebt hatte, oder einen Ort, an dem man noch nie gewesen war. Vater beherrschte diese Praktik gut, Mutter hingegen sagte, das sei gefährlich, es trenne den Geist vom Körper, und da Mutter öfter recht hatte als Vater, hatte sie womöglich auch hier recht. Es war gefährlich, wenn es dort, wohin man sich ersann, schöner war als dort, wo man gerade war, denn ewig konnte man nicht hinter verschlossenen Augen verbringen, irgendwann musste man nach Hause kommen, und dann war man da noch unglücklicher als zuvor. Franciscus beschloss, sich mit offenen Augen auf den Heimweg zu machen.
In plötzlicher Eile schwang er sich auf die Beine und da sah er, nur einen Steinwurf von ihm entfernt, ein Tier.
Er erstarrte. Ein Wolf. Er hatte noch nie einen gesehen, er kannte ihn nur aus den Geschichten, doch das hier war zweifellos weder ein Hund noch ein Fuchs. Es war ein Wolf.
Reglos musterten sie sich.
Der Wolf stand wachsam da, die Pfoten in den Schnee gestemmt, die Ohren aufgerichtet, die Schnauze geschlossen und die Augen leuchteten aus dem Fell wie zwei gelbe Edelsteine.
Langsam fand Franciscus wieder zu sich und spürte, dass dies eine ungewöhnliche Begegnung war. Er hatte keinen Durst mehr. Er war nicht mehr müde. Er hatte keine Angst. Es gab nur ihn und den Wolf, rundum war alles blank. Er liess den Wolf nicht aus den Augen, widerstand dem grellen Blick oder wurde viel mehr von ihm beherrscht, von diesen Diamanten, in denen sich das wilde Wesen des Wolfs ballte, sein Streben und Begehren, die ganze Unrast der Natur, und dann, schlagartig und heftig, brach die Gewissheit über Franciscus herein. Für einen Moment schien ihm alles unheimlich klar. Er wusste, was sich ereignet hatte, warum er jetzt hier war, und was das für ihn bedeutete. Er begriff, dass man geboren wurde und starb, und dass das, was dazwischen geschah, nicht mehr Sinn besass als eine Eichel, die vom Ast fiel.
Aber der Wolf war schön. Franciscus trat einen Schritt vor. Eine Träne löste sich aus seinem Auge. Er wollte den Wolf am Hals kraulen, ihm über das Fell streicheln. Er wollte ihn in die Arme nehmen.
Der Wolf neigte seinen Kopf, als prüfte er die Pläne von Franciscus, hechelte, liess die Zunge aus dem Maul hängen, zeigte kurz seine spitzen Zähne. Dann wandte er seinen Blick ab und lief davon.
Ungläubig sah Franciscus ihm hinterher. «Bleib hier», flüsterte er, als es schon zu spät war. «Geh nicht», sagte er mit schwacher Stimme. «Lass mich nicht allein.»
Nun stand er wieder verloren in der Waldlichtung, umgeben von schweren Tannen, die ihm Sicht und Weg versperrten.
Er zog weiter, fand die Spuren wieder, folgte ihnen. Endlich kam er an den Waldrand und stiess in den Nebel vor, der wie ein Geist über der Landschaft schwebte. Er watete durch den Schnee, immer weiter, rang dem Winter Fuss um Fuss ab. Die Kälte hatte sein Denken eingefroren, die Gedanken waren starr, es war herrlich. Er war vollkommen frei. Alles, was im Leben zählte, war der nächste Schritt. Und der nächste. Und der nächste.
Und plötzlich ragte eine Dachspitze unscharf aus dem Nebel. Überrascht blieb er stehen. Er hatte den Kampf gewonnen. Er hatte den Winter besiegt. Vielleicht war das Märchen jetzt vorbei, dachte er, und der Esel war, dachte er, aber dann vergass er, was er gerade gedacht hatte, und er vergass auch gleich, dass er etwas vergessen hatte. Doch während er die letzten Schritte ging, trug der Wind eine Stimme zu ihm heran, die ihm versicherte, dass er daheim war.
Er stiess die Tür auf, die vom Wetter ganz durchgebogen war, und hörte nun deutlich das Kindergeschrei. Es wurde von einer Geige begleitet.
Vor zwei Jahren hatte Franciscus ein kleines Schwesterchen bekommen. Es starb nach wenigen Stunden. Aber Mutter musste nicht lange trauern, denn bald brachte sie das nächste Kind zur Welt, und es war erneut ein Mädchen. Und da es hübsch und gesund war und es den Eltern wie eine Gnade des Himmels erschien, nannten sie es auf Vaters Wunsch Engelina.
Jetzt aber hatte das einjährige Mädchen gar nichts Engelhaftes an sich. Es zappelte in der Wiege und schrie sich den Teufel aus dem Leib. Das Schreien machte Franciscus unruhig, er wollte es nicht hören und drückte sich die Hände auf die Ohren, aber sogleich ging ihm die Kraft dafür aus.
Mutter sass daneben und spielte auf der Geige, um die Laune des Kindes zu verbessern. Es waren lustige Lieder, die Franciscus von Familienfesten her kannte, Lieder, zu denen Tante Barbara stürmisch tanzte oder Onkel Mathias vom Stuhl fiel und alle lachten. Doch hier half es nicht, Engelina schrie vorwurfsvoll weiter.
Einsichtig unterbrach Mutter ihr Geigenspiel. Sie versuchte es mit warmen Worten. Sie stand auf, nahm die getrockneten Mohnblumen von der Wand und legte sie in die Wiege. Engelina reagierte abschlägig. Mutter setzte die Geige wieder an.
Schon nach wenigen Strichen verloren die Schreie ihre Wut, wurden dünner, und bald war im ganzen Haus nichts anderes mehr zu hören als eine schöne traurige Melodie. Franciscus fragte sich, warum sie das nicht öfter spielte. Es klang besser als alle ihre anderen Lieder, besser als die Musikkapelle von Onkel Peter, besser als Grossvaters Gefiepe auf der Mundharmonika. Und offenbar nützte es.
Doch Mutter spielte auch weiter, als das Spiel seinen Zweck erfüllt hatte. Sie blickte ins Leere und war nicht mehr bei ihrer schlafenden Tochter, sie wurde von ihrer eigenen Melodie fortgetragen.
Es verging eine ganze Weile, bis sie Franciscus bemerkte, der stumm an der Tür zur Stube stand.
Sie fuhr zusammen und hörte auf zu spielen. Wie sie ihn ansah. Wie sie das Instrument unvorsichtig zur Seite legte. Wie sie aufstand und auf ihn zukam. Das war merkwürdig. Das war nicht die Mutter, die er kannte.
«Bist du allein hier?»
Er zitterte.
«Du hast ja ganz kalt!»
Er zitterte.
«Wo ist Vater?»
Er zitterte.
Mutter setzte ihn vor das Kaminfeuer, brachte trockene Kleider, kochte Kräutertee. Und schickte den Knecht in den Wald, um nach Vater zu sehen.
Franciscus liess es geschehen. Als er die Finger wieder bewegen konnte, holte er die Truhe, die Grossvater ihm geschenkt hatte. Mit immer noch zitternden Fingern nahm er eine Figur und legte sie auf die Diele. Das war Vater. Daneben stellte er eine weitere Figur. Das war er selbst. Und noch eine Figur, einen etwas grösseren Knochen, den Esel. Und Vater, Franciscus und der Esel gingen zusammen in den Wald, um Bäume zu fällen. Ich bin froh, dass du mir hilfst, sagte Vater zu Franciscus und rieb ihm über den Kopf. Du kannst dir dann aus dem Holz etwas Schönes schnitzen, sagte er weiter, weisst du schon, was? Franciscus dachte nach. Er hatte keine Ahnung. Einen Baum? Vater lachte. Du willst aus einem Baum einen Baum machen? Dafür müssen wir aber keinen Baum töten! Franciscus dachte nach. Einen Baum töten? Bäume lebten? Du kannst aus dem Holz irgendetwas schnitzen, sagte Vater, zum Beispiel einen Esel. Was war an einem Holzesel intelligenter als an einem Holzbaum, dachte Franciscus. Aber Vater fuhr munter fort, eine Kuh, eine Muttergottes, einen Steinbock – aber der sei schwierig, wegen den Hörnern. Ein Steinbock war schwieriger als eine Muttergottes? Ein Reh, einen Stall oder einen Trinkbecher. Warum redete er überhaupt so viel? Sonst redete er auch nie. Und es war kaum Tag. Eine Puppe, sagte Franciscus. Was sagst du? Eine Puppe. Von da an gingen sie schweigend durch den Wald.
Bald kehrte der Knecht zurück. Er hatte den Esel mitgebracht, und hinten auf dem Wagen lag statt Holz der Vater.
Nach und nach versammelte man sich in der Stube. Die Mutter, der Knecht, die Kinder. Onkel Franz kam, Onkel Peter und ein weiterer Onkel, dessen Name Franciscus vergessen hatte. Tante Barbara kam, und zwei Töchter von Onkel Johann Friedrich. Onkel Johann Friedrich kam nicht, niemand wusste, wo er steckte. Man weinte viel, auch die Erwachsenen. Oder vor allem die Erwachsenen, und die Kinder schlossen sich ihnen an, und bei so viel Unruhe begann auch Engelina wieder zu schreien. Und wenn jemand dazustiess, fielen stets die gleichen leisen Worte mit der Hand vor dem Mund, als wäre das, was man sagte, verboten oder gar nicht wahr. Paul Fidel. Im Wald. Beim Holzen. Mit Franciscus. Eine riesige Lärche. Daraufhin kam immer ein Erwachsener zu ihm, sagte «Jesses Gott» oder «Der arme Bub», und rieb ihm über den Kopf, so wie Vater am Morgen im Wald. Franciscus wurde das Gefühl nicht los, dass man ihn bewunderte.
Schliesslich hinkte auch noch Grossvater zur Tür herein. Stumm grüsste er in die Runde, bevor er zu Mutter herantrat. «Marianna. Mein Goldschatz», sagte er, nahm sie in die Arme, und während er sie an sich drückte, verzog sich Mutters Gesicht, wie Franciscus es noch nie gesehen hatte. Bei Grossvater hingegen wusste man nie, ob er lachte oder weinte oder sich gar nicht regte, sein Bart verschlang sämtliche Gesichtszüge. Aber insgesamt sah auch er ziemlich traurig aus.
Der Bestattung von Paul Fidel Parpan blieb Franciscus fern. Er ass nicht mehr und redete nicht mehr und starrte stundenlang in die Flammen des Kaminfeuers. Und in der Nacht, als er nicht schlief, stand er auf, legte sich Vaters viel zu grossen Mantel um und schritt zum Gottesacker von Zorten.
Das vom Mond beschienene Kreuz war aus Lärchenholz. Franciscus sah es an der Struktur und der rötlichen Farbe. Er fragte sich, ob es aus der Lärche gezimmert war, die Vater getötet hatte. Ob Vater tatsächlich bei der Herstellung seines Grabkreuzes gestorben war. War das sein Unglück gewesen? Hätte er also die Lärche nicht gefällt, hätte er kein Grabkreuz gebraucht. Und hätte er kein Grabkreuz gebraucht, hätte er die Lärche nicht fällen müssen. Vater und die Lärche könnten beide noch leben.
«Bleib hier», flüsterte Franciscus, und endlich gelang ihm wieder eine Träne. «Geh nicht. Lass mich nicht allein.»
«Schliess die Augen, mein Sohn», hörte er. «Wann immer du die Augen schliesst, bin ich bei dir.» Aber es war nicht Vater, der sprach. Es war bloss die Stimme aus seiner Erinnerung.
Um ein Loch graben zu können, hatte man zuerst Schnee fortgeschaufelt. Und nachdem man den Sarg in die Erde gelegt und das Loch wieder zugegraben hatte, hatte man vergessen, den Schnee wieder zurückzuschaufeln. So befand sich Franciscus jetzt inmitten des zugeschneiten Dorfes in einem schneefreien Kreis, auf einer grünen Insel gemeinsam mit Vater.
Doch Vater hatte seine Augen für immer geschlossen. Auf ewig zerrissen reiste er durch die Zeit und die Welt, bestimmt war er oft bei ihm, so vielleicht auch jetzt. Aber er hatte kein Zuhause mehr.
Franciscus verliess den Friedhof und sass bald wieder vor dem Kamin. Das Feuer züngelte nur noch schwach, es war kühler geworden in der Stube. Er verkroch sich tief in den Mantel, den er immer noch trug, und steckte die kalten Hände in die Manteltaschen. Da spürte er etwas Weiches zwischen den Fingern.
Ein Band. Ein rotes Band. Es hatte an beiden Enden einen Knoten, damit es nicht zerfaserte. Franciscus legte sich das Band über beide Handflächen und rutschte näher ans Feuer. Es war nichts, es war nur ein Streifen Stoff. Und doch war es mehr als eine Schnur, mit der man einen kaputten Schuh reparierte. Es war betörend rot, wie die Sonne, wenn sie unterging, es fühlte sich sanft an auf der Haut, und auf einmal wusste er, dass das Band Vaters letzten Pulsschlag gespürt hatte. Er sah ihn, Vater mit gesenktem Kopf, in der einen Hand das Beil, die andere Hand in der Manteltasche. Das Morgenlicht fiel gebündelt durch die silbernen Tannen, Kristalle rieselten von den Zweigen, die ganze Schönheit des Winters. Dann ein Krach, als wäre die Erde zerbrochen, dann Schmerzensschreie, zuckende Glieder, Augen der Verzweiflung, und dann, das Verstörendste überhaupt, ein Lächeln auf dem toten Gesicht.
Voller Angst und Abscheu sah Franciscus ein letztes Mal auf das verfluchte Band und warf es zitternd in die Glut.