Johann Josef Jörger (1860–1933)

Vals, Graubünden

1884

   

Lange blickte er auf das Zervreilahorn, das in einem goldfarbenen Rahmen über dem Schreibtisch hing. Gleichzeitig richtete er den Blick nach innen, und im markanten Berg erkannte er sein eigenes Emporstreben, seine Urverbundenheit mit der Scholle und den Wunsch, das Umland zu bewachen. «Der Wächter des Valsertals» – das konnte ein guter metaphorischer Titel sein. Angestrengt vermischte er das, was er sah, mit dem, was er fühlte, das Horn mit dem Herz, um aus dem Gemenge Sprache zu extrahieren, ein Gedicht sollte es werden, eine genialische Symbiose, wie sie sich einst zwischen Albrecht Haller und den Alpen vollzogen hatte.

Doch so sehr er sich auch abmühte, kein einziger Vers wollte ihm gelingen. Das Blatt blieb leer, das Zervreilahorn ein spitzer Stein, und Jörger der Sohn des Schmieds.

Vielleicht lag es daran, dass er sich von einem Abbild des Bergs beseelen liess, und nicht vom Berg selbst. Ausserdem war er mit seinem geselligen Gemüt wohl eher zum Erzähler als zum Dichter veranlagt – und um sich zu beweisen, dass er keineswegs nach Ausflüchten suchte, stand er auf, ging ans Fenster und las die Welt durch seine Brille. Er sah zu den Bergen, die sich wie gewaltige Mauern auftürmten, zur Kirche, die den Frieden stiftete und zum Dorfplatz, wo sich die Müllerin am Brunnen so lebhaft mit dem Kaminfeger unterhielt, dass man sie auch in den winddichten Stuben hörte. Er lächelte berührt, setzte sich wieder und schrieb: «Vals war seit Jahrhunderten und ist bis in unsere Zeit hinein eine Oase geblieben.»

Aus diesem Holz, dachte er, sich seines Hochmuts durchaus bewusst, doch es war ein Hochmut, der ihn heiter stimmte, aus diesem Holz schnitzte man grosse Romane. Er setzte den Federhalter wieder an und fuhr fort.

«Dem nivellierenden Weltverkehr völlig entrückt, eingeschlossen zwischen hohen Bergen, haben ihm überdies religiöse und sprachliche Verschiedenheit gegenüber seinen Nachbarn schier unübersteigbare Schranken aufgerichtet. Es ist also ein Tal, in dem sich alte Gebräuche, alte Mundart und Originalität der Bewohner erhalten und forterben mussten, wie kaum in einem andern Erdenwinkel.»

Hatte er das alles eben durchs Fenster gesehen? Nein. Und doch ja. Was ihn am Schreiben faszinierte, war nicht die unverhohlene Wiedergabe einer Realität, sondern – indem man gewisse Fakten heraufbeschwor und in den Lichtkegel rückte –, die Erschaffung einer Realität nach seinem Sinn. Wie herrlich es war, die Fesseln der Wissenschaft abzulegen und die freie Welt der Literatur zu erstürmen! Doch entgegen der Mode, die exotischsten Orte zu bereisen und sich in Abenteuerromanen zu verfehlen, bedeutete das Schreiben für Jörger stets eine Heimkehr. Schreiben war die Pflege seiner Wurzeln, die Kultivierung der Heimat.

Und jetzt sass Johann Josef Jörger, 23-jährig, Medizinstudent an der Universität Zürich, zu Hause in seinem Elternhaus in Vals. Am Abend zuvor war er angekommen, müde von der Reiserei hatte er sich gleich zu Bett gelegt, um bereits frühmorgens einen Spaziergang an der Valser Bergluft zu unternehmen. Inzwischen war Mittag, die Notizen aus Professor Forels Hypnoseseminar lagen vorwurfsvoll vor ihm, in zwei Wochen fanden die Examen statt, und Paulina konnte er nicht ewig vertrösten. Er wollte ja auch studieren, er wollte Paulina ja auch sehen. Aber wenn er für ein paar Tage nicht zum Schreiben kam, fühlte er sich wie geknebelt.

Er stand auf und ging zum Bücherregal, eine kleine Ecke Bildung, die er sich hier in der Dachkammer der Schmiede eingerichtet hatte. Vaters Hammerschläge drangen durch die Dielen nach oben und liessen die Bücher erzittern – wie sollte man sich hier auch konzentrieren? Mit den Fingerspitzen fuhr er über die in Leder gebundenen Meisterwerke und spürte ihre Strahlkraft. Hier standen sie, seine Götter, einer neben dem anderen. Der grosse Schiller, der zunächst im Lazarett Rezepte und dann den Eidgenossen ein nationales Bewusstsein geschrieben hatte. Daneben Büchner, Fachmann für das Nervensystem der Fische und literarischer Revoluzzer, und weiter Haller, der neben seinem Alpengedicht ebenso bahnbrechende, an vierhundert Menschenleichen erforschte Arbeiten zur Anatomie hinterliess. Jörger sah sich gerne in der Tradition dieser schriftstellernden Ärzte. Er vermutete, dass Ärzte naturgemäss besonders ergreifende Erzähler waren – was gab es für eine anregendere Schreibstube als eine Arztpraxis, diese Kapelle der Hoffnung, dieses Vorzimmer des Todes?

Nun, noch war er kein Schriftsteller, und er war auch noch kein Arzt. In Vals und der näheren Umgebung gab es überhaupt keinen Arzt. Um die Kranken kümmerte sich seit Jahrzehnten der Kaplan, die Wirtin hatte sich auf die Behandlung von Knochenfrakturen spezialisiert und der Barbier beherrschte die Zahnentfernung. Bei schlimmeren Gebrechen aber mangelte es in Vals an Sachverstand. Jörger plante, nach seiner Ausbildung zum Doktor ins Valsertal heimzukehren und gegen den medizinischen Notstand anzukämpfen. Allerdings absolvierte er nicht ein umfangreiches akademisches Studium, um danach das Nebengeschäft des Kaplans oder des Barbiers zu übernehmen. Er hatte denn auch nicht vor, den Körper des Menschen zum Gegenstand seines Wirkens zu machen – vielmehr interessierte ihn das unwegsame, in der Forschung noch weitgehend im Dunkeln liegende Reich der menschlichen Seele. Johann Josef Jörger beabsichtigte, der erste Seelendoktor Graubündens zu werden.

Wie wurde jemand zu dem, der er war? Wie entstand der Charakter eines Menschen? Welche Voraussetzungen schuf die Natur, inwieweit reproduzierten sich menschliche Züge von Generation zu Generation? Und wie konnte man, im Falle einer Entartung, in den Lauf der Natur eingreifen? Diese Fragen trieben Jörger um, sie steckten das Gebiet ab, das die Wissenschaft künftig mit aller Kraft beackern musste. Es war das bis dahin noch unerschlossene Gebiet der Vererbungslehre.

Auf einmal spürte er etwas Kaltes am Nacken. Instinktiv warf er sich nach vorne, doch da stand schon das Bücherregal. Er fing sich auf, sein Ellbogen stach ins Regal, ein Buch fiel zu Boden, er drehte sich um.

Für einen Augenblick dachte er, er habe sich eben in eine Autohypnose versetzt und Paulina sei nur eine Suggestion. Aber das konnte nicht sein. Er war gerade weder mit der Hypnose beschäftigt gewesen noch hatte er sich Paulina herbeigewünscht.

«Habe ich dich erschreckt?», fragte sie, halb entsetzt, halb belustigt.

Er hob das Buch vom Boden auf und stellte es zurück ins Regal.

«Wie lange bist du schon hier?», fragte er.

«Ich wollte dich überraschen!»

Düpiert, dass sie ihn so aus der Contenance gebracht hatte, dass sie ihn überhaupt so sorglos zu Hause aufsuchte, wo doch ihre Bekanntschaft offiziell noch geheim war, beschloss er spontan, an ihr eine Hypnose auszuprobieren.

Er entschied sich für die Wachsuggestion und hielt Paulina in einer kecken Überrumpelung Daumen und Zeigefinger vors Gesicht. Als sie unversehens darauf ansprach, sagte er: «Atme tief und langsam und deine Gedanken schwinden.» Er wiederholte den Satz zwei Mal, sie atmete tief und langsam und nichts sprach dagegen, dass auch ihre Gedanken schwanden. «Deine Arme sind gelähmt und schwer wie eine Bleimasse», trieb er die Sitzung voran, und Paulinas Arme verfielen in kataleptische Starre. Wie von Professor Forel im Seminar demonstriert, operierte Jörger mit monotoner Stimme, suggerierte ihr nun eine Amnesie, und ein wenig verlegen stellte er fest, dass er dabei sogar den französisch eingefärbten Dialekt des Professors imitierte. Doch der rasche Erfolg war eklatant. An ihrem starren Blick war gut ersichtlich, dass Paulina bereits in den Somnambulismus geraten war. Man musste es selbst erleben – dann erst entfaltete Forels Versprechen seine volle Wucht, nämlich, dass sich die Seele mithilfe der Hypnose bis in ihre feinsten Nuancen modifizieren liess! Leidenschaftlich dissoziierte Jörger nun, was assoziiert war, und assoziierte, was nicht assoziiert war: «Mein Name ist Friedrich Schiller», referierte er, «ich studierte Medizin in Stuttgart. Beschäftigte mich mit der tierischen und geistigen Natur des Menschen, dem alten Leib-Seele-Problem, darauf nannte man mich einen philosophischen Arzt. Dann wurde ich Regimentsmedicus und kümmerte mich um die Krüppel.» Paulina hörte ihm staunend zu – Seele A wurde nun von Seele B nach Belieben gelenkt. «Vor allem aber bin ich ein berühmter Schriftsteller. Wallenstein. Maria Stuart. Wilhelm Tell. Ich habe, indem ich Geschichte schrieb, selbst Geschichte geschrieben. Aus dem Vierwaldstättersee ragt ein Stein, den sie mir gehauen haben. Ohne mich wäre die Schweiz nicht die Schweiz. Ich bin aber auch ein begnadeter Dichter. Das Lied von der Glocke – kocht des Kupfers Brei, schnell das Zinn herbei, dass die zähe Glockenspeise, fliesse nach der rechten Weise – wer kennt es nicht?» Jörger lachte auf und fühlte sich, als hätte er das mesmersche Fluidum wiedererweckt. Paulina, die sonst so fein apperzipierte, war nur noch eine Puppe. «Und du, meine liebe Charlotte, du bist meine Ehefrau. Charlotte von Schiller, geborene von Lengefeld. Ich liebte auch deine Schwester, liebe sie immer noch. Hätte ich nicht dich geheiratet, dann Caroline. Charlotte?»

«Wann hast du vor, diesen Unfug zu beenden?»

Jörger zuckte zusammen. Das war nicht Charlotte von Schiller. Das war eindeutig Paulina Hubert. Er nahm die Hand aus ihrem Gesicht. Lag es an den Hammerschlägen des Vaters? Oder war seine Verbalsuggestion zu barock?

«Weisst du, warum es nicht funktioniert?»

Er traute sich kaum, sie anzusehen. Jemand blieb nach der Hypnose immer beschämt zurück. In der Regel das hypnotisierte Subjekt. Manchmal aber auch der Hypnotiseur.

«Weil du schreibst und gar nicht studierst.»

«Du hast meinen Text gelesen?»

«Er liegt dort auf dem Tisch.»

Das Wiedersehen war ein kolossales Fiasko. Er hätte sie besser geküsst statt hypnotisiert. Im Grunde genommen hätte er sie auch jetzt noch küssen können, doch dafür war das Momentum weg. Er stellte fest, dass sie sich recht hübsch gemacht hatte, wahrscheinlich eigens für ihn: ein grünes Halstuch, eine Bluse mit Rüschen und dicken Knöpfen, das Haar präzise gescheitelt. Er hingegen trug ein mit Tinte bekleckertes Hemd und fleckige Pantoffeln, und einem Spiegel war er heute noch nicht begegnet. Aber dass sie ihn so antraf, war ihre Schuld, nicht seine.

«Und?», sagte er, weil das Leben trotz allem weitergehen musste. «Wie findest du meinen Text?»

«Noch passiert darin nichts.»

«Es passiert nichts?»

«Irgendwo in den Bergen liegt ein Dorf. Es heisst Vals. Schön, und dann?»

Er sah sie unsicher an.

«Ja lass dir was einfallen! Zum Beispiel: In der Dachkammer der Schmiede steht ein Verrückter, der sich für Friedrich Schiller hält.»

«Das kann man so nicht sagen, ich wollte doch nur –»

«Ein Buch kann alles.»

«Aber der Autor bin ich.»

«Niemand ist der alleinige Autor einer Geschichte.»

Jörger kam sich vor wie im Nachhilfeunterricht.

«Gut, vergessen wir die Hypnose», sagte Paulina, nicht ohne ihn noch einmal mit einem Schmunzeln zu bestrafen. Sie setzte sich an seinen Schreibtisch und Jörger befürchtete schon, sie würde seinen Text an sich reissen und weiterschreiben. Doch sie begnügte sich damit, in die Luft zu fabulieren: «In der Dachkammer der Schmiede sitzt ein schöner Student und versucht, zu schreiben. Da bekommt er überraschenden Besuch. Von der Tochter des Bäckers.»

Das gefiel ihm schon besser. Er hob den Zeigefinger und ergänzte: «Von der schönen Tochter des Bäckers.»

Sie beachtete ihn nicht und machte ohne Pause weiter, als wäre ihre Erzählung bedroht, wenn sie ihr zu viel Wirklichkeit zum Atmen gewährte: «Plötzlich klopft es an der Tür. Es ist der Bäcker, der seine Tochter nicht mit diesem Nichtsnutz von Studenten verheiraten will.»

«Nennt er mich wirklich so?»

«Der Tochter des Bäckers ist es egal, was der Vater sagt. Sie will sowieso etwas anderes sein als die Bäckerstochter. Sie will mit dem Studenten fort. Durch den Gotthard nach Italien oder besser noch mit dem Orient-Express nach Konstantinopel.»

«Das hört sich ja wie ein Schauerroman an.»

«Nein, wie das Leben!»

Sie war geistreich und intelligent, sie war der Hauptgrund, weshalb er seine Studienkameraden niemals in die einschlägigen Etablissements begleitete, sie war die Frau, die er sich fürs Leben ausgewählt hatte. Aber sie war auch neugierig, gar abenteuerlustig, seine geliebte Heimat war ihr ein Gefängnis, und wenn sie ihren Drang, aller Herren Länder zu bereisen, nicht zügeln würde, dann sah er die gemeinsame Zukunft ernsthaft in Gefahr.

Plötzlich klopfte es an der Tür. Unten an der Haustür, und trotzdem drang das Klopfen bis nach oben in die Dachkammer. Es konnte durchaus von der strammen Faust des Bäckers herrühren. Unsinn, dachte Jörger, während er die Dachkammer verliess – Paulina hatte ihn mit ihren Phantasmen stärker eingenommen als er sie mit Professor Forels Instrumentarium. Er ging die Treppe hinunter, nicht unglücklich darüber, sich kurz von Paulina zu entfernen. Vielleicht konnte er das Treffen nach einer kleinen Unterbrechung in glücklichere Bahnen lenken. Vielleicht konnte er einen neuen Anlauf starten, sie zu küssen.

Bevor er die Haustür öffnete, spähte er aus dem Fenster, und was er sah, befremdete ihn. Hausierer. Schon wieder. Zwei junge zerlumpte Hausierer.

Es würde immer schlimmer werden. Das Mädchen und der Junge, die vor der Tür standen, waren Kinder von Vaganten. Die beiden würden – was denn sonst? – ebenfalls Vaganten werden, in einigen Jahren andere Vaganten heiraten und mit ihnen viele Vagantenkinder auf die Welt setzen. Der Sittenzerfall in Graubünden hatte begonnen. Zwei Generationen hatte es gedauert, und die Moser, Waser, Mehr und wie sie alle hiessen, waren Sippen beängstigenden Umfangs geworden. Man hätte sie nicht alle einbürgern dürfen, aber hinterher wusste man es besser. Wer hätte damals ahnen können, dass diese Vagantenfamilien wie Unkraut wuchsen und Friede und Ordnung im Land gefährdeten?

«Wie heisst ihr?», fragte Jörger schroff, damit niemand auf die Idee kam, er würde sich über den Besuch freuen.

«Ich heisse Engelina», antwortete das Mädchen mit einer Herzlichkeit, die ihn überraschte. Es mochte etwa zehn Jahre alt sein, hatte helle Locken und ein hübsches, von den Anstrengungen des Marsches leicht gerötetes Gesicht. «Und das ist mein Bruder Franciscus», fuhr das Mädchen fort und blickte zur Seite. Der Junge, schätzungsweise fünfzehnjährig, sah schauderhaft aus. Seine Kleider waren schmutzig, als käme er geradewegs aus einem Schornstein, das Haar klebte ihm wie ein Seifenlappen auf dem Kopf, und aus einem Loch im Schuh ragte ein blauer Zeh. Anders als seine Schwester wirkte er verschlossen, ganz geduckt stand er da, die Augen zu Boden gerichtet, und eine Hand klammerte sich hilfesuchend um den Griff seines Leiterwagens.

«Habt ihr auch einen Nachnamen?», fragte Jörger weiter. Wenn sie schon da waren, konnte er ruhig ein paar Auskünfte einholen.

«Ja», sagte das Mädchen bereitwillig. «Parpan.»

«Aus Parpan also?»

«Nein. Aus Obervaz.»

«Wie heisst euer Vater?»

«Paul Fidel. Er ist schon lange tot.»

«Und die Mutter?»

«Marianna. Sie ist auch tot, aber noch nicht lange.» Die Heiterkeit im Gesicht des Mädchens erstarb.

«Das tut mir leid», entfuhr es Jörger, eine ungeahnte Rührung überkam ihn. Doch das Mädchen war anständig, man konnte schon fast sagen: gut erzogen. Oder liess er sich etwa täuschen? Mitleid erwecken, war das die neue Masche der Hausierer? Warteten die Eltern kerngesund hinter dem nächsten Gebüsch und lachten sich ins Fäustchen?

«Und wer kümmert sich jetzt um euch?»

«Wir haben viele Verwandte. Manchmal wohnen wir bei einem Onkel, manchmal bei den Grosseltern. Unser Grossvater», sagte das Mädchen stolz, «ist ein berühmter Glockengiesser.»

Jörger wurde hellhörig. «Der Abraham?», sagte er mehr zu sich selbst.

«Nein», sagte das Mädchen. «Der Moser. Johann Friedrich Moser.»

«Wusste ich es doch!», rief Jörger aus. «Sieh gen Himmel und zähle die Sterne, so zahlreich sollen deine Nachkommen sein. Ihr seid Kinder Abrahams!»

Das Mädchen sah ihn mit grossen Augen an. Wahrscheinlich wurde er gerade erneut für verrückt erklärt, aber dieses Mal nicht von seiner ihm ebenbürtigen Geliebten, sondern von einem dummen Vagantenmädchen. So konnte es nicht weitergehen. Wollte man nicht allzu finsteren Zeiten entgegenblicken, musste man diesem Treiben ein Ende setzen.

«Möchten Sie etwas kaufen?», fragte das Mädchen namens Engelina Parpan, Enkelin Johann Friedrich Mosers, ohne weiter auf Abraham und die Sterne einzugehen. Sie deutete auf den vollbeladenen Wagen, den ihr Bruder herbeigerollt hatte.

Holzfiguren. Holzesel, Holzkühe, eine Holzmuttergottes, sogar ein Holzsteinbock. Die Kinder hatten allen Ernstes bei ihm angeklopft, um ihm Holzfiguren anzudrehen. Jörger fragte sich, was eigentlich mit dem Jungen los war. Konnte er nicht sprechen? War er imbezil?

«Oder möchten Sie eine Glocke?», fragte das Mädchen, das schon im zarten Alter ein hartnäckiges Geschick für den Handel besass. «Eine Glocke des grossen Meisters Moser?»

Jörger begann, sich zu ärgern. «Was sollte ich mit einer Glocke tun?»

«Ihr zuhören», sagte das Mädchen.

Darauf wusste Jörger nichts zu entgegnen und ärgerte sich noch mehr.

Unaufgefordert nahm das Mädchen eine Glocke vom Leiterwagen, und noch bevor Jörger einschreiten konnte, schlug sie den Klöppel an.

Was war das?

Einen so klaren, hellen, ewig schwingenden Gong hatte Jörger noch nie gehört. Es klang wie ein Ruf aus dem Ort der Seligen. Und doch – wenn man genau lauschte, hörte man verschlungen in den Schwingungen die Sünde, das Rascheln der Schlange im Unterholz des Paradieses.

«Geht jetzt», sagte er, ein wenig verwirrt über das kurze Wonnegefühl, in das ihn ein einziger Glockenschlag versetzt hatte.

Und Johann Josef Jörger beschloss, die Eindämmung der Vaganterei in Graubünden zu seiner Aufgabe zu machen. Der Gedanke, seine schöne Heimat werde von Heimatlosen zugrunde gerichtet, schmerzte ihn zu sehr, als dass er tatenlos bleiben konnte. Er hatte noch keinen Plan – aber wer sonst, wenn nicht ein künftiger Arzt und Schriftsteller sollte einen finden, dachte er, während er den Kindern zusah, wie sie auf der Landstrasse gemächlich ihres Weges gingen.