Auguste Forel (1848–1931)

Zürich

1918

   

Er war für sein grosses Fest spät dran, als er auf der Toilette der Universität Zürich eine hübsche Ameisenkolonie erblickte. Er sah auf die Taschenuhr. Man würde bereits auf ihn warten, Gäste, die eigens für ihn aus der ganzen Schweiz oder gar aus dem Ausland angereist waren. Er dachte kurz nach, dann liess er sich langsam auf die Knie nieder und verfolgte mit ungebrochener Faszination, wie die Ameisen eine Hustenpastille über die Fliesen beförderten. Sein Sehvermögen hatte nachgelassen, doch das machte er mit jahrzehntelanger Erfahrung wett: Es waren Schwarze Wegameisen. Lasius Niger. Sie existierten seit rund fünfzig Millionen Jahren, und nichts hatte sie seitdem zu erschüttern vermocht. Dass die Welt eben aus den Fugen geriet, berührte sie nicht, sie nahmen es nicht einmal wahr, unbeirrt gingen sie ihrem allen Apokalypsen trotzenden Gewerbe nach. Aus diesen Gedanken versuchte er, Trost zu schöpfen.

Abgesehen davon, dass sie ihm gelegentlich Verspätungen einhandelten, hatte er den Ameisen alles zu verdanken, unter anderem auch, dass man ihn heute gebührend feiern wollte. Was wäre ohne die Ameisen aus ihm geworden? Der Frage war wissenschaftlich schlecht beizukommen, doch wagte er die These, dass sie ihn vor den Abgründen des Lebens gerettet hatten, mit denen er von Berufs wegen ja bestens vertraut war. Als Junge hatten die Ameisen ihn davor bewahrt, an der Einsamkeit zu verzweifeln. Sie hatten ihn gelehrt, geduldig zu beobachten und zu schlussfolgern, etwa als er sklavenhaltende Ameisenarten entdeckte oder als er Zeuge von Kämpfen zwischen Waldameisen und Mauerameisen geworden war. Das bereits als Student vollendete Werk «Die Ameisen der Schweiz» hatte ihm die Bewunderung von Charles Darwin eingebracht und seine akademische Karriere eingeleitet, in deren Verlauf er zu einem Gelehrten von Weltruf avancierte. Und schliesslich waren ihm die Ameisen gar in Liebesdingen zuträglich gewesen, hatte er doch die Tochter eines befreundeten Ameisenforschers geheiratet.

Samt der Pastille eroberten die Wegameisen die nächste Fliese. Doch sein Rücken begann zu schmerzen, der Nacken, die Hüfte auch – und überhaupt, was machte er hier eigentlich? Er wäre besser im Waadtland geblieben und hätte demütig an seinen Memoiren gearbeitet. Es waren schreckliche Zeiten. Im Mai 1914 hatte er frohgemut die Schrift «Die Vereinigten Staaten der Erde» veröffentlicht, ein Kulturprogramm für eine friedliche Welt. Einen Monat später, als wollte man ihn grandios verhöhnen, war es losgegangen: Die Schlacht bei Gumbinnen, die Schlacht bei Tannenberg, die Schlacht an den Masurischen Seen, die Schlachten an der Marne, die Flandernschlachten bei Ypern, die Schlacht von Gallipoli, die Isonzoschlachten, die Karpatenschlachten, die Winterschlacht in der Champagne und die Herbstschlacht in der Champagne, die Schlacht um Verdun, die Seeschlacht vor dem Skagerrak, die Schlacht an der Somme, die Schlachten um Gaza, die Schlacht um Jerusalem, die Piaveschlachten, und dazwischen noch so viele Schlachten, dass niemand mehr den Überblick behielt. Siebzehn Millionen Tote. Der Krieg verdüsterte alles, wonach der Mensch strebte. Wozu die Neuronenlehre? Wozu die sexuelle Aufklärung? Wozu die Ameisen? Ungeachtet dessen hatte er am Morgen jenes 1. September 1918 zahlreiche Glückwunschtelegramme in Empfang genommen, zu den ersten Gratulanten gehörten die beiden Literaturnobelpreisträger Gerhart Hauptmann und Romain Rolland, und auch an der Universität Zürich beabsichtigte man in den Stunden, in denen sich australische und deutsche Truppen am Mont St. Quentin blutige Kämpfe lieferten, den 70. Geburtstag des grossen Professors Auguste Forel zu zelebrieren.

Gerade als den Wegameisen ein entscheidender Vorstoss über die Fliesenfuge gelang, ging die Tür auf.

«Auguste! Was machst du hier?»

«Emma? Was machst du hier?»

Eine Frau, im Übrigen seine eigene, hatte die Herrentoilette betreten, insofern war seine Frage berechtigt. Ihre allerdings, wenn er es sich recht bedachte, auch.

«Alle warten!», rief sie.

«Lasius Niger», sagte er.

Emma. Er durfte seinen glänzenden Werdegang nicht allein den Ameisen zuschreiben, ihr Anteil daran war mindestens so gross. Hier sein zuweilen überschäumendes Temperament, da ihr stilles, gleichmässiges Wesen. Ein halbes Menschenleben lang schon regulierte sie ihn und spendete ihm Kraft für seine Taten. Sie würde alles für ihn tun, das wusste er, sie würde für ihn in die Hölle gehen. Und eben, ihrer tadellosen Manieren zum Trotz, sogar auf die Herrentoilette.

«Ich hasse Geburtstage», sagte er, und fand selbst, dass er wie ein Kind klang.

«Würden ihn alle vergessen, wärst du auch nicht zufrieden.»

«Mon Dieu, um uns herum ist Krieg!»

«Das ist im Waadtland nicht anders.»

Düster schickte er sich an, aufzustehen. Emma half ihm dabei. Ein Schlaganfall hatte ihn zum Linkshänder gemacht, zu einem alten hölzernen Mann, der nur noch über seinen halben Körper regierte. Der rechte Arm war inzwischen ein nutzlos herunterhängendes Gewicht, das rechte Bein kaum mehr als eine Krücke, doch glücklicherweise hatte sein Kostbarstes, der Denkapparat, keinen Schaden erlitten, im Gegenteil, Forel konnte sich nicht daran erinnern, jemals scharfsinniger gewesen zu sein. Im Spiegel richtete er seinen Kragen. Er war eine geisterhafte Erscheinung geworden. Wie Spinnfäden spannten sich einzelne weisse Haare über den unförmigen Schädel, die Augen quollen aus dem Kopf hervor, und dem Blick fehlte die Symmetrie – er sah noch fürchterlicher aus, als der neumodische Künstler Kokoschka ihn damals gemalt hatte. Er setzte sich den Hut auf, zog ihn ins Gesicht und hakte sich bei Emma unter. Dann liess er die Ameisen hinter sich und begab sich unter die Menschen.

Man erwartete ihn im Lichthof, in dieser fünfgeschossigen, von einem Glasdach überwölbten Halle, in der die Gipsabgüsse antiker Skulpturen standen. Als er von Emma gestützt endlich angehumpelt kam, entbrandete herzlicher Beifall. Freunde, Forscherkollegen, frühere Mitarbeiter, ehemalige Schüler, guttemplerische Ordensbrüder und -schwestern, sozialistische Genossen, Ethiker und Irrenärzte – alle waren sie gekommen und hatten sich unter die Götter gemischt. Eugen Bleuler streckte sich verschmitzt, als hätte man ihn bei etwas ertappt, neben der Venus von Milo. Zwischen Hermes und Herkules unterhielten sich die deutlich schmächtigeren Alfred Ploetz und Ernst Rüdin. Weiter hinten standen Fritz Brupbacher, Helios, Anton Delbrück, Apollo, Hans Wolfgang Maier, Zeus. Und wer konnte, schritt nun auf ihn zu, um ihm die Hand zu schütteln und auf ihn anzustossen, unter der verächtlichen Miene von Dionysos mit einem Glas Wasser. Die Büste gehörte entfernt, dachte Forel ärgerlich. Wie wollte man hier eine Elite heranzüchten, wenn man die Studenten täglich am Weingott vorbeispazieren liess?

Forel war nicht als Abstinenzler vom Himmel gefallen. Er war Waadtländer, und das tägliche Glas Wein war ein Naturgesetz, das auch ihn in jungen Jahren unterwarf. Vor seiner Antrittsvorlesung hatte er damals sogar ein Gläschen Cassisschnaps heruntergestürzt, um sich zu ermutigen. Aber dann wurde er Wissenschaftler. Ein Apostel der Wahrheit. Erkannte, dass der Alkoholismus die Kulturnationen ruinierte und eine inferiore Menschenrasse heranbildete. Entwickelte die Hypothese der Blastophtorie oder Keimverderbnis, wonach der Alkoholabusus nicht nur das Körpergewebe, das Gehirn und die Sitten entartet, sondern auch die Nachkommenschaft. Der Alkohol war die Geissel der Menschheit, verantwortlich für die tausendjährige Fortwucherung des Unheils in der Welt, für den Niedergang des ganzen Menschengeschlechts.

Nun tranken also an der Jubiläumsfeier von Auguste Forel, der auf einem von Weinbergen umgebenen Gut am Genfersee aufgewachsen war, alle Gäste Wasser. Dennoch herrschte im Göttergarten ein ungezügeltes Gerede wie an einem Winzerfest. Seine Tochter Martha redete über ihre Fortschritte in Esperanto. Ihr Mann Arthur redete über eine neue Religion. Annelise Rüegg redete über ihre Erlebnisse als Serviertochter. Brupbacher redete über den Sinn des Lebens. Bleuler redete, als wollte er Forel den Geburtstag vermiesen, über Freud. Und Ludwig Frank hörte ihm auch noch aufmerksam zu. Am liebsten hätte sich Forel zu Orpheus gesellt und seinem stummen Gesang gelauscht.

Erleichtert vernahm er den Appell von Bleuler – offenbar heute so etwas wie der Zeremonienmeister –, sich in die Aula zu begeben, woraufhin das Palaver endlich abriss und sich die Kirmesstimmung beruhigte.

Neben dem Rednerpult standen Blumen, dahinter hing ein Banner mit der Aufschrift «Labor omnia vincit». Das war alles. Aber die Aula besass auch ohne hilfloses Zutun genug an Opulenz. Mit ihrem Halbrund, der Kassettendecke und all dem Marmor war sie für Forel ein Ort von beinahe königlicher Würde. Er setzte sich auf den für ihn vorgesehenen Stuhl in der ersten Reihe. Links von ihm nahm Emma Platz, rechts sein Sohn Oscar, auf den er seit dem Tod Edouards alle seine Hoffnungen setzte.

Zu Forels Entsetzen eröffnete Otto Volkart die offiziellen Festlichkeiten mit demselben Gedicht, das er bereits vor einem Jahr im «Schweizer Freidenker» publiziert hatte, um ihm zum 69. Geburtstag zu gratulieren. Und noch immer hatte er den unreinen Reim in der ersten Strophe nicht behoben. Otto Volkart war ein treuer Vorkämpfer gegen den Alkoholismus und hatte soeben einen gut besuchten Vortragszyklus über die Geistesheroen der Neuzeit hinter sich. Beim Dichten aber reimte er bevorzugt «Vaterland» mit «Gottes Hand», was Forel, zumal Internationalist und Atheist, immer wieder von Neuem zusammenfahren liess. Als hätte die Presse nicht kürzlich Otto Volkarts Rezitationsabend in St. Moritz gründlich verrissen, rezitierte Otto Volkart munter in monotoner Manier: «Nun danken wir heute ihm still, voll Freude pocht das Herz schneller, das mächtig aufjubeln will: Gegrüsst! Du machtest uns heller.»

Nach drei beschämenden Sekunden der Stille begannen alle im Saal freundlich zu klatschen, alle ausser Otto Volkart selbst und Forel, mangels zweier funktionierender Hände.

Otto Volkart blieb stehen, drehte das Blatt auf der Pultablage um und machte damit aus dem verhaltenen Schlussapplaus einen beachtlichen Zwischenapplaus. Tiefsinnig blickte er zur Decke und sprach: «Labor omnia vincit, die Arbeit besiegt alles – das ist Forels Wahlspruch von Jugend auf gewesen; die arbeitsamen Ameisen sind in dieser Hinsicht sein Vorbild. Er, der beste Kenner dieser Tiere mit dem hochentwickelten sozialen Instinkt, der die berühmteste Ameisensammlung sich angelegt hat und so viel Interessantes auf dem Gebiet dieser Wissenschaft fand, er verlangt von dem Menschen, dass er seine Abstammung aus der Tierreihe erkenne, dass er seine Raubinstinkte beherrschen lerne und dass er mit Anerkennung der Tatsachen der modernen Naturforschung eine wirklich brauchbare, ethisch-soziale Gemeinschaft mit aufbauen helfe. Folgen wir diesem guten Führer!»

Dieses Mal erklang der Applaus unverzüglich. Und auch Forel hatten die Worte gefallen. Otto Volkart, man musste es so sagen, lief insbesondere dann zur Höchstform auf, wenn er nicht reimte. In der Tat war die Evolutionslehre die grösste Errungenschaft des 19. Jahrhunderts. Sie hatte dem Dualismus zwischen Körper und Seele den Todesstoss versetzt. Nun lag es am 20. Jahrhundert, daraus die Konsequenzen zu ziehen.

Zufrieden trat Otto Volkart ab und übergab an Bleuler, der das Rednerpult mit seiner charismatischen Natur sogleich in einen Altar verwandelte. Einst Forels Schüler, war Eugen Bleuler längst selber zu einer Koryphäe geworden. Von ihm geprägte Begriffe wie «Schizophrenie» oder «Autismus» hatten sich in der Fachwelt der Psychiatrie durchgesetzt. Seit bereits zwanzig Jahren gebot er als Direktor über die Irrenanstalt Burghölzli und verwaltete dort Forels Erbe.

Ohne Eile strich er sich über den wie immer bestens gepflegten Bart. Er streifte Forel mit einem gewogenen Blick, bevor er sich an die ganze Festgemeinschaft richtete: «Die Ungunst der Zeit erlaubte nur einem winzigen Bruchteil aller derjenigen, die ihn verehrten, sich zu beteiligen. Im Namen der Ungezählten aber danken wir ihm hier für alles, was er der Wissenschaft und der Menschheit gegeben hat.»

Bleuler erläuterte diese Gaben in einer Tour d’Horizon durch die Gehirnanatomie, den Hypnotismus, die Sozialhygiene, die Ameisenforschung – die Flüchtigkeit seiner Würdigungen war ihm dabei verziehen – und spannte dann den Bogen zur Gegenwart: «Durch den Schuster Bosshard, der später in der ihm hauptsächlich von Forel begründeten Trinkerheilstätte Tausende aus dem Unglück herausriss, über die Wirkung der Totalabstinenz belehrt, setzte er seine neue Erkenntnis mit der ihm eigenen Tatkraft sogleich in ein Wirken um, das auf lange hinaus Früchte tragen wird.»

Forel musste sich konzentrieren. Einer so aberwitzigen Syntax war er zum letzten Mal im Gymnasium bei Heinrich von Kleist begegnet.

«Mit Bunge zusammen ist er der Begründer der kontinentalen wissenschaftlichen Abstinenzbewegung, die in der kurzen Zeit ihres Bestehens ungeahnte Fortschritte gemacht hat.»

Wo war eigentlich Bunge? Forel blickte sich beiläufig über die Schulter. Emma hatte recht gehabt. So gleichgültig war es ihm tatsächlich nicht, wer an sein Ehrenfest kam, und vor allem, wer nicht kam. Bunge also war möglichenfalls nicht hier. Adolf Meyer war mit Sicherheit nicht hier, denn der lehrte inzwischen in Amerika, und wer wollte es ihm verdenken, dass er momentan nicht ins europäische Minenfeld reiste, um mit seinem alten Professor ein Glas Wasser zu trinken, zumal sich Meyer noch nicht zur Totalabstinenz durchringen konnte. Haeckel war auch nirgends zu sehen, aber immerhin hatte er ihm als vorzeitige Geburtstagsüberraschung eine Qualle gemalt. Forel stellte fest, dass Bleuler immer noch über ihn sprach.

«Die Sorge für eine bessere Zukunft der Menschen erschienen ihm als seine eigentliche Aufgabe. Er wurde Eugeniker, und in seiner ‹Sexuellen Frage› verdichtete sich ein wichtiger Teil seiner Anschauungen auf diesem Gebiete.»

Emma nahm seine Hand und drückte sie liebevoll. Es war schon erstaunlich. Er, der den Frauen und dem fleischlichen Verlangen bis zum 35. Lebensjahr entsagt hatte, war mit seinem epochemachenden, in sämtliche Kultursprachen übersetzten Werk zum Volksaufklärer geworden. Sein Buch regelte den Geschlechtsverkehr einer ganzen Generation.

«Denn als Kämpfer ist er geboren, und was er am meisten hasst, das sind Vorurteile und Heuchelei. Und jetzt wieder kämpft er als Einzelner unter Millionen für eine Verständigung unter den Völkern und die Verhinderung von Blutkatastrophen. In dem Kanonendonner und dem zur Weltlohe künstlich angefachten Hass wird seine Stimme noch wenig beachtet. Wer aber will leugnen, dass auch diesen Ideen die Zukunft gehört?»

Frenetischer Applaus. Nach dieser Lobhudelei, die Forel durchaus peinlich war, widmete man sich endlich der Sache, die der Grossteil der Anwesenden am meisten liebte: der Wissenschaft.

Doch dann kam Ludwig Frank schon wieder mit Freud. So wenig Forel die persönlichen Huldigungen brauchte, noch weniger wollte er an seinem Geburtstag Freud gehuldigt haben, diesen Übertreiber mit dem unmoralischen Hervorsuchen sexueller Komplexe. Anschliessend referierte Hans Bertschinger über die Kommotionspsychose und stellte den Fall vor, in dem ein Sattler nach einem alkoholbedingten Sturz Rosshaare an den Wänden sah, eine Kuh als «Rose» bezeichnete und die Farbe des Himmels nicht mehr bestimmen konnte. Danach erörterte Julius Donath, Ordinarius in Budapest, die Errötungsfurcht und illustrierte – bildete sich Forel das bloss ein? – die Phobie gleich mit sich selbst.

Er bemerkte, dass es ihm zu viel wurde. Dass er vielleicht älter war, als er gedacht hatte. Er war siebzig, natürlich, das waren die wissenschaftlichen Fakten. Er war siebzig und halbseitig gelähmt. Das bedeutete wohl, dass der grösste und beste Teil seines Daseins vorbei war. Es gab kaum Argumente dagegen. Doch er hatte in seinem Leben über so viele Dinge nachgedacht, dass er keine Zeit damit verschwendet hatte, an seine eigene Endlichkeit zu denken.

«Dial-Ciba ist als Derivat der Barbitursäure ein naher Verwandter des Veronals», sagte Ordinarius Donath, nein, es war gar nicht mehr Donath, jetzt stand ein anderer dort, Assistenzarzt Christoffel. «Bei vierundzwanzig weiblichen Geisteskranken der unruhigen Abteilungen machten wir Vorversuche. Die einzelne Patientin erhielt bis zu elf Mal nacheinander Dial-Ciba, zwei Fälle, in weiteren zwei Fällen wurde es sechs, in je drei Fällen fünf und vier Mal, in fünf Fällen drei, in einem Falle zwei und in acht Fällen nur einmal verabreicht ...»

Langsam spürte Forel, wie er leicht und locker wurde, wie er fortgetragen wurde, fort von dieser Welt. Er sah ein Mädchen mit leeren Augen, das er zuerst gar nicht erkannte, aber als es näher kam und an seiner Hose zupfte, wusste er, es war seine Tochter Cécile, die für immer neun Jahre alt blieb. Er sah seinen Sohn Edouard, dem er noch mehr zugetraut hatte als sich selbst, doch inmitten des medizinischen Staatsexamens prüfte ihn der Typhus. Jetzt wird alles wieder gut, dachte Forel, bevor die beiden in der Dunkelheit verschwanden. Er hörte Schreie. Er folgte ihnen. Er erblickte seinen Habilitationsvater Gudden und den irre gewordenen Märchenkönig Ludwig im Wasser. Hilflos blieb er am Ufer stehen und sah dem Todeskampf zu, bis er zu Ende war und der Professor mit dem König auf den Grund sank. Dann erschien Edouard Steinheil. Gemeinsam trieben sie auf der Silesia über den Ozean, das tiefe Wasser schimmerte kobaltblau, endlich kam die Insel St. Thomas in Sicht. Sie waren jung, sie waren begierig, sie wollten Ameisen sehen. Doch Edouard wurde bleich, glühte und fror. Forel eilte an Land und suchte den Notarzt. Plötzlich, auf einer Baumrinde, eine winzig kleine Ameise. Wie schön sie war. Wie kostbar, und wie schnell. Er musste sie haben. Der Notarzt. Die Ameise. Edouard. Forel fing die Ameise und verlor seinen Freund. Er kam zu spät. Er hatte ihr nichts davon gesagt, der 12-jährigen Tochter von Edouard. Auch nicht, als sie siebzehn war und aus dem Fräulein Emma Steinheil Frau Professorin Emma Forel wurde, und auch später nicht.

«Lügst du?», hörte er.

«Was?»

«Schläfst du?», fragte Emma leise.

«Nein.»

Er war wieder hellwach. Während er eine Freudsche Traumdeutung unterdrückte, gingen die Referate weiter. Die Wissenschaft schlief nie. In Emmas Hand entdeckte er ein Festprogramm. Er beugte sich vor. Noch drei. Der nächste war Johann Josef Jörger, inzwischen Direktor der psychiatrischen Klinik Waldhaus. Hemdsärmelig ergriff er mit beiden Händen die Dokumentablage des Rednerpultes und begann, im spannungserzeugenden Ton eines Geschichtenerzählers, seinen Vortrag: «Im 18. Jahrhundert kam von Österreich, Bregantium her eine heimatlose Familie Markus in unser Land. Aus dieser Familie fanden zwei Brüder mit ihrer Schwester einen Erwerb als Schinder in einem abgelegenen Hofe der einsamen Berggemeinde Bernau, wo die Schwester in einem Stalle gestorben sein soll. Der eine dieser Brüder hatte in der Folge nur Töchter als Nachkommen, die auswärts verheiratet wurden oder ledig gestorben sind. Der andere Bruder, Abraham Markus, geboren 1807, wurde so lange in Bernau geduldet, bis er durch Zwangseinbürgerung der Gemeinde zufiel. Abraham war Wasenmeister, Flicker von allen erdenklichen Sachen und ein überaus guter Glockengiesser. Seine Kuhglocken sollen jetzt noch hoch im Ansehen stehen.»

Jörger war ein drahtiger Mann mit leicht abstehenden Ohren und einer tiefen, etwas näselnden Stimme. In seinem Hochdeutsch verriet sich seine Herkunft, klang sein erdiger Bündner Dialekt durch. Die einleitenden Worte in die Schrift, die den schnörkellosen Namen «Die Familie Markus» trug, überraschten Forel nicht. Das war Jörger, wie man ihn kannte. Sein Blick war oftmals ein historischer, anekdotischer, um nicht zu sagen, ein melancholischer, in dem sich eine Sehnsucht nach der Vergangenheit verbarg. Als junger Mann war Jörger von den Bergen herabgestiegen und hatte in der Stadt studiert, aber nicht, um sich der Welt zu öffnen, sondern um als Doktor wieder in die Berge zurückzukehren. Forel war den Verdacht nie losgeworden, dass es Jörger in der Wissenschaft nicht in erster Linie um Wissen ging. Vielmehr ging es ihm darum, seine geliebte Heimat zu pflegen, sie vor den dunklen Mächten zu bewahren – sie zu beschützen.

«Bei seinem im Jahre 1888 erfolgten Tode waren ihm 107 direkte Nachkommen geboren. Im Jahre 1910 war seine Nachkommenschaft auf 254 Menschen gestiegen, und im Frühjahr 1915 ergab sich die Zahl von 371 Köpfen. Ein Aussterben dieser Familie ist also nicht zu befürchten, denn die Vermehrung schreitet voran in scharfem Wettkampfe mit dem biblischen Vater Abraham.»

Schmunzeln im Publikum, doch Forel störte sich ein wenig an diesem literarischen Jargon, unter dem die wissenschaftliche Seriosität mitunter litt. Kürzlich hatte der Anstaltsdirektor Jörger gar eine Geschichtensammlung mit dem Titel «Urchigi Lüt» veröffentlicht. Forel hatte sie nicht gelesen. Gab es derzeit nichts Dringlicheres, als mit Dichtung seine eigenen Eitelkeiten zu pflegen?

«Die Zahlen des Stammbaumes Markus zeigen, in welch kurzer Zeit ein kleines Gemeindewesen durch ein asoziales Proletariat beinahe überflutet werden kann, wenn nicht rechtzeitig geeignete Massnahmen, die allerdings schwer zu nennen sind, dagegen ergriffen werden. So ist denn eine ausgiebige Besserung nur sehr langsam zu erwarten, wenn nicht die stärkere Hand des Staates eingreift, die Lebensform und die Bedingungen zerstört, unter denen die Auswüchse entstanden sind und durch die sie noch erhalten werden.»

Soweit Forel beurteilen konnte, handelte es sich hier um eine Art Fortsetzung der Arbeit über die sittenlose Familie Zero, die Jörger bereits vor über zehn Jahren verfasst hatte. In den Beschreibungen jener vom Alkohol zugrunde gerichteten Vagantenfamilie hatte Forel seine eigene These zur Keimverderbnis eindrucksvoll bestätigt gefunden, und er nahm an, dass Jörger bei seinen neuesten Nachforschungen wiederum ähnlich vorgegangen war: Ein allgemeiner Teil fasste das Wesen der Familie zusammen, ein besonderer Teil schilderte die abnormen Charakterzüge einzelner Familienmitglieder, und ein abschliessender Stammbaum stellte das ganze, immer wieder den Deszendenten vererbte Elend übersichtlich dar. Ein Albtraum. Doch auf der Empore sah Forel ein Lächeln aufblitzen. Es gehörte Paulina Jörger. Sie war eine bemerkenswerte Frau, mindestens so starrköpfig wie ihr Gatte. Von den heimatlichen Wurzeln im Valsertal, die Jörger dauerhaft festhielten, hatte sie sich nie umwickeln lassen und unterrichtete derzeit in Mailand. Offenbar hatte Forel, der erfolgreiche Ehepädagoge, die beiden wieder einmal zusammengeführt.

Derweil setzte Johann Josef Jörger auf seine unnachahmliche Weise zum Schlussbouquet an: «Ich übergebe diese durch manche Jahre hingeschleppte biologische Arbeit dem Drucke zum siebzigsten Geburtstage meines verehrten Lehrers und Freundes, Professor Dr. Auguste Forel. Sie möge einen kleinen Beitrag bilden zu den hohen Gedanken und Anregungen, die der grosse Forscher und Menschenfreund über Rassenprobleme in seinen vielen Schriften mit kühnem Schwunge niedergelegt hat. An meine Familiengeschichten liessen sich mancherlei derartige Erörterungen anknüpfen, die ich mir versagen muss. Nur einem Gedanken möchte ich kurzen Ausdruck geben. Die von mir geschilderten Familien mit ihren gesellschaftsfeindlichen Eigenschaften wurzeln im Dreissigjährigen Kriege. Sie haben seither mit größter Zähigkeit am Leben der Heimatlosen festgehalten. Wir erleben heute den schrecklichsten aller Kriege. Die Besten verbluten, die Guten werden krank oder verderben, die Schwachen bleiben als Träger der Fortpflanzung. Wie viele Gesellschaftsfeinde irgendeiner Art mag dieser Krieg gebären? Wie viele Jahrzehnte und Jahrhunderte werden zur Ausmerzung dieser Kriegssaat nötig sein? Dies irae, dies illa!»

Zu den letzten Worten hielt Jörger kämpferisch sein Glas Wasser in die Luft, Wasser so klar und rein, als wäre es soeben aus einer Valser Quelle gesprudelt. Und trotz des düsteren Bildes, das Jörger gezeichnet hatte, sah Forel in diesem Glas Wasser die Hoffnung aufleuchten. Seine Zuversicht kehrte zurück, seine Kraft, sogar in der rechten Hand spürte er plötzlich ein aufbruchartiges Ameisenkriechen. Zu Beginn seines Kampfes gegen den Alkoholgenuss hatte ein Intelligenzblatt ihn für den verrücktesten aller Geisteskranken in der Irrenanstalt Burghölzli erklärt. Was war seither nicht alles geschehen. All die Eroberungsreisen, Kongresse in allen namhaften Metropolen, Logengründungen von Brüssel bis Athen. Der Kanton Waadt hatte den Absinth verboten. Russland hatte den Wodka verboten. In den USA hatte man schon zahlreiche Staaten trockengelegt, und die wackeren Isländer erfreuten sich bereits der Prohibition. Es lag in der Pflicht der gebildeten, ethisch höher fühlenden Menschen, ihren allerschlimmsten Feind zu vernichten. Man musste die Wirtschaften in Kaffeehäuser umwandeln, sämtliche alkoholischen Getränke ausrotten und den Alkohol gänzlich in das chemische Laboratorium verbannen. Dann konnte die Zukunft beginnen.