Chur, Graubünden
1920
Am Nachmittag war sie in der Postkutsche fiebrig der Zukunft entgegenfahren, jede Kurve ein Versprechen, jedes Schlagloch ein Abenteuer. Jetzt aber, angekommen in der Gegenwart der Stadt, trug sie ihren Koffer zögerlich über den Churer Bahnhofplatz, ihr Schritt war unsicher, ihr Blick suchend, als hätte sie soeben vergessen, wohin ihre Reise führte. Entkräftet liess sie den Koffer auf das Kopfsteinpflaster fallen, richtete noch einmal ihre Sommerbluse, wischte sich die Haarsträhnen aus der Stirn – und mit der Befangenheit der neunzehnjährigen Frau, die ihr Dorf neunzehn Jahre lang kaum verlassen hatte, betrachtete sie das Gebäude, das sich vor ihr wie eine zauberhafte Erscheinung erhob. Einige tiefe Atemzüge später folgte sie dem Ruf der Neugier, riss den Koffer wieder hoch und betrat zum ersten Mal in ihrem Leben ein Hotel.
Ein gewölbter, von Säulen gestützter Raum, mit Ornamenten verzierte Wände, ein funkelnder Kronleuchter – schon das Foyer war prunkvoller als die Kirche in Zorten. Aus einem anderen Raum drang Musik, die sie einschüchterte, ein beklemmendes Akkordeon, eine rauchige Stimme, Hochdeutsch. Wo es solche Musik gab, vollzogen sich krumme Geschäfte wohl fast von selbst. Um den Anschein von Gelassenheit bemüht, stellte sie den Koffer auf den roten Teppichboden und sah sich unauffällig um. Hinter dem Tresen der Rezeption bewegte sich ein Hut.
Er gehörte einem knabenhaften Mann, der soeben mit der Zunge über eine in Entstehung befindliche Zigarette gleiten wollte. Unverrichteter Dinge liess er die Zunge in den Mund zurückkehren.
«Guten Abend», sagte sie, während er mit dem Gästebuch unbeholfen versuchte, die Indizien seiner Beschäftigung zu verbergen. Vor ihm lag ein Häufchen Tabak, daneben eine ganze Zeile Zigaretten, aneinandergereiht wie die Tasten eines Klaviers.
«Wie kann ich Ihnen helfen?», fragte er, seiner Überraschung immer noch nicht Herr geworden, «haben Sie reserviert?»
«Nein, ich – »
«Das war auch nicht nötig, wir finden schon ein Zimmer für Sie.» Er lachte ungestüm und drehte sich zum Schlüsselbrett um. Kein einziger Schlüssel fehlte.
«Ich werde hier arbeiten.»
«Ach.» Ein verlegenes Lächeln stahl sich in sein Gesicht. «Fräulein Eugster?»
Maria Ursula Eugster nickte.
«Na dann auf gute Zusammenarbeit!», sagte der Empfangsherr, stand auf und entfernte sich einen Tabakfaden von den Lippen.
Er geleitete sie in den Raum, in dem die Musik spielte, die Hotelbar. Von der Decke hingen ein paar milchige Lampen, die aussahen wie Glocken, es war dunkler als im Foyer, ansonsten ging es hier harmloser zu und her, als sie befürchtet hatte. Kein Tanz, kein Kartenspiel, keine Spur von Ordnungswidrigkeit. Der Empfangsherr führte sie an einen runden Tisch und schob ihr galant den Stuhl zurück.
«Der Portier wird sich gleich um Sie kümmern», sagte er. «Bis er kommt, hören Sie doch eine Weile dem Deutschen zu.»
Der Deutsche besang in zärtlichen Worten seine Zuneigung, aber Maria Ursula wusste nicht recht, ob zu einer Frau oder zum Kaiser. An der Bar standen drei Soldaten mit Schweizerkreuz am Oberarm, tatenlos wie während des ganzen Weltkriegs. Der Barmann versteckte sich hinter dem Zapfhahn und betrachtete seine Hände. In der Ecke mühte sich ein Gast trotz Zuhilfenahme des befeuchteten Zeigefingers damit ab, die Zeitungsseite umzublättern. Es handelte sich hier wahrlich nicht um einen pulsierenden Knotenpunkt des Fremdenverkehrs.
Maria Ursula fand, dass sie sich mit dem Buch gut in dieses Stillleben einfügen würde. Ihre Mutter hatte es ihr zum Abschied verlegen in die Hand gedrückt, und sie hatte es verlegen in Empfang genommen. Nun legte sie es auf den Tisch und schlug es sofort auf, damit niemand den Umschlag zu Gesicht bekam. In grosser Frakturschrift, die dem Buch die Weisheit einer Bibel verlieh, stand dort geschrieben: «Prof. A. Forel. Die sexuelle Frage». Sie blätterte im Buch, wesentlich erfolgreicher als der Gast in der Zeitung. Natürlich hatte sie eine gewisse Vorahnung, worum es in diesem Buch ging, sie hatte eine ältere Cousine und einen vorlauten Nachbarn. Aber ein ganzes Buch hätte sie mit ihrem Wissen dann doch nicht füllen können, es gab also noch Geheimnisse. Sie fragte sich, ob Mutter das Buch eigens für sie besorgt hatte, oder ob sie es schon länger besass und sich selbst von ihm unterweisen liess. Zahlreiche Seitenknicke, eine gepresste Mücke und ein Haar deuteten auf ein früheres Studium hin. Schliesslich stiess sie sogar auf ein Lesezeichen: Zwischen den Seiten sechsundneunzig und siebenundneunzig lag ein dünnes rotes Band, das am einen Ende einen Knoten hatte und am anderen Ende versengt war. Jemand hatte es einmal über die Flamme einer Kerze gehalten, stellte sich Maria Ursula vor, während sie mit dem Fingerrücken über das Band strich. Jemand hatte es aus Verzweiflung angezündet und aus Verzweiflung wieder gelöscht. Eine schwer erträgliche Spannung ging von dem schönen entstellten Band aus, ein Kräftemessen zwischen der Liebe und der Wut. Und da das Band noch da war, sah es ganz danach aus, als hätte die Liebe am Ende gesiegt.
«Jeder Tag ist der Anfang des Lebens. Jedes Leben ist der Anfang der Ewigkeit.»
Sie schreckte hoch. Der Barmann stand neben ihr.
«Das ist Rilke», sagte er, wobei er wie ein Priester die Arme hob. «Und ich bin Ihr Diener. Ich heisse Sie willkommen, verehrtes Fräulein.»
Rasch klappte sie das Buch zu, und da die Deckenlampe nun direkt auf den verräterischen Titel leuchtete, drehte sie das Buch auf den Frontdeckel. Jetzt konnte es ein Heimatroman sein.
«Sie müssen Hunger haben, nach Ihrer Reise.»
Er hatte in der Tat schöne Hände. Sie ragten aus einem langärmligen weissen Hemd, das er mit einer schwarzen Fliege veredelte. Aber ein majestätischer Schnurrbart, der wie von der Fliege abgekupfert schien, ruinierte die ganze Erscheinung.
«Darf ich Ihnen unser Menü vorstellen?» Während er sprach, zitterte der Schnurrbart auf und ab. «Hors-d’oeuvre variés, consommé diplomate, truite de rivière, sauce beurre fondu, pommes de terre en serviette, quartier d’agneau à la Flamande, médallions de veau à la Piémontaise, chaud-froid de poularde truffée, fonds d’artichauts avec sauce béarnaise, punch romain, selle de chévreuil avec sauce crème aigre, salade coeur de laitue, pêches à la Richelieu, bombe Suédoise, gâteau Balzac, friandises, fruits, dessert, café-liqueurs.»
Das klang nach Französisch, dachte Maria Ursula und fragte: «Kann ich eine Scheibe Brot haben?»
Er sah sie schweigend an. Der Schnurrbart, so schien es nun, verschloss ihm den Mund. «Wissen Sie», sagte er dann doch, «was ich Ihnen gerade vorgetragen habe, verstehe ich auch nicht.»
«Wie können Sie sich dann alles merken?»
«Mir war langweilig.»
Sein Blick entspannte sich und gab ihr die Erlaubnis, zu lachen. Vielleicht hatte der Barmann trotz seines Schnurrbarts Humor.
Er beugte sich zu ihr und fragte leise, als zöge er sie in eine Verschwörung hinein: «Darf ich Ihnen wenigstens ein Stück Schwarzwäldertorte bringen?»
«Eine Scheibe Brot, bitte.»
«Natürlich», sagte er und entfernte sich mit einer kleinen Verbeugung.
Sie wartete, bis er sich ausser Reichweite befand, dann schlug sie das Buch wieder auf. Sie bemerkte, dass sich das Buch verändert hatte. Es war ein Unterschied, ob man es als Tochter in der elterlichen Stube in den Händen hielt oder hier, als Fräulein in der schicken Hotelbar im Zentrum der Stadt. In Obervaz war es etwas Schuldbewusstes gewesen, in Chur war es etwas Faszinierendes. Maria Ursula widmete sich dem Buch mit einer Neugier, die kaum im Sinne der Mutter war.
«Der Flirt», las sie, und schob das rote Band aus dem Text. «Sucht man in einem englischen Wörterbuch nach dem Sinn des Wortes ‹Flirt›, so findet man als Übersetzung: Koketterie, Launenhaftigkeit, Ausgelassenheit, Hofmacherei. Der heutige Begriff des Flirtes dagegen gehört unbedingt zum direkten Geschlechtstrieb, als formenreiche Skala eines Ausdruckes beim Manne wie beim Weibe.»
Sie spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss, und ärgerte sich darüber. Sie sass allein am Tisch, nur sie und das Buch. Und der Professor, aber der bestand nur aus Buchstaben. Warum also zierte sie sich? Der Geschlechtstrieb. Es lag an diesem einen Wort. Landläufig wurden solche Wörter gemieden. Der Professor hingegen schrieb sie ungeniert auf. Trotzdem lasen sich seine Ausführungen so nüchtern wie ein Backrezept.
«Es gibt ein gutes altes deutsches Wort für die gewöhnlichere Art des ‹Flirten›, das ist das Wort ‹poussieren›. Der Blick spielt darin eine grosse Rolle, denn er kann sehr viel verraten und dadurch mächtig wirken. Der Händedruck, blosse Annäherung, ein Hauch, eine scheinbar unbeabsichtigte Bewegung, Streifen der Kleider und der Haut sind die gewöhnlichen Mittel des Flirtes.»
Ein Hauch? Sie hielt sich die Hand vor den Mund und probierte es aus. Es fühlte sich wie Gähnen an, und damit liess sich wohl kaum eine mächtige Wirkung erzielen. Bevor sie umblätterte, legte sie sich das Lesebändchen über das Handgelenk und fand, dass es hübsch aussah. Es gelang ihr, die Enden zusammenzuknüpfen, und schon war sie mit einem eleganten Armband ausstaffiert. Sie las weiter.
«Diese stumme Sprache pflegt zunächst in vorsichtiger, unverfänglicher Weise gesprochen zu werden, so dass der angreifende Teil nicht direkt der Unanständigkeit beschuldigt werden kann. Merkt aber dieser Flirtsuchende, dass seine leisen Einladungen irgendwie beantwortet werden, so wird er dadurch ermutigt und dann, wenn beiderseits ein stummes Einverständnis vorliegt, geht das Spiel weiter, ohne dass nur ein Wort die Gefühle beider Teile zu verraten braucht.»
«Voilà, Madame!» Leichtfüssig wie er war, hatte sich der Barmann wieder an ihren Tisch geschlichen. Dieses Mal gab sich Maria Ursula keine Mühe, das Buch vor seinen Augen zu verstecken, sie schob es bloss aufgeschlagen zur Seite. Während er mit einer scheinbar unbeabsichtigten Bewegung über ihre Schulter strich, servierte er das Abendmenü und hauchte: «Bon appétit.»
Auf einem Porzellanteller mit goldenem Rand präsentierte sich eine vorzügliche Scheibe Brot. Daneben aber lagen wie eine Himmelsgabe zwei durch die Stiele miteinander verbundene Kirschen. Ein Paar Kirschen, das war ihr erster und bislang einziger Ohrenschmuck gewesen. Doch die Kirschen auf dem Teller waren nicht die Kirschen aus ihrer Kindheit. Rot wie das Band an ihrem Handgelenk glänzten sie auf dem hellen Porzellan, wo sie sorgfältig platziert worden waren, weder als Schmuck noch als Nahrung. Sie waren – ein Zeichen? Oder übertrieb sie es bereits mit dem Lesen der stummen Sprache? Auch möglich. Vielleicht war sie einfach hungrig. Sie begann, zu dinieren.
Tatsächlich aber glaubte sie, dass sich nicht nur das Buch und die Kirschen entwickelt hatten, sondern die ganze Stimmung in der Bar. Der Barmann, der seinen Müssiggang zuvor noch kess zur Schau gestellt hatte, spülte jetzt Geschirr und wurde wieder zu einem unerlässlichen Glied des Hotelbetriebs. Die drei jungen Soldaten tranken nun fleissiger, zogen genüsslicher an ihren Zigaretten und machten dabei Mienen, als täten sie etwas furchtbar Wichtiges. Der Gast in der Ecke interessierte sich nicht mehr für die Ereignisse ausserhalb des Hotels und hatte die Zeitung zusammengefaltet. Und auch der Sänger war nicht mehr der gleiche wie zuvor. Sein Auftritt war engagierter geworden, er spielte nun mit mehr Gefühl, sang mit mehr Herz: «Und ist dann der Krieg, der blutige, aus, und kehr ich dann wieder zu dir Schatz nach Haus, dann wirst du mein Weib, ach ich freu mich schon sehr, drum bleibe mir treu, Lieb, und weine nicht mehr.» Aber der Einzige, der hier zu weinen drohte, war er selbst, und gelegentlich liess er seinen Blick, als prüfte er die Wirkung seiner Empfindsamkeit, mit jenem von Maria Ursula kreuzen. Normalerweise achtete sie bei Liedern nicht so sehr auf die Worte. Doch jetzt, bei diesem Lied, das sie nicht kannte, nahm sie die Worte wahr, und konnte sich nicht des seltsamen Gefühls erwehren, dass der Sänger sich an sie wandte.
Sie beobachtete, dass sie beobachtet wurde. War das bereits das Spiel, vor dem der Professor gewarnt hatte? Um sich nicht noch weiter darin zu verlieren, versuchte sie weiterzulesen.
«Im High Life unserer reichen, modernen Nichtstuer, in den Bädern, Spiel- und Vergnügungsorten, feinen Gasthöfen und sogar in manchen Kurorten und Sanatorien spielt der Flirt eine ganz hervorragende Rolle und bildet die Hauptbeschäftigung eines grossen Teiles der Gäste. Er wuchert üppig an allen Orten, wo Menschen einseitig beschäftigt oder gelangweilt sind. Bei manchen Menschen ersetzt der Flirt überhaupt sexuell den Beischlaf und gemütlich die Liebe. Es sind dies alle jene modernen, entgleisten Kreaturen, deren Dasein in allen Nuancen künstlich sinnlicher Reizungen aufgeht und die keiner kräftigen, nützlichen Tat überhaupt mehr fähig sind.»
Warum war sie eigentlich hier? Natürlich hätte sie es leichter haben können. Sie hätte nur an die Tür des Nachbars klopfen müssen, um ihm zu sagen, sie sei einverstanden. Dem Gatten dienen und dem Herrgott und bald den Kindern, und die Welt wäre zufrieden gewesen. Aber sie nicht. Oft hatte sie sich aus dieser Welt hinausgeträumt, hinein in eine andere Aufgabe, in ein anderes Milieu, doch schon auch in das Herz eines schneidigen Mannes. Nun sass sie da, als Hauptattraktion im Churer High Life, inmitten dieser modernen, entgleisten Kreaturen, und schob sich eine Kirsche in den Mund.
«Fräulein Eugster?»
Immer diese lautlosen Schritte. Es musste am Teppich liegen. Wider Erwarten stand nicht der Barmann vor ihr, sondern der Empfangsherr. Verschmitzt schaute er unter der Krempe hervor, sah ihr in die Augen, doch dann stürzte sein Blick ab, trudelte über ihren Hals und die Bluse, bis er sich an der Tischkante fing und wieder auf Kurs kam. Es war ein Manöver, das sie von ihrem Nachbar kannte.
«Darf ich Ihnen eine Zigarette anbieten?» Er streckte ihr die angesprochene Zigarette so stürmisch hin, dass sie schon fast in ihrem Mund landete.
Ein Raucher. «Danke», sagte sie, «ich rauche nicht.»
«Ich eigentlich auch nicht.» Er machte ein besonnenes Gesicht.
Ein Schwindler. «Und wozu dann all die Zigaretten?»
«Um sie schönen Frauen anzubieten.»
Ein Schmeichler. Maria Ursula lächelte. Vielleicht war die Sache ja gar nicht so kompliziert. Auf dem Tisch lag das Buch, in dem der Professor aus jedem Blinzeln eine unentwirrbare Wissenschaft machte. Und vor ihr stand ein Mann, der sich über seinen flotten Spruch freute. Vielleicht rauchte, schwindelte und schmeichelte er gar nicht, da konnte sie sich täuschen, aber in einem gab es keinen Zweifel: Was er hier angezettelt hatte, war ein lupenreiner Flirt.
«Sie flirten mit mir, nicht wahr?», sagte sie.
«Was tu ich?»
«Sie poussieren mit mir.»
«Ich? Nein.»
«Nein?»
«Ich will nur freundlich sein.»
Er gefiel ihr trotzdem nicht. Das wusste sie, obwohl es beinahe das Einzige war, das sie über ihn wusste. Aber abgesehen von seinem Hut, der ihm nicht stand, war er wie die Bauern vom Land, und sie war nicht in die Stadt gekommen, um sich am ersten Abend von einem Bauern mit Hut verführen zu lassen.
«Wissen Sie, was hier geschrieben steht?» Sie tippte mit der Fingerspitze auf die aufgeschlagene Buchseite.
Misstrauisch musterte er das Machwerk.
«Männer», las sie, «deren Flirtversuche täppisch sind, pflegen den Erotismus des Weibes zu löschen, statt ihn anzuregen. Dieselben pflegen dann Pech beim schönen Geschlecht zu haben.»
Schon bereute sie, dass sie ihm die Passage vorgelesen hatte, zumal sie den Professor zunehmend der Hochstapelei verdächtigte. Woher nur wollte der sich im Garten der Leidenschaften so gut auskennen? Schliesslich war er ein Professor und nicht ein Frauenheld.
«Ich habe Ihren ... Erotismus gelöscht?», fragte der Empfangsherr leise und stockte beim Gebrauch dieses windigen Worts, das sie wahrscheinlich beide noch nie gehört hatten, und von dem sie wahrscheinlich doch beide richtig mutmassten, was es bedeutete.
«Hm. Das mit den Zigaretten, ein bisschen täppisch war das schon, nicht?»
«Ich fand die Idee ganz gut.»
«Schauen Sie. Ich möchte nicht eine Zigarette unter vielen sein. Ich möchte die eine Zigarette sein.»
«Ich habe die schönste ausgewählt.»
«Die schönste Frau?»
«Die schönste Zigarette.»
Sie gähnte und fragte: «Wo bleibt eigentlich der Portier?»
Der Empfangsherr begriff. «Vielleicht schläft er wieder», sagte er. «Ich erkundige mich.» Dann schlich er davon.
Ein Unglücklicher. Einen Moment lang überlegte sie, aus Mitleid doch noch mit dem Rauchen anzufangen, aber das wäre dann wohl doppelt unvernünftig gewesen.
Der Barmann arbeitete. Er nahm eine Flasche aus dem Regal, schraubte den Deckel ab, und noch während er die Flüssigkeit in ein Glas tröpfeln liess, gab er einen Löffel Zucker hinzu. Seine geschmeidigen Bewegungen vermischten sich zu einem Gesamtwerk wie das Getränk, das er zubereitete. Im Vergleich mit dem Empfangsherrn war er doch ein ganzes Stück manierlicher. Allein seine Hände waren eine Sehenswürdigkeit. Darüber hinaus kannte er gescheite Sätze und beherrschte die französische Aussprache. Bestimmt hatte er sein ganzes Leben in der Stadt verbracht. Sein grösstes Manko war der Schnurrbart, aber dagegen brauchte es nur eine scharfe Klinge. Als er einmal beiläufig in ihre Richtung starrte, setzte sie sich beiläufig die zweite Kirsche zwischen die Lippen.
Oberhalb der Spirituosen hing ein merkwürdiges Bild. Hinter viel zu spitzen Bergen ging die Sonne unter, aber es konnte auch der Mond sein, der aufging, aber eigentlich war die grosse ovale Scheibe weder die Sonne noch der Mond. In der Mitte des Bildes stand ein Haus, aber es hatte rote Mauern und ein blaues Dach. Vorne im Gras versammelten sich Menschen, aber es waren nicht wirklich Menschen, sondern Pinselstriche. Es war das Werk eines Kindes oder eines Irren – aber warum hängte man es dann an die Wand?
Als der Barmann mit der Kreation des Getränks fertig war, brachte er es zu Maria Ursula an den Tisch.
«Der Herr spendiert Ihnen einen Trunk», sagte er, ein wenig missmutig, wie ihr schien, und zeigte mit dem Schnurrbart in die Ecke.
Der Herr war der unbeholfene Zeitungsleser, der bis dahin ein völliges Desinteresse an der einzigen Frau in der Bar demonstriert hatte. Nun schien er auf das Startsignal des Barmanns gewartet zu haben. Entschlossen stand er auf, trat zu Maria Ursula an den Tisch und machte die leisen Einladungen, die der Professor so geduldig erforscht hatte, innert Sekunden lächerlich: «Die Dame – darf ich?», sagte er und küsste ihr die Hand. Dann setzte er sich zu ihr, als stünde ihm nach einem gelungenen Handkuss alles zu, was er begehrte. Immerhin war sein Vorgehen leichter zu entschlüsseln als die Worte des Sängers oder als die Kirschen, sogar leichter als die eroberungslustige Zigarette – weil es eben gar nicht verschlüsselt war. Und Maria Ursula erlebte einen kometenhaften Aufstieg vom Fräulein über die schöne Frau bis hin zur Dame. Sie war endgültig in Chur angekommen.
«Das ist Grog», sagte er und zeigte auf sein Glas, das er mitgebracht hatte. Offenbar hatte er sich selbst das gleiche Getränk spendiert. «Da, wo ich herkomme, da trinkt man das.»
Sein Hochdeutsch deutete auf Deutschland hin. In seiner Stimme aber lag ein ganz vertraulicher Ton – er sprach mit ihr wie mit einer alten Freundin, und vielleicht war es das, was sie beunruhigte.
«Wo kommen Sie denn her?», fragte sie aus Höflichkeit.
«Schwerin. Norddeutschland. Wunderbare Stadt, nur leider fest in sozialdemokratischer Hand. Nun, lassen wir das – und Sie?»
«Aus Obervaz.»
«Weit sind Sie ja nicht gerade gereist.» Er lächelte mit geschlossenen Lippen. «Aber warum auch weg aus Graubünden? Auf die Heimat!»
«Zum Wohl.»
«Ich bin übrigens der Wilhelm.»
«Maria Ursula.»
Sie stiessen an. Sie trank. Es war Alkohol.
Wilhelm, schätzungsweise Mitte zwanzig, hatte eine breite Stirn und trug ebenfalls einen Schnurrbart, aber einen gemässigten, der nicht das ganze Gesicht in den Schatten stellte. So unmissverständlich seine Avancen, so missverständlich waren seine leicht in den Höhlen versteckten Augen. In einem Moment wirkte er sanftmütig, und im nächsten so, als ob man ihn besser nicht enttäuschte.
«Furchtbar, nicht?», sagte er mit einem Seitenblick auf seinen Landsmann am Akkordeon.
Der sang nun von einem Wasser, das von den Bergen rauschte, und von dem er sich wünschte, es wäre kühler Wein. Aber das Wasser blieb Wasser, und darin schwamm ein Fischlein, das glücklicher war als er, weil es vergessen konnte. Erst jetzt bemerkte Maria Ursula, dass der Sänger nur einen Schuh trug. Und dann wurde ihr klar, dass er den anderen Schuh im Krieg samt Fuss verloren hatte.
«Waren Sie auch im Krieg?», fragte sie. Sie war froh um ein Gesprächsthema.
Wilhelm schüttelte den Kopf. «Ich kämpfte gegen die Tuberkulose.» Zur Demonstration, dass er sich auch wirklich nicht vor dem Krieg gedrückt hatte, hustete er heiser.
«Und diesen Kampf haben Sie gewonnen.»
«Mithilfe von euch Schweizern.» Er nahm einen Schluck und nickte dankbar. «Ich war im Sanatorium in Davos, dort hat man mich frische Luft atmen lassen, den ganzen Tag.»
«Sie haben nur geatmet?»
«Ja, aber im Liegen.»
Das also war sein Kampf gewesen? Das Husten hatte noch heroischer geklungen.
Vielleicht erriet er ihre Gedanken, denn er fügte sogleich hinzu, dass er nicht der Einzige gewesen war, der den Weltkrieg atmend und liegend unter der Bündner Sonne verbracht hatte: «Kirchner war auch da, der Schöpfer dieses Kunstwerks.» Er deutete auf das Bild über den Spirituosen. «Paul Éluard war da, ein Kommunist zwar, aber seine Verse sind gar nicht so übel. Und sogar Thomas Mann war da.»
Der Mann von Thoma?
«Also, eigentlich seine Frau. Aber er selbst war auch da, stellen Sie sich vor. Ich habe gehört, er schreibt jetzt ein Buch über Davos. Und Sie, was lesen Sie da gerade?»
Das Buch. Was sollte sie ihm schon sagen, diesem Verführer, der sich zu fremden Frauen gesellte, als wäre er mit ihnen verabredet? «Rilke», antwortete sie.
«Rilke?» Er klatschte sich in die Hände. «Ein grossartiger Soldat des Geistes. Geschätzte Dame, Sie beginnen mir zu gefallen!»
Sie begann ihm zu gefallen. Weil sie Rilke las. Allmählich fühlte sie sich unwohl mit diesem Herrn. Es lag sicher auch daran, dass sie Hochdeutsch sprechen musste und sich vor jedem Wort überlegte, ob man das auch wirklich so sagte. Es lag aber vor allem am Herrn selbst, der ihr kaum ein Getränk spendierte, um über die frische Luft von Davos zu plaudern. Allerdings hatte sie das Getränk angenommen, wie ein Gelübde stand es vor ihr, und indem sie es trank, begab sie sich in seine Schuld. Sie überlegte, wie sie ihm unbeschadet entkommen konnte.
«Warum sind Sie nach Chur gekommen?» Er beugte seinen Oberkörper vor und schon fürchtete sie, er würde nach ihrer Hand fassen, stattdessen fasste er nach seinem Grog, trank ihn fast leer und fragte noch einmal: «Warum sind Sie hier?»
«Um frei zu sein.»
«Ganz allein?»
«Sonst wäre ich ja nicht frei.»
Der Sänger klimperte nun auch immer freier auf seinem Akkordeon herum. Maria Ursula war mit Musik aufgewachsen, in ihrer Familie spielte man Mundharmonika und Geige und Bassvioline, doch was der Sänger aus Deutschland inzwischen darbot, verunsicherte sie, sie fühlte sich in seinen Liedern fremd – hörte sich so der Krieg an?
«Ich arbeite am Observatorium», sagte Wilhelm, um Maria Ursulas Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. «Da kann man nachts die Sterne gut sehen. Ich fühle mich nie freier als beim Blick hinaus ins All.»
«Von Obervaz aus sieht man die Sterne auch gut.»
«Mit meinen Instrumenten kann ich sie vergrössern.» Er lockerte seinen Krawattenknopf, vielleicht, um den Flirt auf die nächste Stufe der Skala anzuheben, und fügte hinzu: «Ich könnte Ihnen die Sterne vom Himmel holen.»
«Aber dann sind es doch keine Sterne mehr», sagte sie, allein aus dem plötzlichen Wunsch, ihm zu widersprechen.
Dann wurde neben der Bartheke eine Tür aufgeschoben, durch diese Tür trat ein Mann heraus, und das Verblüffende bestand darin, dass der Raum dahinter nur etwa zwei Quadratmeter mass, keine Fenster hatte und vollkommen leer war.
Maria Ursula sann noch über den Zweck dieses Raums nach, als der Mann auf sie zukam und sie herzlich begrüsste. «Schön, dass Sie da sind», sagte er mit wohltemperierter Stimme, «ich zeige Ihnen gleich Ihr Zimmer.» Sie stand auf, liess alles am Tisch zurück – das Buch, den Grog, Wilhelm – und folgte ihm wie ein Schatten. Nachdem er ihr den Koffer abgenommen hatte, betraten sie gemeinsam den kleinen, leeren, fensterlosen Raum, ein heller Glockenschlag, die Vergangenheit schloss ihre Türen, ein Ruckeln, und dann katapultierte der Aufzug Maria Ursula aus dem 19. ins 20. Jahrhundert. – Wie leicht sie sich fühlte! Wie schwerelos und verwirrt und berauscht! Albert Einstein erweiterte den Raum um die Zeit und die Zeit um den Raum, Sigmund Freud erschuf das Unterbewusstsein, Klimt malte mit wilden Farbklängen und Schönberg komponierte mit wilden Klangfarben, in Paris errichteten sie einen Eisenturm, der den Himmel berührte, und die alten Götter stiegen herab nach Athen, um den Menschen die Olympischen Spielen zurückzugeben. Das erste Automobil wurde gebaut, das erste motorisierte Flugzeug, das erste Kino, das erste Grammofon, das erste Telefon, kein kühner Traum, dem keine Erfindung folgte, und derweil man in den Metropolen trunken den Frieden, den Aufbruch, die Kunst – kurz, das Leben – feierte, zog ein Hauch dieses Taumels durch die Bündner Täler und schuf aus dem Nichts Sehnsuchtsorte von Weltrang. St. Moritz, Arosa oder Davos verzehnfachten über Nacht ihre Einwohnerzahl, aus verschlafenen Nestern wurden mondäne Ferienorte, in denen sich das Bürgertum im eigenen Glanz sonnte, doch plötzlich, auf dem Höhepunkt der Ekstase, gab es einen Knall, die goldene Zeit fiel in sich zusammen, und es wurde dunkel.