Chur, Graubünden
1920
Er hatte Kopfschmerzen. Gestern war das Bankett des Bündner Advokatenverbands gewesen, und jetzt war Samstagmorgen, es war sein gutes Recht, Kopfschmerzen zu haben. Vor Monatsfrist hatte das von den Klienten gewünschte Datum ganz unbedenklich gewirkt, weder das Bankett noch den Samstag hatte man ihm angesehen, und auch die Sekretärin war nicht geistesgegenwärtig genug gewesen, das drohende Debakel zu antizipieren. Jetzt war Mattli auf Befehl seines Kalenders eben im Büro, jetzt sass er wieder am Schreibtisch, und das war angesichts der vorabendlichen Hergänge keine Selbstverständlichkeit. Beinahe wäre alles recht glimpflich verlaufen: Ein Anislikör, drei, höchstens vier Gläser als Speisebegleiter und zur Verdauung ein winziges Kräuterbitter, den ungünstigen Termin stets als Mahnung im Hinterkopf. Aber dann war plötzlich Canova aufgetaucht.
Aus dem Wasserkrug schenkte er sich nach und bemerkte, dass er es versäumt hatte, den Klienten auch ein Glas anzubieten. Er hatte das Wasser eben nicht als Getränk betrachtet, sondern als Kopfschmerzmittel. Schon wollte er das Versäumnis nachholen, aber dann erst würde er es zum Versäumnis erklären, jetzt konnte es noch eine Unfreundlichkeit sein oder eine auf der Amtsvormundschaft gängige Sitte, und das schien ihm alleweil besser als den Verdacht zu streuen, dass er gerade ziemlich von der Rolle war.
Als Knaben hatten Mattli und Canova einander feindlichen Truppen angehört, die sich um das Schloss Reichenau erbitterte Ritterschlachten lieferten. Einmal hatte Canova sein stumpfes Holzschwert durch Mattlis nicht vorhandene Rüstung gestossen und ihm einen Bluterguss auf der Brust verpasst. Doch Mattli überlebte, und nach Anbruch der Jugend, im Herzen immer noch Ritter, waren sie beide in entfernte Landesteile gezogen, um sich mit römischem Recht und aristotelischem Unrecht zu befassen. Erst Jahre später sollten sich die Klingen der beiden Bündner Burschen wieder kreuzen: An einer studentischen Völlerei in der Berner Altstadt führten sie ein gehaltvolles Gefecht über General Wille, in dessen Verlauf sich Mattli dazu überreden liess, den germanophilen General ebenfalls zu verfluchen. Inzwischen waren sie zurück in Chur und bekleideten dort ehrenhafte Stellungen: Dr. Florian Mattli war städtischer Amtsvormund, Dr. Gaudenz Canova hatte die Anwaltspraxis von Albert Hitz übernommen. Doch das rasche Erklimmen der juristischen Karriereleiter fühlte sich für Mattli immer noch unwirklich an, umso mehr, wenn er an einem Freitagabend sah, wie lebendig der Student in ihm bis heute war.
Er tippte den Titel des aussergerichtlichen Vergleichs in die Schreibmaschine – Wagenrücklauf, Zeilenvorschub – dann hämmerte er so oft auf die Sterntaste, bis sich vom linken zum rechten Seitenrand eine ganze Sternenkette gebildet hatte, die den Titel gewissermassen unterstrich. Es war eine grafische Finesse, mit der er seine Dokumente neuerdings verzierte, vielleicht, dachte er, verpasste er ihnen damit eine allegorische Tiefe, oben die Sterne, darunter die Welt nach seiner Ordnung, jeder Vertrag eine Schöpfung. Was für ein Unsinn, dachte er im nächsten Moment, das war der Maienfelder, er selber hatte damit nichts zu tun. Er musste jetzt schleunigst auf den Boden kommen. Wagenrücklauf, Zeilenvorschub, Paragraf eins ...
Weshalb war er nach dem Auftritt Canovas nicht sein eigener Souverän geblieben und nach Hause gegangen? Zugegebenermassen hatte er den drei Jahre älteren Canova schon damals auf der Studentenfeier still bewundert. Canova war nicht der Typ, der ein untragbares Gesetz anwandte. Canova war der Typ, der dieses Gesetz abschaffte, ein Widerstandskämpfer, der überall dort hinging, wo es wehtat. So hatte er sich etwa als Sprössling einer katholischen Familie den Luxus geleistet, während des Studiums an der katholischen Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg aus der Kirche auszutreten. Aus seiner Bewunderung für Canova musste Mattli wohl schliessen, dass er kein solcher Mann war. Aber dass er gerne ein solcher Mann gewesen wäre. Nun, vielleicht konnte er den Rebellen in sich irgendwann noch entdecken, nur nicht heute. Heute konnte er nichts anderes sein als ein bar von Eifer operierender Automat.
Seine Klienten, eine neunzehnjährige Frau und ein zwanzigjähriger Mann, sassen ihm gegenüber wie zwei Personen, die sich zum ersten Mal begegneten, zwischen den beiden klaffte eine zwar nur anderthalb Meter breite, doch unüberwindbare Kluft. Teilnahmslos starrten sie vor sich ins Leere, während Mattli die im gegebenen Fall üblichen Floskeln aufsetzte: «Herr ... bekennt sich hiedurch ... der Frau, mit welcher er ... Er verpflichtet sich jetzt für dann prinzipiell ... zu einer angemessenen ... sowie zum Ersatz anderer infolge ... nach Vorweis der bezüglichen Rechnungen.»
Mattli war noch nicht lange im Geschäft, doch er wusste bereits, dass ein Mann meistens dann nicht mit einer Frau und dem gemeinsamen Kind eine Familie bilden wollte, wenn ungünstige Konstellationen ihn daran hinderten – id est, wenn er im Nachbardorf, am anderen Ufer des Sees oder im Tal hinter den Bergen schon eine Familie hatte. Aber Mattli wusste auch, dass jedes Schicksal eine Vorgeschichte hatte, die für ihn im Dunkeln blieb, und dass es nicht zu seinen Aufgaben gehörte, diese zu erhellen. Was ging es ihn an, was hätte es geändert? Er musste hier nicht Mensch sein, war weder Priester noch Psychiater.
«Die unterzeichnete Frau ...», haute er weiter auf das leicht schief eingespannte Blatt, «verzichtet nach Unterzeichnung dieses Vertrages auf jedes weitere Vorgehen gegen Herrn ... & erklärt sich mit dieser Regelung einverstanden. Sie ist auch damit einverstanden, dass dem Kinde nach der Geburt ein Vormund bestimmt wird, der die Versorgung des Kindes an einem guten Erziehungsorte zu besorgen hat.»
Prävention, hatte ihm kürzlich eine Komiteedame vom Verein zur Hebung der Sittlichkeit gesagt, man müsse die jungen Frauen vor Tanzbelustigungen schützen, vor unsittlicher Literatur und obszönen Ansichtskarten. Doch Mattli vermutete, dass die Dinge meistens komplizierter lagen, und dass das Unglück, das er eben formalisierte, nicht zwingend vom Tanz, von einer sinnlichen Romanpassage oder einer einschlägigen Abbildung herrührte.
Er drehte das Blatt aus der Maschine und legte es den Klienten zur Durchsicht vor, woraufhin sie gezwungenermassen die Köpfe zusammensteckten. Es schien ihm, dass allein das Blatt Papier die beiden verband und nicht dessen Inhalt. Nichts deutete darauf hin, dass sie sich jemals nähergekommen waren.
Während sie nun schweigend das Dokument studierten, das Ruhe und Frieden in ihre Zukunft brachte, studierte Mattli die werdende Mutter, den abwandernden Vater. Sie wirkte ruhig, er aufgelöst. Ihr Gesicht war bleich und spannte sich straff über die Wangenknochen, auf denen eine zierliche Brille um Nachsicht bat. Sein Kopf war gerötet, als schnürte die Krawatte ihm die Luft ab, und unter dem bürgerlichen Hut perlten Schweisstropfen hervor, die auf der Stirn zu Bahnen der Scham gerannen. Auf einmal berührten sie einander mit den Ellbogen, nur kurz und doch einen Herzschlag zu lang – Mattli fragte sich, ob die Berührung zufällig entstanden war, oder ob jemand sie absichtlich verursacht hatte, als kleine Erinnerung an vergangenes Glück. Wider Willen, nun doch eher Mensch als Automat, begann er sich für die rätselhafte Beziehung der beiden zu interessieren. Er wusste, dass die junge Frau eine Einheimische war, die in einem Churer Hotel gearbeitet hatte. Er wusste, dass der junge Mann während des Kriegs nach Graubünden gekommen war und unterdessen hier wohnte. Spätestens an einem Sommertag des laufenden Jahres müssen sich ihre Blicke getroffen haben. Das war alles, mehr wusste er nicht, doch im Geiste hauchte er seinen toten Paragrafen Leben ein. Vielleicht hatte der Mann ebenfalls im Hotel angeheuert, als Rezeptionist, Kellner oder Pförtner – aufgrund des Huts und der gepflegten, zu einem einladenden Willkommensgruss sicher gut geeigneten Hände tippte Mattli auf den Pförtner. Der Pförtner und das schüchterne Zimmermädchen hatten sich also eines Abends, von der Arbeit aufgezehrt, auf dem Dachboden des Hotels ihren stillen Sehnsüchten hingegeben. Mattli sah beschämt aus dem Fenster. War das immer noch der Maienfelder, der sein Unwesen trieb? Weshalb auch immer, seine Einbildungskraft war nicht zu bremsen: Der Mann war als Gast in das Hotel eingekehrt, ein charmanter Geschäftsreisender, und obwohl alles dagegensprach, hatte ihn die geheimnisvolle Serviertochter auf der Stelle verzaubert. Es folgte ein Sommer der Liebe, ein paar aus der Zeit gefallene Wochen, die sie unter dem unendlichen Nachthimmel verbrachten, bis sie im Herbst erfuhren, dass auch die Sterne nicht ewig leuchteten. Mattli ertappte sich, wie er der Frau auf den Bauch starrte. Man sah nichts. Noch war das Leben, das in ihr heranwuchs, so unsichtbar und ungreifbar wie die Geschichte, aus der es hervorging.
Der Mann nahm den Füllfederhalter, enthob sich mit einer Unterschrift seines Vateramtes und legte ihn wieder auf den Tisch.
Die Frau nahm den Füllfederhalter, setzte an, zögerte einen Augenblick, und gab ihr ungeborenes Kind in die Obhut des Staates.
Der Mann stand auf, strich sich kurz unschlüssig über den Schnurrbart, dann verliess er den Raum und kehrte zurück in sein altes Leben.
Die Frau regte sich nicht. Sie blieb sitzen, ohne Anstalten, sich zu erheben, als wollte sie sich der Welt und ihren Problemen noch nicht stellen – als fühlte sie sich hier, im Büro von Dr. Florian Mattli, ein letztes Mal geborgen. Der Gedanke rührte ihn, dennoch, er atmete langsam und gut hörbar die Luft aus, ein finaler Atemzug, um ihr den Aufbruch nahezulegen. Da sah er, wie sie sich mit der Hand sanft über den Bauch strich, bevor sie ihm das Dokument zuschob, und er war sich nicht sicher, ob er sie sich nur eingebildet hatte, diese zärtliche, liebevolle Geste, doch es spielte im Grunde keine Rolle, denn plötzlich begriff er, dass die Bindung der Mutter zu ihrem Kind naturgegeben war, und dass nichts sie zu trennen vermochte, kein Mann, der sich vor der Verantwortung drückte, keine Gesellschaft, die aussereheliche Geburten missbilligte, und schon gar kein Jurist mit seinen kühlen Phrasen. Aber was sollte er denn tun? Sie in den Arm nehmen? Unsinn, Umarmungen standen nun wirklich nicht in seinem Pflichtenheft.
Er stiess ein weiteres Mal lautstark die Luft aus, dieses Mal, um der Frau sein Mitleid zu bekunden, während er in seinen Unterlagen wühlte, die sich in mehreren Stapeln auf seinem Tisch türmten. Eine Adresse, immerhin, das konnte er noch tun. Es gab Heime, wo man sich um die gescheiterten Existenzen kümmerte, um Frauen also, die schwanger und ledig ihren Platz in der rechtschaffenen Welt verwirkt hatten. Der Pilgerbrunnen in Zürich, der Wolfsbrunnen in Liestal oder der Obstgarten im Aargauischen, dort bereitete man die Frauen fern der Verachtung, die sie in der Heimat umgab, auf ihren Mutterberuf vor. Nur waren diese Heime immer heillos überfüllt. «Es wird alles gut werden», sagte Mattli und bemühte sich um eine zuversichtliche Miene, doch die Frau hielt ihren Kopf gesenkt, ihr Blick ruhte, so schien es ihm, auf dem Füllfederhalter mit einer Bitterkeit, als wäre dieser für all den Kummer verantwortlich. «Es wird immer alles gut», griff Mattli seinen Aufmunterungsspruch wieder auf, fühlte sich dabei hilflos und versuchte, seine Worte zu vertiefen: «Es wird alles so, wie es werden muss.» Endlich fand er den Prospekt des neuen Fürsorgeheims «Auf Berg». Er schrieb die Adresse auf einen Zettel und reichte ihn der Frau.
«Was muss ich tun, damit mein Kind mir gehört?», fragte sie, ohne sich den Zettel anzuschauen.
«Dafür brauchen Sie einen Mann.»
«Das ist alles?»
Mattli glaubte, in ihrem Gesicht ein kleines Aufflammen von Kraft zu sehen, etwas Kämpferisches gar, das sich in ihrem Inneren zu sammeln begann, und schon bedauerte er, sie ermutigt zu haben. Er wusste, welch beschwerlicher Weg sie nun erwartete.
Sofern sie seinen Zettel doch noch beherzigte und sich an die Adresse wandte, würde Maria Ursula Eugster im Frühjahr 1921 in den Kanton Basel-Landschaft nach Seltisberg reisen. Das Mutter-Kind-Heim «Auf Berg» hatte seine rettenden Türen eben erst geöffnet, vorher war das schmucke Gebäude das Hotel Belvédère gewesen, das mit zwei Solebadewannen um Nobelkundschaft buhlte, bis der Krieg kam und die Besitzer es an Josette Meyer verkauften, eine Frau mit Geld und Güte. Nun machte das Heim dem nahen Liestaler Wolfsbrunnen praktisch Konkurrenz und nahm, obwohl unter katholischer Schirmherrschaft, notfalls auch protestantische Frauen auf. In dieser freigeistigen Umgebung würde Maria Ursula Eugster ihr Kind zur Welt bringen und ein paar Tage das Glück geniessen, ein reines und tiefes Glück, das jäh zerbrechen würde, sobald sie mit ihrem Kind nach Graubünden heimkehrte, zurück in die Gesellschaft, die sie aus ihrer Mitte ausschloss.
Nachdem er sich von ihr verabschiedet und ihr alles Gute gewünscht hatte, blieb Mattli an seinem Schreibtisch sitzen und sah lange auf seine Zeilen und die beiden Unterschriften, die bleiernen Buchstaben, wie aus einem Gewehr auf das Blatt geschossen, darunter die Schwünge zittriger Hände. Keine Frage, juristisch war das Dokument einwandfrei, und doch stimmte es nicht. Je länger er es studierte, umso stärker formten sich die vier Paragrafen zu einem klassischen Drama. Der fünfte Akt fehlte noch, aber der war bekanntlich immer der schlimmste. Warum, fragte er sich, war der ledige Vater nicht auch eine gescheiterte Existenz? Warum sollte man gemäss dieses Sittlichkeitsvereins bloss die jungen Frauen schützen, und nicht die jungen Männer zügeln? Und überhaupt: Kein Tanz, keine Bücher, keine Postkarten – das war doch alles eine Farce, ein tugendhaftes Naserümpfen über die Nebenwirkungen der Moderne. Das eigentliche Verhängnis aber existierte so lange wie die Menschen, hervorgerufen von der Begierde und der Dummheit oder einer schlecht verteilten Liebe. Miteinander vermischt bildeten diese Triebfedern eine unzähmbare Gewalt, sie bestimmten die Geschichte – und schufen fortlaufend unplanmässige Kinder, Kunstwerke und Katastrophen.
Ein Teil dieser Gewalt war ja am Vorabend auch über Mattli hereingebrochen. Mittlerweile hatte sich die Dummheit in Kopfschmerzen verwandelt, und auch diese dankten langsam ab, nur in den Stirnhöhlen gaben sie sich noch umtriebig, aber was war schon ein bisschen Kopfweh? Seine nächtliche Ausschweifung würde – im Gegensatz zu jener seiner Klienten – folgenlos bleiben und sich im Verlauf des Tages ins Nichts auflösen. Und wie es halt so war, so sicher wie der Rausch würde auch die Reue über den Rausch verschwinden, das Phänomen war bereits im Gang, denn kaum rekonvaleszent fand Mattli, dass er – warum eigentlich nicht? – bald wieder einmal mit Canova ein Glas Maienfelder trinken sollte. Canovas Kampf gegen die Scheinmoral inspirierte ihn, und gleichzeitig half ihm der Wein, die Traditionen nicht gerade wegzuspülen, aber sie doch ein wenig in Schieflage zu versetzen. Und dann, zumindest unter den weiten Sphären des Kellergewölbes, konnte der emsige Amtsvormund Dr. Florian Mattli für eine staatliche Jugendfürsorge kämpfen, er konnte, nach einem weiteren Glas, für ein Geburtshaus kämpfen, damit er keine Frauen mehr ins Exil schicken musste, und schliesslich konnte er, noch ein Glas, sogar furchtlos und strauchelnd dafür kämpfen, dass Frauen wie Maria Ursula Eugster nicht ein Verbrechen begingen, sondern eines erfuhren.