Alfred Siegfried (1890–1972)

Basel

1924

   

Als er an jenem Wintermorgen das behaglich aussehende Café betrat, war er ein vierunddreissigjähriger Mann, dessen Leben in Trümmern lag. Er suchte einen freien Tisch am Fenster und setzte sich auf den Stuhl mit der besten Sicht auf den Rhein, der ruhig und mächtig an den lückenlos aneinandergereihten Häusern der Basler Altstadt vorbeizog.

Schuldbewusst, zu keinem aufrichtigen Blick imstande, bestellte er einen Kaffee. Doch die junge Kellnerin nahm seinen Wunsch freundlich entgegen und schenkte ihm, als sie ihm die Bestellung brachte, sogar ein warmes Lächeln. Aus diesem Lächeln schöpfte er Mut. Für diese Frau, dachte er, war er nichts anderes als ein Gast, der am Fenster sass und einen Kaffee trank. Sie wusste nicht, dass er Alfred Siegfried hiess und in Luzern aufgewachsen war, sie wusste nicht, dass er in Basel neue Sprachen und Geschichte studiert hatte. Es spielte hier keine Rolle, wer er war, woher er kam und was er getan hatte, unter Fremden gab es nur das Sichtbare, nur die Gegenwart.

Er rührte einen Teelöffel Zucker in den Kaffee, verlor sich im Wirbel, der in der Tasse entstand, tröpfelte etwas Milch dazu, die zu einer feinen weissen Spirale wurde, bis sie sich brach und mit dem Kaffee vermischte. Für einen Augenblick nahm auch er sich bloss als Gast am Fenster mit Kaffee wahr, dann holten ihn die jüngsten Ereignisse wieder ein. Aus der Innentasche seines Jacketts nahm er einen Stift und eine Postkarte hervor.

«Die nächste Zukunft liegt recht trübe vor mir», begann er seine Nachricht an eine Freundin, «ich muss mir einen neuen Weg suchen, denn ich habe nur durch eigene Schuld das Bleiben in Basel unmöglich gemacht und muss nun sehen, wie die Sache weitergeht.»

Er musste sich also einen neuen Weg suchen. Er konnte nicht in Basel bleiben. Dies realisierte er erst jetzt in vollem Ausmass, da er die Worte vor sich sah, der Stift in seiner Hand schien seinen Gedanken voraus zu sein. Er fuhr fort, das Schreiben half ihm, sein Chaos zu durchdringen und die Tatsachen freizulegen: «Wahrscheinlich werde ich suchen, im Handel Fuss zu fassen – wo weiss ich noch nicht.»

Auch der Stift hatte offenbar seine Grenzen. Er leckte die Rückseite des Rütlis ab und klebte die Briefmarke in das dafür vorgesehene Viereck. Im Handel, meinte er das ernst? Er konnte eine Doktorarbeit vorweisen über die Lautlehre der Mundart von Court, einem Tausendseelendorf im Berner Jura. Die Handelswelt würde kaum auf ihn warten. Dann schon eher die Forschungswelt, aber auch die nicht wirklich: Mit seiner lustlos dahingeschriebenen, lediglich fünfzig Seiten umfassenden Dissertation hatte er seine wissenschaftliche Karriere eher beerdigt denn lanciert. Und eigentlich beschäftigte er sich lieber mit Menschen als mit Diphthongen. In seinem Alter, dachte er, begannen sich die bisher unternommenen Anstrengungen normalerweise zu lohnen. Man erhielt Wohlstand, Ansehen und ein Büro mit Ledersessel. Das alles war für ihn weit weg. Er musste noch einmal von vorne anfangen. In einem Zug leerte er den Kaffee.

Er suchte die Toilette auf, um sich die vergangenen Stunden aus dem Gesicht zu waschen. Er hatte das Gefühl, dass man ihm ansah, was geschehen war. Die verächtlichen Blicke der ihm einst wohlgesinnten Herren klebten immer noch auf seiner Haut.

Auf dem Rückweg nahm er sich die Tageszeitung, vielleicht fand er ja dort ein Unglück, das noch grösser war als seines. Die ältere Dame am Nachbartisch nickte ihm wohlwollend zu, er nickte zurück. Allmählich fasste er etwas Vertrauen in seine Täuschung. Für diese Dame war er nichts anderes als ein Gast, der die Zeitung lesen wollte. Sie wusste nicht, dass er am selben Gymnasium unterrichtet hatte wie einst Nietzsche und Jacob Burkhardt. Sie wusste nicht, dass er als geborener Protestant zum Katholizismus konvertiert war.

Tatsächlich berichtete die Titelseite über zwei ebenfalls gründlich erledigte Herren, Ludendorff und Hitler, denen man demnächst wegen Hochverrats den Prozess machte. In Davos wurde das physikalisch-meteorologische Observatorium dem Institut für Hochgebirgsphysiologie angegliedert. Er wusste nicht genau warum, aber die Nachricht spendete ihm, dem Spezialisten für einen jurassischen Dialekt, ein bisschen Trost. Und dann ging es gleich weiter mit den verschrobenen Fachgebieten: In seinem Buch «Die Rakete zu den Planetenräumen» beschrieb ein deutscher Himmelskundler den Bau einer Maschine, mit der sich eine galaktische Reise machen liesse bis zum Mond. Der Rezensent des Buches schlug indessen vor, diesen tollgewordenen Träumer gleich selber auf den Mond zu schiessen. Nun, der Mond schien Alfred Siegfried derzeit nicht der ungemütlichste aller Orte zu sein. Dort konnte man wenigstens denken, was man wollte, und jeder Gedanke war richtig.

Während er versuchte, sich im Weltgeschehen zu verlieren – je unsinniger es war, umso besser –, bestellte er einen weiteren Kaffee. Eigentlich hätte seine aktuelle Lage nach etwas Hochprozentigem verlangt, doch er trank keinen Alkohol, und das kräftigste alkoholfreie Getränk war wohl ein starker Kaffee. Selbstbewusster geworden erprobte er wiederum seine Wirkung, reichte der Kellnerin zuvorkommend die leere Tasse, und erneut erntete er eine Liebenswürdigkeit, die er nicht verdient zu haben glaubte.

Warum ging er nicht einfach nach Paris? Das wäre eine echte Alternative zum Mond gewesen. In Paris gab es so viele Menschen, dass es jeden geben durfte. Auch seinen Bruder Arne hatte die Stadt aufgenommen, dem eines Nachts eingefallen war, dass er nicht wie der Vater Gürtlermeister, sondern lieber Kunstmaler werden wollte. Neulich, so Arne in seinem letzten Brief, habe er sich bereits mit Picasso unterhalten. Vielleicht stand er also kurz vor dem Durchbruch. Bis es dazu kam, wohnte er weiterhin in seiner Mansarde, die so klein war, dass er auf dem Bett sitzen musste, um zu malen. Als Gastgeber, der ihm für eine Weile Obdach bot, eignete sich sein Bruder also nicht, und dann musste Alfred Siegfried auch nicht ausgerechnet nach Paris gehen. Ohnehin war es wohl eine Illusion, dass es dort jeden geben durfte. Ihn durfte es nirgendwo geben. Nicht einmal in einem Babylon wie Paris.

Draussen fielen die Schneeflocken, viel zu langsam wie in einem Fiebertraum, und setzten sich auf den Ästen, den Sitzbänken, dem Fenstersims ab. Eine Familie wandelte durch den Schneefall am Café vorbei, Vater, Mutter, Tochter. Wie einfach das Glück manchmal wirkte, dachte Siegfried, ein einfaches Glück, das ihm vorenthalten blieb. Alle Menschen waren gleich vor dem Gesetz, aber die grösste Ungerechtigkeit lag darin, dass nicht alle gleich vor dem Glück waren. Er hatte noch nicht herausgefunden, worin sein Glück bestand. Folge deinem Herzen, hatte ihm seine Mutter gesagt, bevor sie an Tuberkulose starb. Besiege deinen Dämon, hatte ihm der Arzt gesagt, dem er sich auf nebulöse Weise öffnete. Doch was, wenn das Herz und der Dämon einerlei waren?

Da entdeckte er die Anzeige. Zentralsekretariat der Pro Juventute, Abteilung Schulkind. Und sogleich kam ihm die Anzeige vor wie ein verheissungsvolles Fenster in die Zukunft. Er versuchte, seinen Aufruhr mit einem Schluck herunterzuspielen, wartete, bis die Dame daneben den Tisch verliess und die Kellnerin die Gaststube, dann trennte er die Seite leise aus der Zeitung, faltete sie zusammen und steckte sie in die Tasche.

Keine zwei Minuten später ging er. Die Kellnerin, der er etwas Trinkgeld gab, nicht zu wenig und nicht zu viel, würde ihn noch für kurze Zeit in Erinnerung behalten als gepflegten, fein gekleideten Mann, der sich zu benehmen wusste – bis sie den nächsten Gast bediente und ihn vergass.

Denn nichts deutete in der fassbaren Welt darauf hin, dass Dr. Alfred Siegfried an jenem Morgen als Lehrer am Unteren Gymnasium entlassen worden war wegen unzüchtigen Handlungen mit einem dreizehnjährigen Schüler. Niemand, der ihm begegnete, ahnte dergleichen. Und mit ein wenig Glück und Gottes Fügung würde das auch so bleiben.