Zürich
1926
Voller Vorfreude setzte sich Ulrich Wille junior mit der überraschenden Post auf eine Bank im weitläufigen Park der Villa Schönberg. Obwohl er allein war und sich nicht um Haltung bemühen musste, streckte er anmutig wie eine Heldenstatue den Rücken durch, Ergebnis seiner Erziehung und der ruhmreichen Familiengeschichte, deren Glanz sich nun, seit der Vater letztes Jahr gestorben war, in ihm zu bündeln hatte.
Es war allerdings nicht ganz einfach, in Vaters dichtem Schatten zu glänzen. Während des Kriegs hatte General Wille mit seinem Stabschef Theophil Sprecher die berüchtigte Spitze der Schweizer Armee gebildet, deren Unerbittlichkeit in ein Soldatengut gewordenes Sprüchlein gipfelte. («Was Wille will und Sprecher spricht, dem füg dich still und murre nicht!»)
Die Hoffnung, dass Ulrich Wille junior das verhasste «junior» dereinst loswerden würde, hatte sich nach dem Tod des Seniors rasch zerschlagen, weil dieser eben nie der Senior gewesen war, sondern einfach Ulrich Wille, «Ulrich Wille», Original und Marke. So blieb der Sohn für immer Kopie, «Ulrich Wille junior», auch jetzt mit bald fünfzig Jahren, dereinst als Greis bis hin in die Familiengruft, wo man seine ganze Existenz mit sechs zusätzlichen Metalllettern relativieren würde. Dennoch, der verniedlichende Zusatz an seinem Namen hatte ihn nicht daran gehindert, ebenfalls in jener Domäne zu reüssieren, die weiss Gott keine Zärtlinge duldete, im Militär. Generalstabsoffizier, Major des Schützenbataillons, Oberst, Kommandant der Zentralschulen – Abzeichen um Abzeichen hatte er auf seiner Brust angesammelt, als hätte man sich hinter dem Kragen des Tarnanzugs nicht tausendmal über ihn lustig gemacht. («Tritt jedoch der Junior vor, so leg dich nochmal aufs andere Ohr.»)
In einem kurzen Anflug von Gereiztheit spielte er mit dem Gedanken, sich einfach einmal gehen zu lassen und den obersten Knopf des Hemdes zu öffnen. Er beherrschte und beruhigte sich, und mit mustergültig eingeschränkten Atemwegen entnahm er dem Paket das Buch. Es hatte einen roten Leineneinband, in den der Buchtitel, der Autorenname und der Verlag weiss eingeprägt waren. Als er es aufschlug, entdeckte er auf dem Deckblatt erfreut die persönliche Widmung. Er blätterte weiter und begann zu lesen, doch es erging ihm ähnlich wie mit den Romanen seiner Grossmutter: Es war schwierig, sich bloss auf den Inhalt zu konzentrieren, denn in den Sätzen klang die Stimme des mit ihm befreundeten Autoren mit, zwischen den Zeilen sah er seine Mimik und Gestik, ja schliesslich brach der ganze Mensch aus dem Buch hervor, und seine Präsenz verschlang den kompletten Text. Ulrich Wille junior legte sich das Buch auf den Schoss und dachte an die Zusammenkunft, die vor drei Jahren hier in der Villa Schönberg stattgefunden hatte, das Referat, das Mittagessen, die glühenden Gespräche ...
Bald kehrte er in patriotischem Laufschritt in die Villa zurück und begab sich in das Musikzimmer. Hier hatte er seinen Gast damals hergeführt, im Wissen, dass man diesen Ort in erlauchten Kreisen kultisch verehrte. Das Musikzimmer der Villa Schönberg lag exakt an der Stelle, an der einst, in einem dem Bau der Villa zum Opfer gefallenen Riegelhaus, Richard Wagner gewohnt hatte. Hier auf diesem Stück Erde waren Werke entstanden, die seither in den ganzen Musikkosmos hinausstrahlten, Teile von «Tristan und Isolde» und die Wesendonck-Lieder, inspiriert von der Liebe des Meisters zur Dichterin Mathilde von Wesendonck, die in der Villa nebenan mit ihrem Mann gelebt hatte. Und manchmal bildete sich Ulrich Wille junior ein, die konzentrierte Kraft zu spüren, mit der diese Koordinaten aufgeladen waren, die Quelle, aus der die Vollkommenheit der deutschen Kultur entsprungen war.
Er setzte sich an den Flügel, legte das rote Buch auf das Gehäuse und dehnte seine Finger. Gerne hätte er jetzt etwas Erhabenes erklingen lassen, wenigstens eine kleine Melodie oder einen Tristan-Akkord. Ein Tristan-Akkord löste sich wider Erwarten des Ohrs nicht nach unten, sondern nach oben auf, ungefähr so viel war ihm darüber bekannt. Man musste also ein paar Tasten drücken, deren Klänge zusammenpassten, und die Hände dann nach rechts verschieben. Er versuchte es.
Natürlich war das, was er da spielte, kein Tristan-Akkord. Es war auch nicht irgendein anderer Akkord. Ulrich Wille junior war Jurist und Kommandant und Gründungspräsident der Pro Juventute. Aber er war kein Musikus. Er wusste, dass ein Klavier achtundachtzig Tasten hatte, doch nicht aus der Musiktheorie, sondern weil er sie gezählt hatte. Achtundachtzig Getreue, ein stummes Regiment in Schwarz und Weiss, mit dem der Befehlshaber, wenn er geschickt agierte, einen schallenden Siegeszug antrat und die blassen Seelen seiner Untertanen ausmalte. Das hatte ihn immer fasziniert. Musik war Macht, die einzige Universalsprache, oder wie Schopenhauer schrieb, der unmittelbare Ausdruck von Weltwille.
«Ully? Ich dachte, das seien die Kinder!»
Renée stolzierte herein. Familienmitglieder nannten ihn selbstverständlich nicht «Ulrich Wille junior». Sie nannten ihn «Ully».
«Rechnerisch gesehen bin ich seit über dreissig Jahren kein Kind mehr.»
«Rechnerisch gesehen», sagte Renée und strich ihm über den Kopf.
Er lächelte. Wenn er jemandem solche Scherze durchgehen liess, dann seiner jüngsten Schwester.
«Zeigst du mir einmal den Tristan-Akkord?»
«Willst du jetzt noch Künstler werden?»
«Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg», zitierte er ein abgedroschenes Familienbonmot.
Sie setzte sich links von ihm auf die Klavierbank, die breit genug war für ein Spektakel zu vier Händen. Ohne Vorwarnung spielte sie einen Tristan-Akkord.
Ulrich Wille junior versuchte, in Ekstase zu geraten, aber es gelang ihm nicht. Die Töne machten ihn eher nervös. Sie klangen wie Arbeit, die noch nicht erledigt war.
«Wagners Geist wird mir fehlen», sagte er angesichts des bevorstehenden Umzugs in den Willeschen Familiensitz Mariafeld.
«Mutter freut sich, dass ihr Ully wieder zu Hause einzieht.»
Sie spielte weiter. Ihre Finger glitten nun geschmeidig über die Tasten, entfachten schwebende Klänge, die, je öfter sie sich wiederholten, etwas Bedrohliches annahmen, vielleicht, weil sie eine Erwartung aufbauten, die sie gar nicht erfüllen konnten, sich also steigerten in den unaufhaltsamen Untergang. Das war Wagner, der unglücklich Verliebte, gespielt von Renée, der ebenso unglücklich Verliebten, erstanden aus den Ruinen der deutschen Romantik, verloren im Wunderreich der Nacht.
«Wie geht es Annemarie im Engadin?», fragte er, um Isoldes Liebestod zu verhindern.
Renées Tochter Annemarie, schon Sorgenkind genug, begann nun auch noch Hosen und kurze Haare zu tragen, um wie ein Knabe den Mädchen hinterherzusehen. Das hatte sie von ihrer Mutter. Die Erbbiologie schien auch vor den Willes nicht Halt zu machen.
Sie brach die Übung ab, das Regiment unter ihren Fingern kapitulierte geschlossen. «Mach dir keine Sorgen», sagte sie. «Auch sie wird ihren Weg gehen.»
«Gehst du denn deinen Weg?» Eigentlich machte er sich weniger Sorgen um Annemarie als um Renée selbst.
Renée Schwarzenbach-Wille war verheiratet mit dem weltweit erfolgreichsten Seidenindustriellen, vielleicht war sie die reichste Frau der Schweiz, so genau wusste Ulrich Wille junior das nicht, man sprach nicht über Geld, nur manchmal über das Geschäft, aber irgendwie hing das eine ja mit dem anderen zusammen. Sie hatte fünf Kinder, ein barockes Landgut in Horgen und mehr Pferde, als sie sich als Kind erträumt hatte. Ihre grosse Liebe aber lebte in München: Die Opernsängerin Emmy Krüger, die an den Zürcher Festspielen vor vier Jahren als Isolde liebte, starb und entzückte.
«Ich habe ein neues Automobil», antwortete Renée.
Das also war ihr Plan. Ein Automobil, mit dem sie dem Unglück jederzeit davonfahren konnte, aus der Ordnung hinaus ins Chaos, aber bestimmt auch, sonst bliebe sie ja gemütlich zu Hause, ins Glück. Er stellte sich seine unbelehrbare Schwester vor, wie sie frühmorgens losfuhr, den ganzen Tag mit wachsender Aufregung über die Landstrassen bretterte und in der Abenddämmerung endlich die beiden Hauben der Münchner Frauenkirche erblickte. Wenn sie das Automobil allerdings so halsbrecherisch lenkte wie das Pferd, wurde ihm ganz bang.
«Sei bloss vorsichtig, Renée. Diese Gefährte werden immer schneller.»
«Komm, Ully, mach dich mal ein bisschen locker. Du erstickst mir noch irgendwann an deiner Strenge!»
Und noch bevor er durchschaute, was sie tat, hatte sie mit ihren flinken Klavierhänden nicht nur einen, sondern fast schon übergriffige drei Knöpfe seines Hemds geöffnet.
«Du!», fluchte er und stand auf, damit es nicht noch schlimmer wurde.
«Ist schon gut», sagte sie lachend und erhob sich ebenfalls. «Ich mache dir einen wieder zu.»
«Zwei.»
«Einverstanden!»
Während er ihr skeptisch beim Zuknöpfen zuschielte, stellte er fest, dass sie ihn mit einer uralten Feldzugsstrategie – drei Schritte vorwärts, zwei Schritte zurück – überlistet hatte.
«Schon viel besser, nicht wahr?», sagte sie triumphierend.
«Zu Hause werde ich es aushalten.»
«Inez sagte, du gehst heute noch zu Motta.»
«Jawohl», sagte Ulrich Wille junior erschrocken. Das rote Buch und der Tristan-Akkord hatten sein Tagesprogramm ganz durcheinandergebracht. Giuseppe Motta war sein Amtskollege im Stiftungsrat der Pro Juventute. Ausserdem Bundesrat und designierter Bundespräsident, im kommenden Jahr also der höchste Schweizer. Es wäre nicht gut gewesen, Motta zu versetzen. Auf der Tagesordnung stand ein ganz besonderes Projekt zur Sanierung vagabundierender Schweizerfamilien, eine Fürsorgearbeit, die darauf abzielte, dem ererbten Hang zum Scheitern entgegenzuwirken. Ulrich Wille junior sollte also als Präsident der Pro Juventute mit der Aufgabe betraut werden, das Land zu säubern und ein misslungenes Volk zu erziehen.
«Du hast es fast vergessen, nicht wahr?»
«Jawohl.»
«Soll ich dich fahren?»
«Bis nach Bern?»
«Einen schnelleren Chauffeur findest du nicht.»
Da hatte sie wohl recht. Er überlegte kurz, was das für seinen Ruf bedeuten würde, wenn er sich von einer Frau ins Bundeshaus chauffieren liesse. Aber dann fand er, dass es schön wäre, mit seiner Schwester über die Strassen zu brausen und sich wieder einmal länger mit ihr zu unterhalten, über Annemarie und die Fotografie und über die Zukunft Deutschlands ...
Sie verliess das Musikzimmer, um sich für die Ausfahrt bereit zu machen. Er blieb stehen und nahm noch einmal das rote Buch zur Hand. Seine Mutter hatte den Autor damals überaus sympathisch gefunden, ganz im Gegensatz zum Vater, dem nicht in den Kopf gegangen war, warum der Mann immer so schreien musste, und das wollte etwas heissen beim General, der sich ein Leben lang darum bemüht hatte, den preussischen Drill in die Schweiz zu holen. Und Renée, auch sie recht bezirzt von seinem Charme, hatte den Bayer mit einem hübschen Umschlag unterstützt, doch wozu? Damit er nach einem missglückten Putsch im Gefängnis landete. Immerhin hatte er die Auszeit sinnvoll genutzt und ein Buch geschrieben. Ulrich Wille junior sah sich noch einmal die Widmung auf dem Deckblatt an. «Meinem verehrten Ulrich Wille» stand da, das «junior» fehlte. Er würde das Buch ein andermal lesen, dachte er glücklich, bevor er den Deckel zuklappte.
Es hiess «Mein Kampf».