Engelina Eugster-Parpan (1874–1935)

Obervaz, Graubünden

1926

   

«Tschüss, Tante Maria!», rief Angelina, in der einen Hand hielt sie ihr erstes richtiges Spielzeug, ein kleines Bügeleisen, das sie soeben geschenkt bekommen hatte, mit der anderen Hand winkte sie.

Maria Ursula drehte sich noch einmal um, warf Angelina einen Kuss zu und rief: «Gute Nacht, meine Kleine!»

Dann zog sie davon, hinunter ins Tal Richtung Tiefencastel, und Angelina sah ihr hinterher, bis sie in der Dämmerung verschwunden war.

Engelina hatte das Geschehen gerührt beobachtet. Sie glaubte, dass es den beiden gutging, das erfüllte sie mit Dankbarkeit. Sie sass auf dem zur Sitzbank gewordenen Baumstamm, neben ihr qualmte Jacob lautlos seine Pfeife. Der Duft des verbrannten Tabaks verströmte einen Frieden, der das Leid vergangener Tage umnebelte. Die untergehende Sonne malte den Himmel orangerot und schliff die Kanten der Berge weich.

Angelina kam über die Wiese angerannt und setzte sich mit abwesendem Blick zu ihnen, direkt unter die Glocke, die an einem hervorstehenden Balken der Hütte hing. Gewissenhaft begann sie, mit dem kleinen Bügeleisen ihr Röcklein zu bügeln, das Engelina ihr letzte Woche genäht hatte.

Es stimmte Engelina hoffnungsvoll, dass Maria Ursula beim Spielwarenhändler ein Bügeleisen ausgewählt hatte, und nicht etwa einen Würfel oder eine kleine Drehorgel. Vielleicht war das ein Zeichen, und Maria Ursula würde sich dereinst doch noch zum Hausfrauentum bekehren.

«Erzählst du mir etwas, Mama?» Mama, so nannte die fünfjährige Angelina ihre Grossmutter Engelina.

«Was möchtest du denn hören, meine Liebe?»

«Gleich was, eine Geschichte!»

Engelina legte den Arm um das Kind und dachte nach. Sie hatte viel erlebt und konnte viel erzählen, aber sie hatte auch schon viel erzählt, und Angelina hatte mehr Freude an neuen Geschichten als an solchen, die sie mittlerweile besser kannte als sonst jemand. «Ich erzähle dir die Geschichte von Paul Fidel im Schwabenland», kündigte Engelina schliesslich an.

«Wer ist Paul Fidel?», fragte Angelina gespannt, denn das war eine neue Geschichte.

«Ein kleiner Junge, so klein wie du jetzt bist.»

«Und wo ist das Schwabenland?»

«Weit weg von hier. Hinter vielen Hügeln und Tälern. Es ist in Deutschland – aber jetzt lass mich erzählen ...»

Und dann erzählte Engelina die Geschichte von Paul Fidel, der aus einer ganz armen Familie kam, so arm, dass man ihn über den Sommer fortschickte, damit sie alle überleben konnten. Sie erzählte, wie er einem Jungen das Leben rettete, der beinahe in eine Schlucht gestürzt wäre. Wie er über den stürmischen See fuhr und sich im Keller des grossen Schiffs verlief. Wie ein Bauer mit einem Kreuz am Rücken ihn aufnahm – und wie er sich die ganze Zeit nach einem Mädchen sehnte, das er kurz zuvor kennengelernt hatte, das Mädchen des Schinders von der Lenzerheide ...

«Und war der Bauer wirklich böse?», fragte Angelina.

«Paul Fidel musste von früh bis spät arbeiten. Jeden Tag. Und immer barfuss. Gleich am Anfang haben sie ihm die Schuhe abgenommen. Manchmal hatte er so kalte Füsse, dass er froh war, wenn er irgendwo einen warmen Kuhfladen fand.»

Angelina rümpfte die Nase.

«Der Bauer war auch arm», fuhr Engelina fort. «Er hatte selber auch nichts, deshalb vielleicht das Kreuz. Denn böse war er nicht. Er hat Paul Fidel kein einziges Mal geschlagen. Trotzdem war es für ihn ein harter Sommer, ganz allein in einem anderen Land. Er hatte furchtbares Heimweh.»

«Armer Junge», sagte Angelina.

Engelina fragte sich, ob es eine gute Idee gewesen war, ihr die Geschichte zu erzählen. Es war eine alte Geschichte, sie lag so lange zurück, dass man glauben konnte, sie sei erfunden. Doch das änderte nichts daran, dass es eine ganz traurige Geschichte war.

Es wurde spät. Engelina brachte ihre Enkelin ins Bett, deckte sie zu, strich ihr mit dem Handrücken über die Wange.

«Was ist dann passiert?», fragte Angelina müde. «Ist Paul Fidel in Deutschland geblieben?»

Engelina schüttelte milde lächelnd den Kopf. «Wäre er in Deutschland geblieben, gäbe es mich gar nicht. Und dich auch nicht.» Und als sie das sagte, begriff sie wieder einmal, welch heiliges Wunder die Existenz jedes einzelnen Menschen war. Es liess sich mit nichts anderem erklären als mit göttlicher Vorsehung.

Angelina schien darüber nachzugrübeln, im Schein der Öllampe blickte sie an Engelina vorbei, die auf dem Rand des schmalen Bettes sass.

Engelina wollte die Geschichte zu Ende bringen, zu einem guten Ende, damit das Mädchen keine Sorgen mit in den Schlaf nahm. «Als Paul Fidel nach einem halben Jahr dreckig und geschafft wieder zurück nach Graubünden kam, war die erste Person, die er sah, das Schindermädchen. Marianna. Er fiel ihr vor Freude um den Hals, und als sie älter waren, hatten sie sich so gern, dass sie heirateten und Kinder bekamen.»

«Mama?»

«Ja?»

«Müssen heute auch noch Kinder ins Schwabenland?»

«Nein, mein Schatz. Zum Glück nicht mehr.»

Engelina machte die Lampe aus, nahm Angelinas Hand und blieb bei ihr in der Dunkelheit sitzen. Mit Paul Fidels Odyssee hatte sie Angelina aufgewühlt, mehr noch aber wohl sich selbst. Sie hatte eine spannende Abenteuergeschichte erzählen wollen, doch was sie dann getan hatte, war die Erkundung ihrer eigenen Seele. Wer war sie eigentlich? Woher kam sie und zu wem gehörte sie? Der frühe Tod der Eltern hatte sie aus der Familienchronik verbannt, nun ergatterte sie sich ihren Platz darin zurück, und auch wenn gewiss nicht alles stimmte, was sie beschrieben hatte, dann standen ihre Beschreibungen doch für die wahren Begebenheiten, und zum ersten Mal vielleicht hatte sie ihren Vater nicht als Phantom einer ungreifbaren Vergangenheit erfasst, sondern als Mensch, der einmal so lebendig gewesen war wie sie jetzt, der einmal so jung gewesen war wie Angelina jetzt. Allein mit ihrem Geist hatte sie alle Zeiten überwunden, sich zu ihm gesellt oder ihn zu sich geholt, sie war ihm endlich nahegekommen, sie hatte endlich einen Vater. Und mehr aus eigenem Wunsch als um Angelina zu besänftigen, hatte sie ihm ein Mädchen an die Seite gestellt, ihre Mutter, ihre Mutter als Mädchen, denn irgendwann müssen sich die beiden begegnet sein, irgendwie müssen die zwei zueinander gefunden haben, damit die Geschichte den Lauf nehmen konnte, den sie genommen hat, und nun, während Engelina immer noch Angelinas Hand hielt, ihre Wärme spürte, ihren Pulsschlag, weckte sie auch Mutter Marianna von den Toten, dann Grossvater Johann Friedrich, unaufhaltsam stiegen die Erinnerungen in ihr hoch, ergriffen sie, umschlossen sie, und da begann sie, das alte Lied zu summen, das sie aus der Kindheit kannte, ein schönes, trauriges Lied, das nun in ihrer hellen Stimme das Zimmer erfüllte, doch es war nicht allein ihre Stimme, es war die Stimme ihrer Ahnen, die durch die Welt gezogen waren und sie wieder verlassen hatten, es war die Melodie ihrer aller Sorgen, ihrer Schicksale, ihres Unglücks, die Vertonung der Wiesen und Wälder, die sie durchstreiften, des Weins, den sie tranken, der Tränen, die sie vergossen, es war der Klang einer Jahrhunderte andauernden Einsamkeit.

Engelina spürte, wie die Kraft langsam aus Angelinas Hand wich, sie hörte, wie ihr Atem schwerer wurde. Und während sich das Lied im Zimmer verlor, ging sie mit leisen Schritten hinaus.

Herr Mattli, ein ganz praktisch denkender Fürsprech von der Amtsvormundschaft, hatte nach der Geburt angeregt, das unglückliche Kind bei den Grosseltern unterzubringen. Schliesslich waren Engelina und Jacob Eugster erprobte und recht erfolgreiche Erzieher, der in Chur auf Abwege geratenen Tochter konnten sie vier Kinder entgegensetzen, die sich unbeschadet hielten. Und auch das Irrlichtern von Maria Ursula ging kaum auf die Kappe der Eltern, Engelina hatte ihr damals sogar dieses Buch mitgegeben, um sie auf die Fallen der Stadt vorzubereiten, einen Wegweiser mit der gesamten Lehre, zu der die Bibel schwieg. Mehr hatte sie nun wirklich nicht tun können. Nun, die Jahre vergingen, das Mädchen geriet gut, und Maria Ursula fasste wieder Tritt in der Tugendwelt: Kürzlich hatte sie in Tiefencastel eine neue Anstellung als Zimmermädchen bekommen.

Jacobs Pfeife war ausgegangen. Engelina setzte sich wieder zu ihm, eine Weile schwiegen sie gemeinsam, lauschten den Grillen und dem Wind, der sanft über das Gras strich. Der Tag hatte sich in die Nacht erschöpft, nichts würde heute mehr geschehen, bis plötzlich eine Sternschnuppe vom Himmel fiel.

Engelina bekreuzigte sich. Es war ein besonders furchterregendes Peitschen der göttlichen Zuchtrute gewesen.

«Warum eigentlich», fragte Jacob, die erloschene Pfeife nutzlos zwischen den Lippen, «bist du so fromm geworden, wo doch der Herrgott dir so früh die Eltern genommen hat.»

«Eben genau deshalb.»

«Weil er so grausam war?»

«Mutter und Vater tot. Der Bruder stumm. Mit wem sollte ich denn sonst reden? Ausserdem erfuhr ich, dass Gott niemals stirbt.»

«Aber stumm ist auch er.»

Und Engelina schlug gleich noch ein Kreuz zur Errettung ihres frevlerischen Gatten.

Der Himmel verhielt sich wieder ruhig. Der Mond schien. Die sieben Lichter des Grossen Wagens befanden sich alle an ihrem Platz – eines davon aber flackerte bedenklich, als löste es sich demnächst aus der Ordnung.

Jacob nahm die Pfeife aus dem Mund, hustete und sagte: «Diese Geschichte vorhin. Ist die wirklich wahr?»

«Natürlich», sagte Engelina.

«Du warst kaum auf der Welt, als dein Vater gestorben ist.»

«Eine Geschichte ist grösser als ein Mensch.»

Sie sah es Jacob an, was gerade in seinem unverbesserlichen Kopf vorging. Er glaubte ihr nicht. Er glaubte nicht, dass Paul Fidels Abenteuer an vielen Lagerfeuern immer wieder überliefert worden war, damit es nicht vergessen ging. Er glaubte, dass sie die alten Geschichten jeweils so erzählte, wie sie ihr gerade in den Sinn kamen. Und als Nächstes, bestimmt schüttelte er innerlich schon den Kopf, schlug er eine Brücke zur Bibel, denn er glaubte, dass auch die Geschichten in der Bibel nicht wahr sein konnten. Er glaubte, dass die Evangelisten eine ebenso blühende Fantasie besessen hatten wie seine Frau. Das bedeutete, dass sich der Fassbinder Jacob Eugster aus Obervaz über das Heilige Wort stellte. Irgendwann nützten dann auch die Kreuzzeichen nichts mehr.

Jacob zündete sich die Pfeife wieder an und sagte seelenruhig: «Abraham war unmöglich hundertfünfundsiebzigjährig.»

Er begriff nicht, dass man die Bibel auslegen musste. Dass man nachdenken und die Botschaft suchen musste, und wenn man nicht weiterkam, den Pfarrer fragen musste. Dumm war er nicht, manchmal sagte er recht gescheite Sachen, aber er kam eben aus einer Fassbinderfamilie, in der der Wein niemals etwas anderes gewesen war als Wein.

Auf einmal erinnerte sich Engelina an einen Mann aus dem Valsertal, der vor vielen Jahren, als ihr Bruder Franciscus und sie ihm einen Holzesel verkaufen wollten, von Abraham und den Sternen gesprochen hatte. Aber hier war sie tatsächlich nicht sicher, ob die Geschichte einem Erlebnis entsprang und nicht doch einer Einbildung, denn der Mann aus dem Valsertal hatte kein Gesicht. Engelina sah wieder in den Himmel und dachte in kühn miteinander verknüpften Gedanken an ihre Vorfahren, an die göttliche Wahrheit und an die Sterne. Vielleicht, dachte sie, war die ganze Geschichte der Welt, alles, was man wissen musste, in den Nachthimmel geschrieben, eine riesige Schrift, die sich den Menschen bei Dunkelheit offenbarte und die doch niemand lesen konnte, und die Sterne waren die Worte und die Sternschnuppen waren gar keine Zuchtruten, sondern die kleinen Geheimnisse, die nicht verewigt werden sollten.

Hatte Maria Ursula etwas gesagt? War Angelina deshalb so zerstreut gewesen und gar nicht wegen Paul Fidel?

Es gab da nämlich ein Geheimnis, das man nicht mehr ewig hüten konnte, und das bereitete Engelina Bauchschmerzen. Ein Kind musste bei seinen Eltern aufwachsen, und noch glaubte Angelina, dass sie das auch tat. Bislang wunderte sie sich nicht über Engelinas und Jacobs Alter oder darüber, dass Tante Maria so oft es ging zu Besuch kam. Irgendwann musste man ihr alles erzählen, aber noch war es zu früh, noch war sie ein kleines Mädchen, so rein und unschuldig wie ihr Name.

Angelina.

So hatte Maria Ursula sie getauft, und Engelina freute sich über die Würdigung, die ihr damit zukam, über ihr Fortleben im Namen der Enkelin, und doch sah sie im veränderten Anfangsbuchstaben immer auch ein stilles Aufbegehren ihrer Tochter, dieses kleine Rebellentum, das Maria Ursula als junge Frau in die Stadt verführt und der ganzen Familie viel Kummer eingetragen hatte, und manchmal, wenn sie düster gestimmt war, sah Engelina gerade in diesem abweichenden Vokal ein latentes Unheil, einen verhängnisvollen Bruch in der Beständigkeit der Familie.