Obervaz, Graubünden
1926
Heute sehnte sich Nicolo Jochberg einen Vorfall herbei, eine Rauferei, ein paar Bengel, die Äpfel stahlen oder wenigstens einen Betrunkenen, der herumstolperte und ins Gras fiel, doch er ahnte, dass nichts dergleichen geschehen würde, also führte er seinen Begleiter die Toten entlang und zählte laut die Moser.
Jochberg, der als Dorflehrer von Obervaz seit Jahren vergeblich gegen das Übel ankämpfte, freute sich über die jüngsten Entwicklungen. Endlich ging etwas. Der Grosse Rat hatte einen jährlichen Vagantenkredit gesprochen, die Pro Juventute zeigte sich bereit, den Kanton Graubünden zu unterstützen, und schliesslich, an jenem heissen Tag im August, war ein Mitarbeiter des Zentralsekretariats von Zürich nach Obervaz gereist, um sich vor Ort ein Bild über die Verhältnisse zu machen. Es war ein interessierter und gebildet wirkender Herr namens Dr. Alfred Siegfried.
Auf dem Friedhof von Zorten liess sich die Last, unter der die Gemeinde litt, recht gut illustrieren. In der ersten der Reihen, die jeweils zehn Grabsteine lang waren, hatte Jochberg drei Moser gezählt. In der zweiten waren es vier.
«Entschuldigung», sagte Siegfried verlegen, «aber das hier», und er deutete auf ein Grab mit einer in den Stein gehauenen Klarinette, «ist ein Waser, nicht ein Moser.»
Jochberg nickte. Er musste sich ermahnen, dass er hier mit einem Zürcher Behördenvertreter redete, und sich entsprechend exakter äussern. «Sehen Sie mir bitte meine Ausdrucksweise nach», sagte er. «Doch in unserer Sprache ist Moser schon eine Bezeichnung geworden, ein anderes Wort für Vagant. Das sagt ja im Grunde einiges über die Sippe aus. Genau genommen haben Sie recht: Ein Waser ist ein Waser, und ein Waser ist auch ein Vagant. Aber da ein Moser ein Vagant und ein Vagant ein Moser ist, ist eben auch der Waser ein Moser. Quod erat demonstrandum», schob er etwas übermütig nach, dazu unsicher, ob er die Wendung auch richtig einsetzte. Aber der Fürsorger Siegfried hatte bestimmt nicht Sprachen studiert, also konnte man sich auch mit etwas falschem Latein von den bildungsfeindlichen Mosern abheben, um auf die Tiefe des Grabens hinzuweisen, der die Gemeinde entzweite. Er verzichtete darauf, die Erhebung in der dritten Grabreihe fortzusetzen, zumal sich Siegfried ja insbesondere für die Zustände ausserhalb des Friedhofgemäuers interessierte, und fasste zusammen: «Inzwischen ist jeder Dritte unserer Einwohner ein Moser – das ist auch unter den Lebenden so.»
Siegfried schmunzelte höflich, bemühte sich aber sofort wieder um Ernsthaftigkeit. Er schien über Jochbergs Worte nachzudenken, dann fragte er: «Muss ich mir vorstellen, dass diese Vaganten alle irgendwo in den Wäldern wohnen?»
Jochberg schüttelte den Kopf. Er hatte es befürchtet, dass sein Friedhofrundgang die Dinge nicht sehr lebensnah veranschaulichte. «Irgendwo kommen die Vaganten immer unter, einige sind sogar seit Jahren sesshaft. Aber darum geht es gar nicht.»
«Worum geht es dann?»
«Es geht um das Vagantenblut, das in ihren Adern fliesst. Sehen Sie ... Das Vagantentum ist ja weit mehr als das Herumstreichen. Es ist auch das Faulenzen, Betteln, Schnapsen. Die Vaganten haben das im Blut. Und das geben sie einander weiter, von Generation zu Generation.»
Siegfried tupfte sich mit einem Taschentuch die schweissnasse Stirn ab, offenbar machte ihm das Bündner Klima zu schaffen. Er trug aber auch einen dicken Anzug, als käme er direkt aus dem Winter. «Und wie sieht es mit erzieherischen Massnahmen aus?», fragte er.
«Das Armenhaus ist ein Schuss in den Ofen. Da wird getrunken wie vorher, oder sogar noch mehr, da ja die Trunkenbolde unter sich sind und sich noch übertreffen wollen. Übrigens, darf ich Ihnen auch etwas zu trinken anbieten?»
«Ich wollte Sie eben darum bitten», sagte ein reichlich durstig aussehender Siegfried.
Sie verliessen den Friedhof und spazierten durch Zorten, das gemeinsam mit den Weilern Lain und Muldain die Gemeinde Obervaz bildete. Noch immer war kein Vorfall in Sicht. Es war eben Sommer, die Schule war geschlossen, die Kessler und Korber zogen mit ihren Kindern herum oder flohen vor der Hitze in den Schatten. Der Salpetersieder kam ihnen mit einer Sense entgegen und grüsste folgsam, wohlwissend, dass der Besuch, den Jochberg empfing, kein geringer sein konnte. Am Brunnen wusch die Sakristanin das Chorhemd des Pfarrers. Beim Fassbinder sass ein Mädchen auf der Bank und murmelte ein Lied, die Glocke über seinem Kopf verriet die Moserabstammung.
«Wir sind da», sagte Jochberg und zeigte auf das grösste Haus am Weg. Auf einem steinernen Sockel zog sich ein hübscher Holzbau hoch, in dem sich die Dorfvorherrschaft des Lehrers andeutete. Die Blumen vor dem Eingang verkündeten das einträchtige Familienleben, das Vogelhäuschen unter dem Giebel den karitativen Geist, der hier hauste.
Siegfried musste sich bücken, um durch die Tür zu treten, dann führte Jochberg ihn durch einen hell getäfelten Flur hinaus auf den Balkon, der eine fürstliche Aussicht hangabwärts bot.
«Ein Gläschen?», fragte Jochberg.
«Ich trinke nicht», sagte Siegfried irritiert.
«Ein Gläschen macht doch noch keinen Trinker.»
«Lieber Wasser, bitte.»
Ein Gläschen, fand Jochberg, hatte schon manche gute Zusammenarbeit eingeleitet, doch offenbar war Siegfried ein überzeugter Abstinenzler. Das brauchte nicht unbedingt ein Nachteil zu sein. Vielleicht würde es sich sogar noch als dienlich erweisen. Jochberg holte einen Krug Wasser und zwei Gläser.
Sie setzten sich wie ein Ehepaar nebeneinander an den Tisch, doch es war eine Sitzordnung, die sich bei diesem Panorama aufdrängte. Das Vordach schob sich segensreich vor die Sonne, sie sahen in die Weite und tranken, ohne sich vorher zuzuprosten, eine kleine Geste der Eintracht, die beim Genuss von Wasser eben abhandenkam.
«Denken wir uns einmal hundert Jahre zurück», sagte Jochberg, nachdem er dem weitgereisten Siegfried einen Moment der Erholung gegönnt hatte. «In einem abgelegenen Hof auf der Lenzerheide lebte ein junger Mann mit seiner Frau, ein Wasenmeister.»
«Wasenmeister?»
«Ja, auch Schinder oder Abdecker genannt. Er machte die Arbeit, die niemand machen wollte.»
«Und das wäre?»
«Er entsorgte und verarbeitete Tierkadaver. Er lederte die Tiere ab und trocknete ihre Haut. Er trennte die Knochen vom Fleisch und mahlte sie zu Dünger. Er löste das Fett ab, schmolz es aus und verkaufte es als Leimleder. Er kompostierte die Eingeweide in tiefen Gruben. Er handelte mit Mähnenhaaren und Schweineborsten.»
«Nicht gerade das vornehmste Handwerk.»
«Im Mittelalter gehörte dieses Handwerk zu den unehrlichen Berufen.» Lehrer Jochberg war nun ganz in seinem Fach, musste aber aufpassen, dass er nicht zu sehr in den schulmeisterlichen Ton fiel, den er über die Jahre perfektioniert hatte. «Schinder», fuhr er fort, «waren teuflische Wesen. Sie lebten abseits der Gesellschaft, der Beruf blieb über ganze Epochen in der Familie, weil der Sohn eines Schinders gar keine andere Möglichkeit hatte, als auch Schinder zu werden, und wenn er heiraten wollte, dann blieb ihm dafür nur die Tochter eines anderen Schinders übrig. So schlimm mag es heute nicht mehr sein, aber es gibt immer noch Leute, die einem Schinder niemals die Hand geben.»
«Und was haben die Schinder mit den Vaganten zu tun?»
«Also, zurück zu diesem Mann, der auf der Lenzerheide gelebt hat. Sein Name war Johann Friedrich Moser. Er war, wenn man das so sagen kann, der erste Moser. Sein Ziegenstall war der beste Kreisssaal Graubündens. Er wurde mit siebzehn Jahren zum ersten Mal Vater. Und mit fast siebzig Jahren zum letzten Mal.»
«Und die Frau?»
«Die hat er gewechselt. Doch unsere Moser stammen alle von ein und demselben Mann ab. Die ganze Sippe, die uns heute so viele Sorgen bereitet, geht zurück auf den ausgestossenen Schinder von der Lenzerheide. Sie können sich vorstellen, was das für eine kleine Gemeinde wie die unsere bedeutet. Es ist ein Staat im Staat.»
«Und all die Kinder kommen zu Ihnen in die Schule.»
«Stellen Sie sich einmal fünfzig Kinder in einem kleinen Schulzimmer vor. Und dann stellen Sie sich darunter fünfzehn bis zwanzig verwahrloste Idioten vor.»
«Das stelle ich mir schwierig vor.»
«Es ist ein Elend. Und es ist keine Besserung in Sicht.»
«Nun seien Sie nicht so pessimistisch. Wir von der Pro Juventute sind dafür da, das Elend der Jugend zu bekämpfen.»
«Ich will Ihnen nichts unterstellen. Doch ich frage mich, ob Ihnen das Ausmass des Elends wirklich bewusst ist.»
Er stand auf, holte in der Stube ein Buch aus dem Regal, kehrte auf den Balkon zurück und legte es auf den Tisch.
Siegfried sah sich das blassgrüne Buch mit der Skepsis des Ahnungslosen an, doch Jochberg bemerkte, dass seine Neugier geweckt war. Auf dem Umschlag stand geschrieben:
Psychiatrische Familiengeschichten
Von
Dr. J. Jörger
Direktor der graubündnerischen Heilanstalt
Waldhaus bei Chur
Darunter war ein Emblem abgebildet, ein von einem Schachspringer gekrönte Kartusche, die den Spruch «Alle Zeit wach» sowie die Jahreszahl 1842 enthielt. Jochberg schlug das Buch in der Mitte auf, blätterte einige Seiten weiter, bis er zur Überschrift «Die Familie Markus» gelangte. «Hier», sagte er, «ist die haarsträubende Familiengeschichte der Moser zusammengefasst.» Dann suchte er den Stammbaum, der sich im Anhang des Textes befand. Am oberen Seitenrand stand geschrieben:
Abraham, geb. 1807, gest. 1888. Wasenmeister, Glockengiesser.
Auf den folgenden neun Seiten waren die Nachkommen aufgelistet, versehen mit einer Ordnungsnummer von 1 bis 266, einer Generationsklassierung, Geburts- und Sterbejahr sowie einer stichwortartigen Charakterisierung. Es war ein Panoptikum des Grauens:
Potator. Suicid. Abnorm. Falschmünzer. Imbezill. Armenhaus. Erotisch. Raufer. In der Jauchengrube ertrunken. Unsittlich. Quacksalber. Unehelich. Besserungsanstalt. Anpassungsunfähig. Brandstifter. Unzuverlässig. Idiot. Xantippe. Vergiftung durch Salzsäure. Miserable Heirat. Psychotisch. Potatrix. Zwergwuchs. Schwerhörig. Korrektionshaus. Diebstahl. Sonderling. Schizophren. Irrenhaus.
«Darf ich?», fragte Siegfried, nahm das Buch vom Tisch, setzte sich die Brille auf, und während er mit sorgfältiger Hand die Seiten umschlug und seine Augen eifrig über die Zeilen flogen, witterte Jochberg, dass Jörgers Arbeit noch von Bedeutung sein konnte, zumal das geschriebene Wort des Wissenschaftlers womöglich mehr Gewicht besass als die dahingesprochenen Klagen des Dorflehrers.
«Warum eigentlich Markus?», fragte Siegfried. «Warum ist hier die Rede von einem Abraham Markus aus Bernau, wo Sie doch vorhin sagten –»
«Jörger verwendete für seine Arbeit Codenamen», unterbrach Jochberg ihn. «Abraham Markus ist Johann Friedrich Moser. Bernau ist Obervaz.»
«Sämtliche zweihundertsechsundsechzig Personen tragen einen Codenamen?» Siegfried runzelte die Stirn. «Es würde uns bei der Pro Juventute sicher helfen, die richtigen Namen zu kennen.»
«Ich kann Ihnen die richtigen Namen nennen.»
«Sie haben alle Namen dechiffriert?»
«Nein. Jörger hat die richtigen Namen von mir.»
Jochberg musste ihm die Rolle zeigen. Auf der blanken Rückseite einer Schweizerkarte, die er für den Schulunterricht nicht mehr brauchte, hatte er seine Nachforschungen in Form eines Stammbaums festgehalten. Über all die Jahre hatte er in kleiner Schrift, die dennoch die ganze Rolle füllte, die Familienmitglieder der Moser erfasst und beschrieben, inzwischen waren es mehr als dreihundert, ein gewaltiges Werk, das die Grundlage bildete für Jörgers Arbeit, die nun offenbar auch in Deutschland auf reges Interesse stiess.
«Mein Gott», sagte Siegfried sichtlich beeindruckt, als Jochberg den Stammbaum auf dem Tisch entrollte. «Allmählich beginne ich, Sie zu verstehen.»
«Als Dorflehrer ist man so etwas wie das Gewissen des Dorfes», sagte Jochberg.
Am oberen Rand der Rolle stand geschrieben:
Johann Friedrich, geb. 1807, gest. 1888. Wasenmeister, Glockengiesser.
I. Ehe: Eugenia Witzelmann, geb. 1802, gest. 1871.
II. Ehe: Agatha Parpan, geb. 1843, gest. 1911.
Und dann folgten die Kinder, die aus diesen beiden Ehen hervorgingen, Johann Friedrich, Franz, Mathias, Marianna, Maria Barbara, Josef, Peter, Ferdinand, Johann Anton, Johann Georg, Maria Eugenia Scholastica, und die Ehefrauen und Ehemänner dieser Kinder, und wiederum deren Kinder, und so zogen sich die Zweige wie eine immer grösser werdende Lawine bis ans untere Ende der Rolle dahin.
«Es gab einmal den Vorschlag, die Vaganten auf einer Südseeinsel zu kolonisieren», sagte Jochberg und dachte dabei an die Diskussionen, die er mit Jörger darüber geführt hatte. «So gäbe es keine Rassenvermischung mehr, die Vaganten wären auf sich selbst gestellt, sie müssten lernen, zu arbeiten, anständig zu sein, zu leben. Doch ich bezweifle, dass sie die nötige Tatkraft dazu hätten.»
«Ich würde mir Jörgers Buch gerne in Ruhe ansehen», sagte Siegfried versonnen.
«Natürlich. Nehmen Sie das Buch mit.»
Siegfried legte das Buch wie eine kostbare Entdeckung in seine Aktenmappe. «So hart es klingen mag», sagte er mit besorgtem Gesicht, «aber ich denke, man muss versuchen, den Verband dieses Volkes zu sprengen. Die Familiengemeinschaft auseinanderzureissen.» Nach einer Denkpause fügte er hinzu: «Und dabei müssen wir bei den Kindern anfangen. Wir müssen die Kinder von der Landstrasse wegbringen.»
Vom Balkon aus sahen sie, wie unten auf dem Weg eine Familie vorbeiging, die Eltern, fünf Kinder, in Lumpen gehüllt. Und da geschah es. Die kleine freche Olga, die neu an der Schule war, streckte Jochberg vor den Augen Siegfrieds die Zunge heraus.
«Die Waser», sagte Jochberg, den Skandal überspielend.
«Moser?»
Siegfried war ein verständiger Mann.
«Ich muss Ihnen etwas gestehen», sagte Siegfried dann. «In Zürich habe ich noch ein anderes Wort für die Vaganten gehört.»
«Ach ja? Welches?»
«Vazer.»
«Zum Teufel nochmal», rief Jochberg aus, «diese Moser bringen Schande über mein Dorf!»