Gion Gisep Candreia (1892–1984)

St. Moritz, Graubünden

1928

   

Ein Ausflug, hatte Gion Gisep Candreia angekündigt, ein Ausflug an ein grosses Fest mit Fahnen, Fanfaren und Fotografen, mehr hatte er nicht verraten, ja viel mehr hatte er selber nicht gewusst über das Fest, von dem die Leute in den Wirtshäusern redeten – und dann war er mit seinen beiden Damen nach St. Moritz zu den Olympischen Spielen gereist.

Es gab recht viel Volk. Man erreichte die Ortschaft am See mit der Rhätischen Bahn, mit Automobilen und Pferdekutschen, und nachdem die frisch eingetroffenen Besucher eine Weile ratlos durch die Gassen gestapft waren, entdeckten sie die Hinweistafeln und begaben sich zur Wettbewerbsstätte. Dort konnten sie nach einem Trompetenstoss der Aufführung der Amerikanerin beiwohnen, die eigens aus Amerika nach Graubünden gekommen war, um ihre Übungen zu zeigen. Ausgestattet mit scharfen Kufen an den Füssen tanzte sie über das Eis, vorwärts, rückwärts, ein Sprung, die Landung auf nur einem Bein, und die Bewegungen passten immer genau zur Musik, die aus einem grossen Lautsprecher über die Landschaft hallte. Dem nicht genug trug sie bald ein atemberaubendes Kunststück vor, bei dem der eine Schlittschuh in die Luft ragte, die Arme ausgebreitet wie ein Adler, ein kurzer Stillstand auf der Fussspitze, um sogleich wieder Geschwindigkeit aufzunehmen, ein Antritt, ein Schwung, eine Drehung um die eigene Achse, eine weitere Drehung und noch eine, und dann konnte man gar nicht mehr mitzählen, wie oft sie sich um sich selber drehte ... Es war ein Spektakel!

Auf der stabil konstruierten Holztribüne klatschten die Ehrengäste, die Fotografen drückten immer wieder auf ihre Apparate, und Gion, Maria Ursula und Angelina standen hinter der gut einen Meter hohen Schneemauer, die durch das Freischaufeln des Eises entstanden war und die Kulm Eisbahn umgab. Abwechselnd sah Gion von der Artistin zu Angelina, die sich strecken musste, damit ihr Blick die Schneemauer überwand, und ihr verblüfftes Gesicht, mit dem sie die Darbietungen verfolgte, machte ihn glücklich. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Und er ermöglichte es ihr. Weil er ihr Vater war. In Maria Ursulas Augen fand er Gedanken, die seinen ähneln mussten. Er zündete sich eine Toscanelli an, liess ihren süssen Vanilleduft in den St. Moritzer Himmel steigen und konnte es nicht fassen, dass er plötzlich und zum ersten Mal in seinem Leben eine Familie hatte.

Gion Gisep Candreia war ein kleingewachsener Mann, den die Frauenwelt jahrelang übersehen hatte. Aufgewachsen im Waisenhaus war ihm keine andere Wärme vertraut gewesen als jene seiner Schafwolldecke und später die eines grossen Schlucks Kirsch. Zuflucht hatte er in der Arbeit gefunden, mal in der Buchdruckerei Dittmann in Davos, mal in den Werkstätten Brown Boveri in Baden, dann wieder als Messerputzer in Tiefencastel und neuerdings als Briefträger in Mutten. Im ganzen Land hatte er sein Brot verdient, und es gab Leute, die sagten, er mache alles, weil er nichts könne, andere aber, die ihn besser kannten, die ihn arbeiten gesehen hatten, sagten, er mache nichts lange, weil er alles könne. So hatte er sich durch die Zeit gestohlen, ahnungslos fast, dass ihm etwas fehlte, bis er Maria Ursula traf. Auch sie war vom Leben bisher nicht verwöhnt worden. Ein Auswärtiger hatte sie ins Verderben gestürzt, indem er ihr ein Kind gemacht hatte, das er dann nicht wollte, weil er auch sie nicht wollte, und sie, als hätte sie das Kind gewollt, hatte es in der Fremde wie eine Verbannte zur Welt gebracht, bevor das uneheliche Kind zu ihren Eltern kam, weil es nicht bei der schändlichen Mutter aufwachsen durfte. Es waren Jahre, die einen Riss in ihrem Gemüt hinterliessen, einen dunklen Fleck im Herzen. Doch wie zwei Kometen, die sich in der Nacht verirrt hatten, waren sie plötzlich aufeinandergeprallt, und schon kurz darauf trug Maria Ursula einen funkelnden Ring am Finger.

«Das ist das Fräulein Hoppla», hörte Gion neben sich, während der Sprecher die Eiskunstläuferin aus Norwegen ansagte.

Gion drehte den Kopf und sah einen Mann mit Schirmmütze und einem schwarzen Buch in der Hand. Womöglich ein Reporter. Und offenbar hatte dieser ihn angesprochen. «Fräulein Hoppla?», fragte Gion nach.

«Sie war schon bei den Spielen vor vier Jahren dabei. Als Elfjährige, denken Sie sich das einmal. Aber schon nach wenigen Schwüngen ist sie auf den Hintern gefallen und hat ‹Hoppla!› gerufen. Seither hat sie den Spitznamen Fräulein Hoppla.»

Sie lachten. Gion war gespannt darauf, ob das Fräulein Hoppla Fortschritte gemacht hatte. Die Musik setzte wieder ein, die Vorstellung begann, derweil kritzelte der Reporter etwas in sein schwarzes Buch und fragte beiläufig: «Und wie alt ist Angelina jetzt?»

Angelina. Was zum Teufel. Seine Toscanelli fiel in den Schnee.

Der Reporter schien sein Entsetzen zu bemerken. «Ich bin aus Obervaz», sagte er, beugte sich vor und begrüsste mit einer feinen Handbewegung die beiden Obervazerinnen Maria Ursula und Angelina.

«Guten Tag», sagte Maria Ursula mit ungewohnter Zurückhaltung.

Angelina schwieg und sah konzentriert aufs Eis.

«Sieben», sagte Gion beruhigt, fand seine Toscanelli und zündete sie wieder an. «Angelina ist sieben.»

«Und wo wohnen Sie jetzt?»

«In Mutten. Ich bin dort Briefträger.»

«Tatsächlich?», staunte der Reporter. «Der Bote von Liebesbriefen also.»

«Und von Rechnungen.»

«Das eine führt zum anderen.»

Sie lachten, Gion war nun wieder ganz unbekümmert. «Vorher habe ich das Hotel Pontresina in Schuss gehalten», sagte er nicht ohne Stolz. «Und davor war ich Pferdeknecht in Schafisheim.»

«Sie sind ja ein richtiger Wandervogel!»

«Jetzt ist er Briefträger», sagte Maria Ursula.

«Aber eigentlich nur vorübergehend», präzisierte Gion. «Ich sage immer: Wenn man nirgendwo daheim ist, ist man überall daheim.»

«Wir sind in Mutten daheim», sagte Maria Ursula.

Warum benahm sie sich so schnippisch? Hatte er ein bisschen angegeben? Aber er hatte das Gespräch ja nicht angefangen. Damit sich nicht mehr alles um ihn drehte, fragte er den Reporter: «Und Sie schreiben hier einen Artikel über die Olympischen Spiele?»

«Ich bin Lehrer», sagte der Mann, und plötzlich wirkte er selbstherrlich. «Ich war nie etwas anderes. Mein Name ist Jochberg.»

Das Fräulein Hoppla beendete ihren Tanz, ohne dass Gion ihr richtig zugeschaut hatte. Aber ihrem strahlenden Lächeln und dem Applaus nach zu urteilen, war sie dieses Mal nicht auf den Hintern gefallen.

Noch während alle klatschten, flüsterte Maria Ursula Gion ins Ohr: «Gehen wir ein bisschen spazieren.»

Er sah sie verwundert an. Die nächste Akrobatin band sich schon die Schnürsenkel.

Maria Ursula nahm Angelina an der Hand und entfernte sich von der Eisbahn. Gion nickte dem Lehrer überfordert zu, ahnungslos, ob man sich gleich wieder zu ihm gesellte oder ihn nie mehr im Leben sah. Er würde sich noch daran gewöhnen müssen, den plötzlichen Launen der Frauen Folge zu leisten.

«Was ist denn los?», fragte Gion, als er sie eingeholt hatte.

«Der muss nicht alles wissen», sagte Maria Ursula.

«Das war doch ein freundlicher Mann.»

«Das war Jochberg. Der König von Obervaz. Er mag uns nicht. Und ich mag ihn auch nicht.»

«Was hat er denn verbrochen?»

«Er steckt seine Nase überall hinein, hält sich für etwas Besseres. Ein Lehrer halt.»

«Vor Lehrern habe ich mich noch nie gefürchtet», sagte Gion trotzig. Doch er wusste, wie viel Macht diese Mistkerle in den Dörfern hatten.

«Olga», sagte Angelina plötzlich, nachdem sie lange geschwiegen hatte.

«Was sagst du?»

«Olga musste einmal den ganzen Morgen in der Ecke stehen. Mit dem Gesicht zur Wand.»

«Warum denn das?»

Angelina zuckte mit den Schultern.

Die gute Stimmung war dahin. Es lag an der Adoption. Er hatte sie beantragt, vor Wochen schon, und noch immer war sie nicht vollzogen, noch musste sie besiegelt werden von irgendeinem Beamten, der sich vielleicht Rat beim Dorflehrer einholte ... Aber was sollte der schon einwenden? Niemand konnte ihnen das Recht verwehren, ihr Kind bei sich zu haben, Maria Ursula war schliesslich die Mutter! Und er würde bald so sehr der Vater sein, dass keiner mehr es in Frage stellte.

«Kommt», sagte er und versuchte, wie ein Vater zu klingen. «Wir gehen etwas trinken!» Er war nicht nach St. Moritz gereist, um sich Sorgen über die Zukunft zu machen. Die hatte er ja schon zu Hause. Neben der Adoption drehten sie sich vor allem um das Geld. Angelinas Schuhe waren kaputt, Maria Ursula trug immer dasselbe Hemd, der Kochkessel war schwarz ... Sein Einkommen wurde nicht plötzlich grösser, nur weil er für drei Personen aufkommen musste. Und wenn er länger darüber nachgedacht hätte, ob er mit seiner Familie diese Festspiele besuchen sollte, dann wären sie jetzt nicht hier. Deshalb hatte er nicht länger darüber nachdenken wollen. Denn man musste ja auch einmal einen Familienausflug machen! Er musste seinen Frauen etwas bieten!

In den Gassen des Orts war es nicht ungefährlich, regelmässig trabte ein Pferdegespann vorbei, und manche Männer trugen Skier auf der Schulter, die so lang waren wie Dachlatten. St Moritz besass einen gut entwickelten Handel, im Dorfkern reihten sich mehrere Geschäfte aneinander. Ein Laden hatte sich auf Kunstvasen spezialisiert, Vasen also, die nur für das Auge gedacht waren und nicht für Blumen. Es gab weiter ein Reisebüro, in dem sie wohl alle möglichen Länder kannten, und sogar eine Fernsprechstube. Hier konnte man mit jemandem sprechen, der gar nicht im Raum war, und Gion hätte Angelina diesen Spuk gerne vorgeführt, doch wen hätte er schon anrufen sollen? Als sie zur Fotozentrale kamen, blieb Gion stehen und betrachtete die Bilder im Schaufenster. Abgesehen davon, dass die Farben fehlten, waren Fotografien unglaublich wahrhaftig, es gab nichts, was der Realität näherkam. Und während die Passanten hinter ihm vorbeieilten, ohne eine Spur in seinem Leben zu hinterlassen, ergriffen ihn die eingerahmten Frauen, Männer, Kinder dermassen, dass er sich kaum mehr von ihnen lösen konnte. Die Gestik, das Glänzen in den Pupillen und sogar die Seelenlage, alles war sichtbar und wirkte echt, echter fast als bei echten Menschen, die sich ständig bewegten, ihren Ausdruck wieder aufgaben und davonzogen. Gion dachte kurz nach. Natürlich ersehnte man sich die Adoptionsurkunde. Aber es war vermutlich ein zweimal zusammengefaltetes Papier, das mit seinem kalten Advokatendeutsch eher in der Schublade als mitten im Herz landen würde. Wie viel bewegender wäre dagegen eine stimmungsvolle Familienfotografie? Als er eintrat, klingelte eine helle Türglocke.

Sie mussten sich vor eine Holzwand stellen. Während der Fotograf die Kamera einrichtete, eine angsteinflössende Kiste aus Stahlblech, die auf vier Beinen stand, machte sich Familie Candreia für den grossen Moment zurecht. Gion kämmte sich mit Daumen und Zeigefinger den Schnurrbart, Maria Ursula brachte eine Strähne, die auf die falsche Seite des Scheitels geraten war, an ihren Ort zurück, Angelina zupfte sich nervös am Kragen herum, ein loser weisser Kragen, der federleicht auf ihren Schultern schwebte und das Schmuckstück ihrer Garderobe bildete.

«Ich mache nur eine Aufnahme», sagte der Fotograf und rollte drohend die Stirn, «jede weitere kostet. Also schaut recht freundlich.» Und als sich die drei darauf vorbereiteten, recht freundlich zu schauen, drückte der Fotograf bereits ab.

Auf der Terrasse des Grand Hotels kam Angelina aus dem Staunen nicht mehr heraus über das Bild, das der Fotograf ihnen nach kurzer Wartezeit ausgehändigt hatte. Zum ersten Mal sah sie sich abgebildet, eine kleine Kopie ihrer selbst, und konnte es nicht begreifen. Die Limonade, die vor ihr auf dem Tisch sprudelte, hatte sie noch nicht angerührt. Und als auch noch ein Flugzeug kam und den hellblauen Himmel zerriss, wusste sie gar nicht mehr wohin mit den Augen. Offenbar war sie von diesem ganzen Jahrmarkt doch etwas überfordert.

Es war warm, wärmer als sonst im Winter. Von den Dächern tropfte der schmelzende Schnee, die Leute hatten ihre Ärmel nach hinten gefaltet und statt Mützen trugen sie Sonnenbrillen. Überhaupt traf man hier allerlei Individuen an. An den Tischen um sie herum diskutierte man in Sprachen, die sie nicht verstanden, man gebärdete sich auf eine Art und Weise, die ihnen fremd war, und führte seltsame Kleider spazieren. In manche Jacken oder Hemden waren fünf farbige Ringe eingestickt, die man auch sonst überall sah, auf Fahnen, die schlaff in der Luft hingen, auf den Getränkekarten und den Tischtüchern, ja sogar auf den Kaffeetassen. Das also waren die Olympischen Spiele.

Gion trank ein Bier. Ein Calanda. Auf dem Glas gab es keine Ringe, nur den Steinbock. Zumindest etwas ging hier noch seinen gewohnten Lauf. Maria Ursula trank einen Schwarztee, Angelina kostete endlich die Limonade, schmatzte und setzte das Glas erneut an. Da widerfuhr Gion etwas Eigenartiges. Seine Augen wurden feucht. Nicht aus Trauer oder Schmerz, sondern aus Freude. Das musste man sich vorstellen: Der von Arbeit und Armut abgestumpfte kleine Mann aus Stürvis weinte vor Freude! Überrumpelt wischte er die Tränen weg und nahm die Fotografie in die Hand. Es war eine einzigartige Dokumentation des Glücks. Maria Ursula stand links, er rechts, Angelina in der Mitte. Nichts deutete darauf hin, dass sie nicht schon immer zusammengehört hätten, oder dass es etwas gab, das sie auseinanderreissen könnte. Er studierte sein Abbild genauer. Den gut geschnittenen Schnurrbart, das linke Auge, dessen Lid ein wenig hing, den durchgestreckten Rücken. Er sah älter aus, als er sich fühlte, und selbstbewusster, stolzer. Er sah aus wie jemand, der alles im Griff hatte. Ein Familienoberhaupt. Maria Ursulas Kopf war leicht geneigt, eine Geste zwischen Zutraulichkeit und Vorbehalt, die er nicht durchschaute. Ihr rechter Arm klebte steif am Körper, sie wirkte müde, dachte Gion, kraftlos. Das konnte man von der Tochter nicht behaupten, Angelina hatte die Finger eingerollt, die Hände beinahe zu Fäusten geschlossen, als wäre sie wütend oder gewappnet für die Tragik der Welt, und als Gion ihr Gesicht musterte, erschrak er. Es war starr, dunkel, der Blick stechend, als zweifelte sie am Fortdauern des Zustands, der hier verewigt worden war, als ahnte sie, dass hier nichts anderes stattfand als ein Wimpernschlag des Zusammenseins im Leben dreier Menschen.