Helene Bielmann (1888–1962)

Rom

1930

   

Noch fünf Personen trennten sie von ihm, dem Mann mit dem traurigen Hundeblick, den kleinen runden Brillengläsern, den sanft geschwungenen Lippen, dem Grübchen am Kinn und den zwei Warzen um den Mund, dem Mann, den sie schon so lange zu treffen wünschte, dem Papst. Pius der Elfte. Achille Ambrogio Damiano Ratti.

Helene vergass fast, zu atmen. Ihr Mund war trocken wie nach sieben Jahren Dürre, und die Aufregung schoss ihr sintflutartig von der Brust bis in die Knie. Erstaunt verfolgte sie, wie der Pilger, der nun an der Reihe war, sich so unbefangen mit dem Papst unterhielt wie mit einem alten Freund. Sie fand, dass der Pilger etwas gar wenig Demut aufbot. Er gestikulierte, wechselte das Standbein, ja, sein Hemd war gar nicht gebügelt! Wusste er überhaupt, wen er hier vor sich hatte? Es war der Pontifex Maximus, der Stellvertreter Christi, der Diener der Diener Gottes – und trotzdem, das wurde Helene nun mit Schrecken bewusst, konnte man mit ihm reden. Worüber sollte sie nur reden? Sollte sie ihm erzählen, wo sie herkam, aus einem katholischen Dorf in der Westschweiz, in der Nähe von Freiburg, wo Petrus Canisius ein Kollegium gegründet hatte, den er, Papst Pius, vor ein paar Jahren heiliggesprochen hatte? Das war viel zu kompliziert, schon ihre Gedanken verhaspelten sich dabei, und sprach der Papst überhaupt Deutsch? Daran hatte sie in ihrem Überschwang gar nicht gedacht. Sie hätte ein paar Worte Italienisch lernen müssen, um den Vater zu begrüssen, allein aus Ehrenbezeugung, und sie massregelte sich, hier so unvorbereitet zu erscheinen. Doch in ihren Vorstellungen war der Papst ganz unnahbar gewesen, weniger menschlich, gar kein Wesen aus Fleisch und Blut, sondern ein Heiliger, wie sie an den Mauern der Dorfkirche hingen. Und jetzt war diese Lichtgestalt aus dem Bilderrahmen ausgebrochen, sass wenige Meter vor ihr auf einem Holzstuhl und bewegte sich. Sie spürte, wie ihr eine Schweissperle den Hals hinunterrann und in der Bluse verschwand.

Noch vier Personen. Schon vernahm Helene die warme Stimme des Papstes, die durch die Stille seiner Privatbibliothek drang, in der er die Wallfahrer empfing. Sie hörte genau hin und glaubte, vereinzelte Wörter wiederzuerkennen, die Pfarrer Kilchör manchmal verwendete, wenn er aus dem Messbuch las. War es Latein? Sie sah sich um, sah zu den Bildern, die den Raum rundherum schmückten, den Bücherregalen mit den heiligen Schriften, sie sah auf den Teppich unter ihren Füssen, den Vorhang, der sich im Wind wölbte – und fühlte sich getragen. Welche Rolle spielte schon die Sprache, die der Papst sprach oder in der all die Bücher hier geschrieben waren? Das hier war grösser als die Menschen und ihre Sprachen, es war ein Ort der Einsicht, und keine Sprache der Welt vermittelte diese Einsicht. Man musste sie fühlen. Und Helene Bielmann fühlte sie, denn sie war eine tiefreligiöse Frau, Mitglied der Sakramentbruderschaft, der Skapulierbruderschaft, der Guttodbruderschaft, des Messbunds und der marianischen Jungfrauenkongregation. Freilich, beinahe hätte es in ihrem Leben auch einen Mann gegeben. Doch der Brautbewerber hatte noch vor der Verlobung das Zeitliche mit dem Ewigen vertauscht, und Helene betrachtete dies fortan als Fügung: Gottes Plan sah vor, dass sie unvermählt blieb und mütterlich für ihre Brüder sorgte. Es erfüllte sie, dem Fingerzeig des Allgütigen treuergeben zu folgen – nur manchmal, wenn das Abendgebet verklungen war, wenn sie langsam fortschlummerte und sich die Ideen verselbstständigten, da überfiel sie eine scheue Sehnsucht. Nach einem Arm, der sie durch die Nacht trug. Nach einem Kind, das nach ihr rief. Doch das waren nichts als stille Träumereien, die sie tagsüber von sich fernzuhalten wusste.

Noch drei. Der Papst schenkte jeder Person rund eine Minute seiner Erdenzeit, noch drei Minuten also, noch hundertachtzig Sekunden, und mit jeder Sekunde, die verstrich, wurde die Begegnung wirklicher und zugleich unwirklicher, Tatsache und Traum wurden eins, und das verwirrte sie, machte sie trunken. Zweiundvierzig Jahre alt war Helene nun, und zweiundvierzig Jahre lang war nichts geschehen. Seit ihrer Jugend hatte sie auf etwas gewartet, all die Jahre, ohne es zu bemerken, doch jetzt, wenige Meter vom Papst entfernt, bemerkte sie es. Aber worauf hatte sie gewartet? Darauf? Und danach? Helene wollte gar nicht daran denken und versuchte, sich mit den Eindrücken der vergangenen Tage abzulenken. Ihr ganzes Leben hatte sie auf dem Land verbracht, ihre Andachtsorte waren die Dorfkirche, das Ölberg-Gebetshäuschen oberhalb des Dorfes und die kleine Tächmattkapelle unterhalb des Dorfes, wo eine Statue der Mutter Gottes stand mit dem toten Heiland auf den Knien. Und jetzt war sie hier, im Zentrum des Christentums, im Mittelpunkt der Welt. Rom – was für eine Stadt! Ihr Bruder Robert, ehemaliger Schweizergardist, hatte ständig von der Pracht Roms geschwärmt, doch man musste es mit eigenen Augen gesehen, mit eigenem Herzen gefühlt haben. Das Kolosseum, all die Kirchen und Kunstwerke ... Und wer einmal mit dem Kopf im Nacken unter der Kuppel des Petersdoms gestanden hatte, war danach nicht mehr derselbe.

Die Audienz der jungen Frau ging zu Ende. Die Warteschlange, die vor einer Stunde unerträglich lang und langsam gewesen war, schrumpfte auf zwei Personen. Die Frau ging an den Wartenden vorbei und Helene versuchte, in ihrem Gesicht Spuren der Erleuchtung auszumachen – doch sie sah nichts als eine junge Frau, die auf ihrer Italienreise in den Gemächern des Vatikans herumstreifte. Helene wollte nicht anmassend sein, doch sie vermutete, dass eine Begegnung mit dem Papst nur dann etwas atemberaubend Besonderes sein konnte, wenn man auch die Fähigkeit dazu besass: Wenn man mit der Kirche tiefverbunden war, vom Glauben durchdrungen, ihn lebte und atmete, jeden Tag, jede Nacht, wenn man sich also die Seligkeit, die einem winkte, erarbeitet und verdient hatte. Kurzum, man musste selber auch etwas Besonderes sein. Noch einmal richtete Helene ihr Haar, entspannte sich krampfhaft, tupfte mit dem Taschentuch den Schweiss von den Wangen und fragte sich, ob sie wirklich und immer noch so bildhübsch war, wie es ihr die Jünglinge einst nachgesagt hatten. Und plötzlich wurde ihr klar, welch beschämende Absicht, welch ungeheurer Wunsch sich hinter ihrer Aufregung verbarg. Sie wollte sich nicht bloss von Pius entzücken lassen, sie wollte ihn ebenfalls – entzücken?

Als nur noch ein buckliger Mann zwischen ihr und dem Papst stand, wünschte sich Helene, wieder ganz hinten in der Kolonne festzustecken, und die Kolonne würde bis hinaus auf den Petersplatz reichen, oder bis vor die Tore Roms oder am besten bis hinter die Alpen, und der Papst würde jedem Pilger eine Stunde widmen und sterben, bevor er sie empfangen konnte. Mein lieber Gott, dachte Helene erschüttert, was ging nur in ihrem Kopf vor? Sie war nicht mehr sie selbst. Oder sie war bis jetzt niemals sie selbst gewesen. Noch konnte sie verschwinden, noch blieben ihr ein paar Sekunden. Doch was würde es bringen? Sie war längst entlarvt, sie war gerichtet, sie konnte ihrem Schicksal nicht mehr entfliehen. Es war, als öffnete sich kraft ihrer abscheulichen Gedanken ein Abgrund vor ihr, ein Riss in der Erde, der sie vom Papst und dem Heil abschnitt, und in der Tiefe loderte und brodelte und krachte die Hölle, und sie spürte schon, wie sie fiel, und fiel, und fiel, hinab in die ewige Verdammnis.

Und plötzlich sass er vor ihr.

Sie stand vor ihm. Alles an ihr erstarrte, der Rumpf, die Arme und Beine, der offene Mund.

Doch er lächelte, lächelte sie an, und mit einer gütigen Handbewegung schuf er einen Steg über den Abgrund, er sah sie an, durchleuchtete sie, verzieh ihr alles, und dann trat sie zu ihm, ans Licht. Als er seine Hand auf ihre Schulter legte, erzitterte sie, und dann ergoss sich die ganze Liebe des Papstes über sie, in der sich die Liebe Jesu und die Liebe Gottes bündelte, die reine Liebe überschwemmte sie, und sie wusste, dass man sich an der Liebe nicht berauschen durfte, und doch tat sie es, nur noch einen unendlichen Augenblick, sei gegrüsst, du Begnadete, hörte sie, und sie war nicht sicher, ob sie sich die Worte im Liebestaumel nur einbildete, ob Pius sie sprach oder ob sie direkt aus dem Himmel geflüstert kamen, der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten, denn für Gott ist nichts unmöglich, selig ist die, die geglaubt hat, dass sich erfüllt, was der Herr ihr sagen liess, und noch einmal spürte sie, wie die Liebe ihren ganzen Leib durchströmte, doch nun im Bewusstsein, dass sie die Liebe in die Welt hinaustragen musste, sie teilen und vermehren, nur das war aufrichtige Liebe, und wem konnte sie all ihre Liebe geben, wenn nicht einem Kind, so wie es die Heilige Jungfrau Maria getan hatte?