Obervaz, Graubünden
1931
Schon wieder fuhr ein Automobil durch Obervaz. Seit sechs Jahren nun waren diese teuflischen Maschinen auf den Bündner Strassen nicht mehr verboten. Und seit sechs Jahren wurde das Dorf vom Unglück heimgesucht. Weil man mit einem Automobil eben nicht nur an einen Ort reisen konnte. Man konnte aus dem Ort auch ganz praktisch etwas mitnehmen. Auf der Rückbank hatte es Platz für mindestens zwei Kinder.
Jacob sah dem Automobil zu, wie es sich den Hang herabquälte, es stank und staubte und überstimmte die Gesänge der Amseln. Vor dem Haus von Lehrer Jochberg kam es zum Stillstand. Zürcher Kennzeichen. Wenn ein Automobilist aus Zürich Besuch bei Jochberg machte, dann verhiess das nichts Gutes. Er wartete unter dem Pflaumenbaum und tat so, als suchte er nach einer Pflaume, dabei hatte Engelina gestern Abend Pflaumenkompott gemacht und heute Mittag Pflaumenkuchen.
Ein Mann stieg aus. Es war immer derselbe Mann, ein Doktor wohl, und egal bei welcher Witterung umschloss ihn ein dicker grauer Anzug. Dieses Mal hatte er auch eine Frau dabei. Mit ihrem weissen, von einem dünnen Gürtel gehaltenen Kleid trug sie eine bedeutend sommerlichere Toilette. Jochberg begrüsste die beiden mit einem Händedruck, und nach einem gedämpften Wortwechsel führte er sie zum Friedhof. Warum zum Henker führte er immer alle auf den Friedhof?
Jacob trat aus dem Schatten des Pflaumenbaums, ging den Weg entlang, am Brunnen vorbei in Richtung Jochbergs Haus. Er tat das nicht gern. Am liebsten wollte er weder mit Lehrer Jochberg noch mit den Doktoren aus Zürich etwas zu tun haben. Man musste mit diesen Hochwohlgeborenen immer so furchtbar höflich sein, um ihnen zu bezeugen, dass sie die wichtigeren Menschen waren. Und wenn man es nicht tat, dann drehten sie beleidigt ab – und zeigten einem irgendwann, dass sie eben doch die wichtigeren Menschen waren. Unschlüssig, was er unter diesen Umständen überhaupt hier im Sinn hatte, blieb er vor dem Haus stehen. Er fuhr mit der Hand über das Automobil und zog sie schnell wieder zurück. Es war heiss. Er sah sich um. Eine Katze kam anspaziert, sonst war niemand da. Er nahm einen langen Nagel aus der Hemdtasche, bückte sich und klemmte ihn mit der Spitze nach oben zwischen Reifen und Boden. Das war gut, dachte er. Er schlitzte dem Automobil nicht den Reifen auf. Das wäre ja kriminell gewesen. Es war ihm nur ein Nagel unter das Automobil gefallen. Und dann hatte er ihn dort vergessen. Aber nach kurzer Euphorie musste er einräumen, dass das wohl auch nicht die Lösung des Problems war.
Geht zum Canova, hatten kürzlich die Waser gesagt, der Canova ist der Einzige, der uns hilft, ein fähiger und furchtloser Mann, der sogar die Stirn besitzt, Gott einen Schuft und Halunken zu nennen, der Canova nimmt es mit allen auf! Doch Engelina hatte nur verschämt die Hände verworfen. Nachdem sie ihre Kraft zeitlebens aus dem Glauben geschöpft hatte, konnte sie nicht plötzlich mit einem solchen Ketzer paktieren. Unbeirrt wisperte sie täglich ihre Gebete in den Himmel und zählte weiter auf denjenigen, der allein die Geschicke lenkte und das Gute ausarbeitete: Gott. Jacob hingegen fand die nun schon zwei Jahre andauernde Wartezeit auf Gottes Eingreifen eine Zumutung. Gott hatte versagt. Man musste sich nach einem anderen Hoffnungsträger umsehen, und wenn man sich schon von Gott abwandte, tat man bestimmt gut daran, sich gleich den Beistand seines Gegenspielers zu sichern: Gaudenz Canova, Bündner Nationalrat und Rechtsanwalt in Chur.
Er überlegte sich, den Nagel wieder mitzunehmen. Aber das konnte auch schiefgehen. Auf einmal erwischte man ihn noch dabei, wie er die erfolgreich angebrachte Falle wieder entfernte, und dann hätte er nichts ausser den Ärger.
Da sah er durch das Fenster die Mappe. Auf der Rückbank des Automobils lag sie, eine dunkle Mappe, so unachtsam hingeschmissen, dass einige Blätter aus dem Lederumschlag herausgerutscht waren.
Nach kurzer Suche fand Jacob den Türgriff. Beinahe lautlos ging die Tür auf. Er schwitzte. Zum Friedhof hin war alles ruhig. Aus der Mappe zog er ein maschinengeschriebenes Dokument.
Er las: «Die Ursache der Versetzung war die Erkenntnis, dass das Mädchen sehr erblich belastet keine grossen Aussichten auf Erfolg bietet ... Dort kann sie Jahre lang bleiben und hat ebenfalls Gelegenheit sich im Waschen, Bügeln und in der Schneiderei auszubilden ... Der Ort bietet uns auch vermehrte Sicherheit, dass sie nicht mit ihrer Mutter in Berührung kommt ... Mit vorzüglicher Hochachtung.»
Sein Atem beschleunigte sich. Das nächste Dokument war eine kleine Karte. «Erziehungsbericht für das Kind» stand da, und auf der anschliessenden Linie mit Tinte: «Olga Waser». Darunter, im gleichen Zusammenspiel von Maschine und Mensch: «Führung: lässt zu wünschen übrig. Fleiss: mangelhaft. Leistungen: ungenügend. Eignung zu einem Beruf: nein. Verkehr mit der Familie: nein. Entlassungsfähigkeit: nein.»
Jetzt hatte er vergessen, zu atmen.
Vom Friedhof nichts Neues.
Ein von Hand verfasster Brief: «Sehr geehrter Herr Siegfried ... Ob C. für die Adoption des Kindes der richtige Mann ist, wage ich sehr in Zweifel zu ziehen. Er ist ein sonderl. Kauz, selbst unehel. Kind, lebt in äusserster Armut mit der Frau, die von sehr beschränkter Intelligenz u. schlechtem Charakter ist. Solche Adoptiveltern würden ihnen anvertraute Kinder meines Erachtens nur verderben. Wenn dies Ihnen dienlich sein kann, soll’s mich freuen. Hochachtungsvoll, Jochberg.»
Jacob hielt sich am Türrahmen des Automobils fest. Schwarze Punkte flogen vor seinen Augen durch.
Er musste einatmen.
Und wieder ausatmen.
Ruhig atmen.
Weiteratmen.
Seine Hand griff nach dem nächsten Blatt. «Bericht über das Kind Angelina Eugster. Sittliche Haltung, Religiöse Haltung, ...» Dann verloren die Buchstaben ihre Ordnung und verteilten sich auf dem ganzen Blatt.
Festhalten. Einatmen. Ausatmen. Langsamer.
Allmählich kehrten die Buchstaben an ihren Platz zurück. Aber sie sagten ihm nichts. Ihre Bedeutung blieb auf dem Blatt. «Frau Candreia hat nach der Wegnahme alles getan, um eine bessere Erziehung zu stören ... Ihre vollständige Ausschaltung scheint uns Grundbedingung dafür zu sein, dass das Kind überhaupt noch gerettet werden kann ... Es würde sich langsam für eine Familie eignen.»
«Jacob!», hörte er. Und hörte es doch nicht. «Jacob, das ist Eigentumsverletzung!», hörte er. Es klang nach Jochberg. Also war es wohl auch Jochberg. Er warf das Blatt ins Automobil und drehte sich um.
Vor ihm standen Jochberg und seine beiden Besucher. Sie sahen ihn finster an.
«Wo ist Angelina?», schnaubte Jacob. «Wo habt ihr sie hingebracht?»
Er erhielt keine Antwort. Es war, als hätte er nichts gesagt.
«Jochberg! Du elender Hund! Du weisst genau, wovon ich rede!»
«Ich lasse mir unser schönes Land nicht beflecken, Jacob.»
«Beflecken? Von einem kleinen Mädchen?»
«Irgendwann wirst du es begreifen, Jacob. Wir müssen Sorge zu unserer Heimat tragen.»
«Unserer Heimat?», schrie Jacob. «Und was ist mit unserem Kind? Unserem Kind!»
Die Frau senkte ihren Blick.
«Angelina geht es gut», sagte nun der Doktor.
Jacob hätte weiterschreien können, noch wütender und noch lauter, aber zu seiner eigenen Überraschung verstummte er. Es ging ihr gut. Der Doktor wusste es. Er wusste alles. Weil er der Kopf dieses Verbrechens war.
Was also sollte er tun? Den Nagel aufheben und direkt in den Reifen stossen? Oder dem Doktor ins Herz? Oder Jochberg in die Schläfe?
Er liess den Nagel da, wo er war, und ging nach Hause.
Ihre Enkelin Angelina war für Jacob und Engelina Eugster wie eine Tochter. Mehr noch vielleicht, sie war ein unerwartetes Geschenk gewesen, das man im Alter noch mehr zu schätzen wusste, als wenn man jung war und die eigenen Kinder wie von selbst kamen. Seit zwei Jahren hatten sie Angelina nicht mehr gesehen. Alles, was ihnen blieb, waren Erinnerung und Erwartung, aber das waren Gebilde, die nur im Kopf bestanden, und der Kopf wurde mit der Zeit immer verworrener.
Man hatte sich aber auch dumm angestellt. Lange war alles wunderbar gelaufen – bis Gion das Kind unbedingt adoptieren wollte und die Behörden wieder ins Spiel brachte. Das Kind bei den Grosseltern, wird man sich gefragt haben, ist das wirklich in Ordnung? Und jetzt soll es zu diesem Tagelöhner kommen? Die Pro Juventute meldete sich, eine Stiftung, die sich für das Kindeswohl einsetzte. Man wollte nur schauen, ob es Angelina gutging. Und das konnte man nur in Olten tun. Danach war man so gütig, sie eine Weile in Grenchen zu pflegen. Und dann verliert sich ihre Spur. Die Leiterin der Grenchner St. Josefsanstalt wollte nichts Genaues wissen. Der neue Vormund wollte nur das Beste. Angelina sei weitergebracht worden an einen Ort, an dem man gut für sie sorge. Oder mit anderen Worten: Man hatte sie reingelegt.
Von den verstörenden Ereignissen bei Jochberg erzählte er Engelina nichts. Zuerst musste er sie selber verstehen. Er nahm ein paar der Dauben, die er aus dem Lärchenholz des nahen Waldes gesägt und zur Trocknung aufgereiht hatte. Sehr erblich belastet. Keine grossen Aussichten auf Erfolg. Er schnitt die Dauben auf das Fassmass zu. Jahre lang bleiben. Keine Entlassungsfähigkeit. Er hobelte die Dauben. Ihre vollständige Ausschaltung. Eignet sich für eine Familie. Er ordnete die Dauben innerhalb eines Eisenrings.
Seit bald fünfzig Jahren war Jacob Eugster Fassbinder. Mit all den Fässern, die er gebaut hatte, konnte man die ganze Welt mit Wein versorgen, sagte er manchmal, wenn er den weltweiten Weinbestand gerade selber ein wenig verringert hatte. In guten Zeiten waren ihm zwei Fässer an einem Tag gelungen, inzwischen brauchte er zwei Tage für ein Fass. Er spürte, wie seine Kräfte schwanden, und das lag nicht nur an seinem Alter. Es lag daran, Angelina in fremden Händen zu wissen. An der Ungewissheit, ob sie wieder einmal zurückkehren würde, am verzehrenden Kampf gegen einen übermächtigen Gegner.
Sie waren mit ihrem Leid nicht allein. Immer mehr Kinder aus Obervaz verschwanden. Wurden abgeholt und nicht mehr zurückgebracht. Viele dieser Kinder kamen aus Engelinas Verwandtschaft, aus Moser-Familien. Es schien fast, als ginge man nicht gegen einzelne Menschen vor, sondern gegen eine Gemeinschaft. Andere Familien waren auch arm, trugen schlechte Kleider und hatten nicht viel. Aber sie hiessen anders. Deshalb nahm man ihre Kinder nicht mit.
Ein Motor dröhnte auf. Jacob legte die Dauben ins Gras und eilte zum Weg. Staubwolken wirbelten über die Wiesen, das Automobil schlingerte davon und liess das Dorf wieder in Frieden. Er meinte zu erkennen, dass sich keine zusätzlichen Passagiere in der Kabine befanden. Und dass der rechte Reifen so unversehrt war wie der linke. Vielleicht war der Nagel umgestürzt. Aber Jacob bewahrte sich die Vorstellung, dass der Nagel tief im Reifen steckte und die Luft langsam entwich, bis der Doktor anhalten musste und sich mit seiner Begleiterin hilflos in der Bündner Wildnis wiederfand. Das wäre schön gewesen. Ein kleiner Triumph im Kampf gegen den grossen Staat. Und hatte er Jochberg wirklich einen Hund genannt? Möglich. Das konnte verheerend sein. Und doch fühlte es sich richtig an.
Er sah zum Friedhof, der nun wieder verlassen dalag. Manchmal ertappte er sich dabei, wie er beim Anblick des Friedhofs an Angelina dachte, sogar ein kleines Kreuz in der Erde mit ihrem Namen darauf hatte er sich schon ausgemalt, und wenn Maria Ursula und Gion vorbeikamen und sie in Trauer versunken um das Feuer sassen, glaubte man sich an einer Gedenkfeier. Aber sie lebte! Man durfte sie nicht aufgeben, denn irgendwo hielt sie sich auf und dachte vielleicht auch gerade an sie, an ihre Familie, an ihr Zuhause, und wünschte sich ebenso, dass bald wieder alle vereint wären. Deshalb musste man weiterkämpfen.
Am nächsten Tag befeuchtete er die Dauben mit einem nassen Tuch und bog sie über dem Feuer. Ein Bild verfolgte ihn, das er gar nie gesehen hatte. Angelina, die zum letzten Mal Bündner Boden unter den Füssen hat. Die einsteigt in das Teufelsgefährt. Die aus dem Fenster schaut, während das Gefährt langsam anrollt. Staunen, Angst, Entsetzen. Aber sie schreit nicht. Sagt nichts. Weiss nichts. Sie ist ein kleines Mädchen. Ganz lautlos wird sie entführt, von unbekannten Menschen an einen unbekannten Ort.
Während er die Eisenringe anschlug, überlegte er, wie Angelina jetzt wohl aussah. Er erinnerte sich an das kleine Mädchen, sieben Jahre alt, aber jetzt war sie schon neun. Sie wurde jeden Tag älter und grösser und reifer, aber für Jacob veränderte sie sich nicht. Erinnerung ging nie mit der Zeit. Erinnerte man sich, hatte man etwas verloren.
Später, bei einer wohlverdienten Pfeife, musterte er die Glocke über der Sitzbank. Ein Drache zierte die Glocke, darunter stand der Spruch geschrieben: «Im Feuer bist du geflossen, von Meister Moser gegossen.» Obwohl ihm nicht danach stand, entwischte Jacob ein Lächeln. Der alte Moser war vielleicht ein Spinner gewesen, doch auf jeden Fall ein Original. Ein Künstler. Er hatte die Idee gehabt, die Kuhglocken nicht wie üblich vom Unterrand her zu giessen, sondern das Eingussloch oben, neben dem Riemensteg anzubringen. So, wie man es bei den grossen Kirchenglocken machte. Ein Aussenseiter war er gewesen, der sich nicht anpasste, und Jacob fragte sich, ob das Verschwinden all der Kinder etwas mit der Familiengeschichte zu tun hatte.
Unter der Glocke sass Engelina und strickte einen Überzieher. Jacob sah, dass es ein kleiner Überzieher werden würde, einer in Angelinas Grösse. Vielleicht dachte Engelina, wenn sie erst einen Überzieher für Angelina gestrickt hatte, dann musste sie auch zurückkommen. Nachdenklich machte er sich daran, das Fass zu prüfen, das er nach zweitägiger Arbeit fertiggestellt hatte. Er ging zum Brunnen und füllte einen Kessel mit Wasser, um es in das Fass zu giessen. Er holte einen zweiten Kessel, leerte auch diesen in das Fass, und schon sah er, dass das Wasser zwischen zwei Dauben hervordrang. Er sah wieder zu Engelina, die unbeirrt auf Angelinas Rückkehr hinstrickte, sah zur Glocke, die stumm am Balken ging, und dachte wieder an den Namen Canova. An den Anwalt aus Chur, der es mit Gott aufnahm. Geht zum Canova. Unter dem Eisenring bildete sich bereits ein Rinnsal, das Fass war unbrauchbar. Gott ist ein Schuft. Jacob stapfte zur Glocke, schlug den Klöppel kräftig gegen den Rand, und während Engelina erschrocken von ihrem Strickzeug aufsah, flog ein blasphemischer Klang wie eine Kampfansage weit über das Land.