Peter Kilchör (1883–1936)

Rechthalten, Freiburg

1931

   

Im Umschlag mit dem Signet der Pro Juventute steckte überraschenderweise nicht ein Massenschreiben, wie es die wohltätigen Institutionen regelmässig zu verschicken pflegten, sondern ein vertraulicher Brief, in dem Dr. Alfred Siegfried den Dorfpfarrer von Rechthalten um Kollaboration bat. Peter Kilchör sass in der Küche des Pfarrhauses und genehmigte sich nach der Frühmesse einen Teller Wurst und Käse, eine Gewohnheit, die, wenn auch keine Sünde, dann doch ein Laster war. Neben dem Teller lag der Brief, den Siegfried tags zuvor am Seilergraben in Zürich verfasst und ins Freiburgerland geschickt hatte. Kilchör las ihn mehrmals, obwohl er gleich wusste, worum es ging, hatte er doch kürzlich eine Reportage über Dr. Siegfrieds Projekt gelesen, das sich der christlichen Aufgabe widmete, armen Kindern eine Zukunft zu schenken. Doch er brauchte Zeit, um hinter die Zeilen zu blicken und sie zu begreifen. Während er las und grübelte und las, tasteten seine Finger nach einem weiteren Würfel Käse, fanden keinen, auch kein Stück Wurst, und Kilchör stellte fest, dass er noch bis in alle Ewigkeit hätte suchen können: Der Teller war leer.

Es musste etwas mit Rom zu tun haben. Die Reise hatte sie verändert, das war ihm gleich aufgefallen. Gefestigt und von den Stürmen des Lebens erprobt hatte sie das Dorf verlassen, um kaum eine Woche später als nachdenkliche, zerstreute, ja träumerische Frau aus der Ewigen Stadt zurückzukehren. Es war, als hätte sie in der Ferne eine bis dahin unerfüllte Sehnsucht entdeckt, und Pfarrer Kilchör hatte bereits befürchtet, dass sie doch noch – spät, aber umso heftiger – einem Mann verfallen war. Das traf offenbar nicht zu, wie er aus Dr. Siegfrieds Brief folgerte, durchaus erleichtert, denn er mochte die regelmässigen Besuche von Helene, die ein Mann an ihrer Seite womöglich gefährdet hätte. Er würde sie also nicht an die irdische Welt verlieren, er würde ihr Vertrauter bleiben, jedenfalls wähnte er sich seit Jahren in dieser Rolle, und gerade deshalb schmerzte es ihn, dass sie ihn für einmal nicht um Rat gebeten hatte. Dass sie sich ihm in den wesentlichen Dingen nicht öffnete. Hatte ihr Wunsch sie verlegen gemacht? Nun, unergründlicher noch als die Wege des Herrn waren manchmal jene der Menschen, und doch konnte Kilchör den Verdacht nicht verdrängen, dass in Rom etwas geschehen war, worüber es sich nicht zu sprechen ziemte.

Wie auch immer, ein wenig mehr wusste er jetzt, Siegfried ersuchte ihn um seine Dienste als Informant, zudem erinnerte das Schreiben ihn an eine längst fällige Pflicht: Heute musste er in der Schule endlich die Briefmarkenaktion lancieren.

Er stand auf, ihm schwindelte, er setzte sich wieder. Auch er hatte sich verändert. Vor zwei Jahren war er dem Tod entronnen, und er wusste immer noch nicht, wie er dieses Ereignis zu deuten hatte, welcher Sinn dahintersteckte. Und gerade so, als bekäme er ständig von Neuem die Gelegenheit, sein Schicksal zu ergründen, erlebte er den Unfall immer wieder, in der Nacht, und immer öfter auch am Tag. Dann fuhr er im Automobil durch den Nebel, ziellos und unentwegt und fand nicht mehr hinaus ans Licht, ein Nebel so schwer, dass er die Welt verschlang und die Fahrt zu einer Reise ins Nichts machte. War dieses Nichts vielleicht jene unzeitige Wirklichkeit, die er sich unter dem Jenseits vorstellte? Der irdische Tod, die Verwandlung der Seele in einen himmlischen Körper, die bevorstehende Scheidung in Himmel und Hölle – hatte er damals bereits den Weg in das Himmelreich angetreten? Doch statt Gottes Gericht, Vergebung und Gnade war aus den Tiefen des Nebels plötzlich ein Lastwagen aufgetaucht. Über die Kollision wusste Pfarrer Kilchör nichts. Aber stattgefunden hatte sie. Davon gab die inzwischen vernarbte, fünfzehn Zentimeter lange Schnittwunde an seiner Stirn ein eindrückliches Zeugnis ab.

Der Glockenschlag der Kirche mahnte ihn zur Eile. Er unternahm einen zweiten Anlauf, aufzustehen, dieses Mal klappte es ohne Schwindel und Nebel, dann suchte er das Arbeitszimmer auf und stöberte auf dem Sekretär herum, bis er die Unterlagen fand, die ihm die Pro Juventute schon vor drei Wochen zugeschickt hatte.

Peter Kilchör verliess das Pfarrhaus und trat hinaus in das Dorf, über das er seit nunmehr achtzehn Jahren mit väterlicher Hand wachte. Er liess die Kirche hinter sich, deren spitzer Turm in den Himmel stach, erfreute sich kurz an den Primeln, die der Friedhofmauer entlang wuchsen, schritt Richtung Schulhaus und spähte hoch zum Gasthof, wo man anstelle der Frühmesse schamlos den Vormittagstrunk zelebrierte – vor allem aber spähte er zum Hof, der dahinter lag, und obwohl er spät dran war, blieb er unvermittelt stehen.

Da war sie.

In der Frühlingssonne hängte sie Wäsche auf, tüchtig wie immer, mit runden und fliessenden Bewegungen – anmutig auch bei der Arbeit, fuhr es Kilchör durch den Kopf. Eine sanfte Brise flog ihr durchs Haar, liess ihren Rock sachte flattern und blähte die Blusen, die an der Leine hingen, ein Tuch fiel ins Gras. Ach, Helene ... Es gab Nächte, da kreisten seine Gedanken allein um die Frage, ob sie ihm bloss seines Amtes wegen zugeneigt war oder ob sie ihn auch als Mensch ästimierte. Tags darauf ärgerte er sich dann über seine nächtliche Eitelkeit und flüchtete ins Gebet. Es waren ohnehin müssige Gedanken, die nichts als Verwirrung in seiner Seele stifteten, und nun musste ausgerechnet er über Helenes Familienglück bestimmen. Doch ihm wurde klar, dass er die Antwort, die er Siegfried gleich nach dem Katechismusunterricht erteilen wollte, längst kannte: Er würde ihrem Wunsch seinen Segen geben. Er würde dafür sorgen, dass Helene ein Kind bekam. Und während er das dachte, schoss ihm eine Wärme durch die Brust, gleichzeitig empfand er ein erhebendes Gefühl der Macht, mit dem er sich von Helene losriss und weiterzog.

Das Gefühl verstärkte sich noch, als er das Klassenzimmer betrat und dort, nachdem eben noch ordentlich Radau geherrscht hatte, umgehend Ruhe einkehrte.

«Guten Morgen!», sagte er mit seiner satten, von tausend Gottesdiensten gestählten Stimme.

«Guten Morgen, Herr Pfarrer!», erklang es aus vierzig Knabenkehlen.

Er legte seine Ledermappe auf das Pult, öffnete das Fenster und nahm aus dem Behälter, der unterhalb der Wandtafel angebracht war, die längste Kreide. Er wusste, dass die versammelte Klasse jeder seiner Handlungen gebannt folgte, eine Aufmerksamkeit, die einherging mit der Ehrfurcht, die man ihm erwies. Er hob den Arm und schrieb mit so kräftigen Schwüngen, dass Kreidestaub von den Buchstaben hinunterrieselte, an die Tafel:

Pro Juventute

«Wer kann mir sagen, was das bedeutetet?», fragte er.

Niemand konnte. Die Leere in den Köpfen der Einfältigen widerspiegelte sich in ihren ausdruckslosen Gesichtern, während die Gescheiten so taten, als suchten sie angestrengt nach der Antwort, die sich nur gerade in einem Winkel ihres Gedächtnisses verbarg, immerhin zeigten sie sich darüber enttäuscht, dass sie ihn enttäuschten.

«Das ist Latein und heisst: Für die Jugend. Und die Pro Juventute ist eine Stiftung, die sich für die Schweizerische Jugend einsetzt. Für die armen Kinder und Jugendlichen im ganzen Land», sagte Kilchör, da sich keine Antwort aus dem Klassenverband abzeichnete. Die Gescheiten nickten. Kilchör schrieb weiter an die Tafel:

Ulrich Wille

Ob seines ungestümen Schreibstils brach die Kreide entzwei, ein Stück fiel zu Boden. Kilchör bückte sich, hob es auf, und für einen Augenblick kehrte der Schwindel zurück, der Nebel, der sich aber zum Glück gleich wieder verzog. «Sagt euch dieser Name etwas?», fragte Kilchör keuchend.

Drei Hände schossen in die Höhe, zögerlich gefolgt von einer vierten.

Kilchör rief zunächst einen Schüler auf, dessen Hand unten geblieben war.

Der Schüler wusste die Antwort, wenig erstaunlich, nicht.

«Hast du in Geschichte nicht aufgepasst?», fragte Kilchör.

Auch darauf wusste der Schüler keine Antwort.

Kilchör entschied sich für die vierte Hand, zumal zögerliches Melden gelegentlich abenteuerliche Antworten zutage förderte.

«Das war der Schweizer General im Weltkrieg», sagte der Knabe in derselben altklugen Manier wie sein Vater.

Kilchör lächelte zufrieden. Das war sehr gut. Es gehörte zu den pädagogischen Raffinessen des Pfarrers, seine Zöglinge zunächst in die Irre zu schicken, um sie dann – seine kleine List still auskostend – wieder auf den richtigen Pfad zu führen. «Das ist richtig», sagte er, «und trotzdem falsch.»

Der Stolz im Gesicht des Knaben erlosch.

«Der Mann, den ich suche, ist nämlich nicht der General, sondern sein Sohn. Der Junior. Ulrich Wille junior ist der Präsident der Pro Juventute.» Kilchör schrieb neben den Namen Ulrich Wille den Zusatz junior, den er zur Sicherheit noch unterstrich. Und darunter ergänzte er, wobei er nun etwas Druck aus dem Arm nahm:

Kinder der Landstrasse

«Ich will euch jetzt ein Projekt der Pro Juventute vorstellen, das mir persönlich sehr am Herzen liegt. Heutzutage gibt es in der Schweiz so viele Arme, wie der Kanton Freiburg Einwohner hat. Und es ist die Armut, die viele Leute in den Abgrund treibt. Denn die Armen sind nicht nur arm an Besitz, nein, auch innerlich verkümmern sie und gehen zugrunde. Die Trunksucht wird bei ihnen heimisch. Die Verwahrlosung! Die Unsittlichkeit! Die Gottlosigkeit! Sie gehen keiner richtigen Arbeit nach. So durchstreifen sie das Land, die Kinder mit ihnen, sie ziehen von Haus zu Haus, von Tür zu Tür, um Sachen zu verkaufen. Das, meine Knaben, nennt man hausieren. Und natürlich kümmern sie sich nicht um ein Hausierpatent, das sie dafür benötigten. Sie sind Asoziale. Sie sind Vaganten!»

Das letzte Wort hallte wie eine Verfluchung durch die Schülerreihen. Pfarrer Kilchör hatte sich, das war gar nicht so geplant gewesen, etwas in Rage geredet. Er atmete durch, nahm ein Taschentuch hervor, wischte sich die Stirn ab, ohne an die Narbe zu denken – ein Schmerz durchblitzte ihn. Er setzte sich ans Lehrerpult, während sich seine Rede im ganzen Schulzimmer weiter entfaltete. Die Knaben schienen gewaltig eingeschüchtert.

«Nun liegt es ja in der Güte unserer Kirche, dass sie die Unglücklichen nicht einfach ihrem Unglück überlässt.» Pfarrer Kilchör versuchte, seine Stimme wieder gnädiger klingen zu lassen. «Wir Christen greifen den Gefallenen unter die Arme, denn Gottes Liebe ist unerschöpflich. Wir alle können mithelfen, diesen armen Vagantenkindern ein besseres Leben zu ermöglichen. Wir alle können die Pro Juventute unterstützen. Und das tun wir, indem wir Briefmarken verkaufen.»

Die Knaben sahen ihn fragend an. Kilchör machte eine Kunstpause, um die Spannung zu erhöhen.

«Ja, Briefmarken verkaufen», fuhr er fort und nahm die Unterlagen aus seiner Mappe. «Jeder von euch erhält einen Bogen Briefmarken. Dann zieht ihr von Haus zu Haus, von Tür zu Tür, um die Marken den Leuten zu verkaufen.»

Stille.

Betretene Gesichter.

Und als er realisierte, was an seinen Worten nicht stimmte, schoss ihm das Blut heiss in den Kopf, und wieder fand er sich inmitten eines unheilvollen Nebels.