Robert Bielmann (1879–1946)

Rechthalten, Freiburg

1932

   

Wo war Helene bloss? Den ganzen Morgen lang hatten sie alles für den grossen Empfang vorbereitet. Robert hatte mit der Sense säuberlich das Gras im Garten geschnitten, er hatte den kaputten Zaun geflickt, der das Gut umhegte, sogar den Stall hatte er so gründlich wie schon lange nicht mehr geputzt, nur für den unplanmässigen Fall, dass man sich die Pferde ansehen würde. Währenddessen hatte Helene den Fussboden in der Stube gebürstet, sämtliche Teppiche ausgeklopft, die Rosen auf dem Balkon gepflegt, und als der ganze Hof so einladend wie eine Kirche erstrahlte, hatte sich Robert seine Gardeuniform angezogen und Helene ihren Sonntagsrock, dabei war heute für den Rest des Dorfes ein ganz normaler Donnerstag angebrochen. Auch seine vier Brüder arbeiteten wie üblich auf dem Feld und überliessen die repräsentativen Aufgaben ihm und seiner Schwester. Doch jetzt war Helene unauffindbar, so oft Robert auch nach ihr rief. Er setzte sich seufzend an den Küchentisch, kratzte sich am Bart und fühlte sich plötzlich einsam. Gemäss Korrespondenz mit Dr. Siegfried konnte das Taxi jeden Moment eintreffen.

Schon nur das Taxi würde im Dorf für Aufsehen sorgen. Und wenn die Leute dann noch erfuhren, dass das Taxi ein Kind auf ihren Hof brachte, ein Mädchen aus dem Bündnerland, dann würde das Gerede erst recht losgehen. Robert Bielmann wusste, dass man hinter vorgehaltener Hand schon jetzt über ihn und seine Geschwister redete. Sechs Geschwister in einem Haus. Eine Frau und fünf Männer. Alle waren sie ledig geblieben – warum? Das war doch nicht normal. Und dann diese Reisen, die Robert mit seiner Schwester Helene unternahm, nach Einsiedeln und sogar nach Rom, als wären sie ein Ehepaar, das war schon seltsam. So redeten die Leute. Robert wollte es ihnen auch gar nicht verübeln. Als Jüngling hätte er auch nicht gedacht, dass sein Leben so verlaufen würde. Aber Gottes Pläne hatten sich eben von den seinen unterschieden, und dagegen konnte man nichts machen.

Die Kirchturmglocke schlug drei Uhr, dumpf und verhalten wie immer, als müsste das, was sie verkündete, ein Geheimnis bleiben. Er vermisste den feierlichen Glockenklang, der ihm noch aus Rom nachhallte, und es gehörte zu Roberts Wunschträumen, irgendwann ein wenig römische Grandezza nach Rechthalten zu bringen und der Pfarrei eine wohlklingende Glocke zu besorgen.

Er wollte sich eben erneut nach seiner Schwester umsehen, als sie plötzlich durch die Küchentür geeilt kam.

«Wo warst du?», fragte Robert erstaunt.

Helene mied seinen Blick. «Beim Pfarrer.»

«Sie könnten schon da sein!»

«Ich war nervös.»

«Und ich wurde es!»

«Ich zittere.»

Sie zitterte tatsächlich. Robert trat zu ihr, nahm sie in die Arme, um sie zu beruhigen, und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. «Alles wird gut», sagte er mit seiner tiefen Bassstimme, «alles wird gut.» Und auch er fühlte sich gleich wieder besser.

Da hörten sie, erst leise, dann immer lauter, das Röhren eines Motors. Sie lösten sich voneinander, Robert sah Helene noch einmal voller Gottesglauben an, dann begaben sie sich aufgeregt nach draussen.

Ein schwarzes Taxi mit weinroter Motorhaube ratterte die Strasse hoch, bog ab, rollte langsam über den Vorplatz und blieb stehen. Die Beifahrertür ging auf. Aus dem Automobil stieg ein Mann mit Brille, Hut und einem dicken grauen Anzug, zweifellos ein Städter. Er machte zwei Schritte rückwärts, öffnete die Fondtür und hielt auffordernd seine Hand hin, doch niemand ergriff sie. Er beugte sich in den Innenraum des Taxis, sagte etwas, so leise, dass Robert es nicht verstand, und einige bange Sekunden lang wartete man atemlos auf die nächsten Ereignisse, doch nichts geschah. Schliesslich öffnete sich die gegenüberliegende Fondtür, und zögernd, ganz ohne Eile trat ein Mädchen ins Freie, ein Mädchen mit zu grossen Schuhen und Haar, das ihm in die Augen fiel.

«Einen schönen guten Tag», sagte Dr. Siegfried, während er auf den Hof zuschritt, freundlich lächelnd, doch sichtlich verstimmt über den Ungehorsam seines Zöglings.

«Guten Tag, Herr Dr. Siegfried», sagte Robert.

«Guten Tag, Herr Dr. Siegfried», sagte Helene.

Sie gingen Siegfried entgegen und reichten ihm die Hand.

«Das ist Angelina», sagte Siegfried und drehte sich zum Mädchen um, das unentschlossen hinter ihm stand.

«Grüss dich, Angelina!», sagte Helene mit bemühter Herzlichkeit.

«Grüss dich!», sagte Robert. Es fiel ihm schwer, die richtigen Worte für ein fremdes Mädchen zu finden, das von nun an seine Tochter sein sollte. Er wusste, dass er eine recht imposante Erscheinung abgab mit seiner Postur, seinem Bart und, nicht zu vergessen, seiner Uniform. «Komm nur, Angelina, willkommen!», fügte er möglichst sanftmütig hinzu.

Angelina blieb stumm.

«Sagst du auch guten Tag?», sagte Siegfried zu Angelina.

«Guten Tag», murmelte Angelina in einem Dialekt, den Robert noch nie gehört hatte.

Helene lud die Ankömmlinge zum Tisch unter dem Apfelbaum, wo sie ihnen Tee, Zopf, Brezeln und frische Früchte anbot. Angelina machte sich gleich über die Brezeln her, wofür Siegfried sie tadelte. Helene winkte ab und sagte, sie habe bestimmt Hunger nach der langen Reise. Eine schüchterne Zufriedenheit deutete sich in Angelinas Gesicht an, verschwand aber gleich wieder. Schweigend und in sich versunken sass sie da, ass und trank, und wenn man sie dazu aufforderte, gab sie nur einförmige Antworten.

Etwas mehr Herzlichkeit hatte sich Robert von dem Mädchen eigentlich schon erhofft, immerhin errettete man es aus misslichen Verhältnissen und wollte ihm ein geordnetes Leben besorgen. Doch dass die Angelegenheit komplizierter werden würde, war ihm schon klar geworden, als Angelina Siegfrieds Hand verweigert hatte. Sie schien dickköpfig zu sein. Robert hatte sich unter einem Mädchen von elf Jahren nicht unbedingt einen Dickkopf vorgestellt, aber er musste einräumen, dass er von Mädchen und ganz allgemein von Kindern nicht viel Ahnung hatte. Eins aber wusste er: Dieses Mädchen, das gerade fern von seiner Heimat Brezeln ass und Tee trank, neben einem Vormund, der ihm fern war, gegenüber einer Frau und einem Mann, die ihm fern waren und plötzlich seine Eltern sein sollten, dieses Mädchen musste sich völlig verlassen vorkommen. Und es gehörte nun zu seinen Aufgaben, ihm einen Platz auf dieser Welt zu verschaffen.

Nachdem sich alle reichlich an Helenes Gaben verköstigt hatten, bat Siegfried Robert um ein Gespräch unter vier Augen. Robert schlug vor, gemeinsam ein Stück zu gehen, und so spazierte er mit Siegfried zum Fofenhubel, einem nur wenige Minuten vom Hof entfernten Aussichtspunkt. Auf dem Weg unterhielten sie sich etwas befangen über Roberts Uniform und seine Jahre bei der Schweizergarde, und Robert musste aufpassen, bei seinen Schilderungen von Rom nicht zu sehr ins Schwärmen zu geraten.

«Diese Weite!», staunte Siegfried, als sie oben ankamen, und war, ganz der Städter, ziemlich ausser Atem.

«Der Jura», sagte Robert, auch er keuchend, was bei ihm weniger mit einem Alltag ohne körperliche Anstrengung zu tun hatte als mit seiner Korpulenz. Erfreut über Siegfrieds Staunen zeigte er mit dem linken Arm nach Westen. «Dort, hinter diesem Hügel, dort liegt Genf», sagte er, bevor er seinen rechten Arm Richtung Norden hob und fortfuhr: «Und da, wo es etwas dunstig ist, liegt Biel.»

«Wir sehen hier also praktisch die ganze Westschweiz», sagte Siegfried.

«Fast wie auf einer Landkarte», sagte Robert.

Sie lachten, und zum ersten Mal hatte Robert das Gefühl, dass dieser Dr. Alfred Siegfried, den er zuvor nur aus den Prospekten gekannt hatte, gar nicht so zugeknöpft war.

«Dann muss ungefähr dort Court liegen», sagte Siegfried, und nun war er es, der mit der Fingerspitze in die Ferne deutete.

«Court?»

«Dort habe ich die Mundart der Leute untersucht. Der Arbeit verdanke ich meinen Doktortitel.»

«Mundart? Sind Sie nicht Arzt?»

«Ich war Lehrer. Aber jetzt widme ich mich voll und ganz meinem Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse.»

Siegfried wandte sich vom Welschland ab, blickte in die übrigen Himmelsrichtungen, sah aufmerksam über die umliegenden Wiesen, Wälder, Dörfer bis hin zu den Freiburger Voralpen, die den scharfen Horizont im Süden bildeten.

«Es trifft sich gut, dass Sie mich hierhergeführt haben, an diesen Ort, wo man die hübsche Lage Ihres Dorfs gut nachvollziehen kann», sagte Siegfried, nachdem er sich einmal um seine eigene Achse gedreht hatte. «Ich muss Ihnen nämlich gestehen, dass ich das Mädchen aus geografischen Gründen zu Ihnen gebracht habe.»

Das verstand Robert nicht.

«Ich will ehrlich mit Ihnen sein, Herr Bielmann. Wir hatten mehrere Familien, die sich für ein Mädchen interessierten. Eine in der Innerschweiz, eine andere im Thurgau und noch eine andere in St. Gallen. Und es waren alles richtige Familien, ein Vater, eine Mutter, Kinder.»

Die Bemerkung bohrte sich Robert ins Herz. Die vorhin kurz entstandene Nähe war während Siegfrieds nüchtern geäusserten Ausführungen wieder verschwunden, jetzt sprach der kühle Forscher, der von seinem Schreibtisch aus die Fäden für sein Projekt zog.

«Doch die Innerschweiz ist gar nicht so weit von Graubünden entfernt. Früher oder später hätte die Mutter herausgefunden, wo sich Angelina aufhält.»

Die Mutter suchte ihr Kind? Robert hatte geglaubt, dass sich die Mutter nicht um das Kind sorgte, oder dass sie es gar verstossen hatte.

Siegfried redete unbeirrt weiter: «Hier, am äussersten Rand der Deutschschweiz wird es schwieriger. Hier müssen wir nicht befürchten, dass die Mutter plötzlich auftaucht. Das bedingt jedoch, dass Sie mitspielen, Herr Bielmann.»

«Was erwarten Sie denn von mir?», fragte Robert, jetzt nicht mehr mit jener unterwürfigen Freundlichkeit, die seinen Ton bis dahin beherrscht hatte.

«Angelina wird der Mutter schreiben wollen.»

«Und das sollen wir ihr verbieten?»

«Nein, das nicht. Im Gegenteil. Wenn sie das möchte, soll Angelina der Mutter ruhig schreiben.»

«Aber?»

«Die Briefe sollen an mich adressiert werden. Sagen Sie Angelina, dass ich die Briefe weiterleiten würde.»

Robert konnte sich ausdenken, was das bedeutete.

Siegfried schien Roberts Gedanken zu erraten. «Ich weiss, Sie sind ein gläubiger und rechtschaffener Mann. Doch wenn Sie Angelina etwas Gutes tun wollen, dann halten Sie sich an meine Anweisungen. So schmerzhaft das für eine Weile auch sein mag. Wir müssen die emotionale Bindung durchtrennen. Wir müssen die ewige Kette des Unglücks sprengen.»

Auf dem Rückweg unterrichtete Siegfried Robert darüber, dass das Mädchen im vergangenen Jahr krank gewesen war. Nach Ausbildung eines Krupps habe man einen Luftröhrenschnitt durchführen müssen, und wegen einer anschliessenden Tuberkuloseerkrankung habe Angelina vier Monate im Sanatorium in Arosa verbracht. Sie sei nun aber so weit wieder hergestellt, dass man sich keine Sorgen machen müsse. Danach erläuterte Siegfried, was sich alles im Koffer befand, den man für Angelina zusammengestellt hatte: Ein Sonntagskleid, ein Werktagskleid, eine Pelerine, eine Mütze, Pantoffeln, ein Unterrock, zwei Jupes, ein Pullover, drei Paar Strümpfe, acht Taschentücher, eine Zahnbürste. Ferner der Heimatschein, der Taufschein und das Schulzeugnis. Das war alles, was sie brauchte, um ein neues Leben zu beginnen.

Als sie beim Hof eintrafen, fanden sie Helene und Angelina nebeneinandersitzend auf der Bank unter dem Apfelbaum. Die Mutter und ihr Kind im Garten. Ein Idyll. Es war ein Anblick, der Robert im ersten Moment rührte, doch dann, je näher sie zu den beiden herantraten, umso mehr schauderte ihn. Tatenlos und stumm sassen sie da, Helene mit steif verschränkten Beinen, die Hände wie beim Gebet hilflos ineinander verschlungen, im Gesicht gequälte Herzlichkeit, daneben Angelina, leicht geduckt, der Blick fiel leer ins Gras, die Schultern angespannt, als wollte sie sich vor etwas schützen, und Robert wurde schlagartig bewusst, wie gross die Entfernung von Freiburg zu Graubünden war.