Davos, Graubünden
1936
Ruhig atmend sass er auf dem Bett seines Zimmers im Davoser Hotel Metropol-Löwen, betrachtete sie und fuhr mit den Fingern über ihren kalten Hals. Es war eine automatische Pistole, Kaliber 6.35, er hatte sie an der Aarbergergasse in Bern beim Büchsenmacher Schwarz für zehn Franken gekauft, ohne Waffenschein und ohne Fragen, nicht einmal seinen Namen wollte man wissen – in der freien Schweiz konnte man sich eine Pistole wie eine Schachtel Zigaretten besorgen. Seither trug er sie stets in seiner Rocktasche, und jetzt lag sie, im Licht der untergehenden Sonne, das durch das Fenster hereinfiel, ganz unschuldig auf dem Laken, das unerlässliche Werkzeug seines Plans. Sie enthielt sechs Patronen. Sie war geladen.
In seinen Fantasien hatte er sie alle schon niedergeschossen, Göring, diesen fetten Popanz, Goebbels, den klumpfüssigen Zwerg mit dem Riesenmaul, einen nach dem anderen, und am Ende als Krönung Hitler, die dämonischste aller Gestalten, den Urheber aller satanischen Bosheiten, der von der Bierbank aufgebrochen war zur Vernichtung der Juden und der Welt.
David Frankfurter klopfte eine Zigarette aus der Schachtel, die neben dem Revolver lag, liess ein Streichholz aufflammen, zündete die Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Die Zigaretten hatten ihm beigestanden, nachdem er an der Universität durch die Prüfungen gefallen war. Vierzig Stück am Tag. Die Idee war gewesen, irgendwann wieder aufzuhören, doch seit er eine Pistole besass, gab es dafür keinen Grund mehr. Er rauchte und betete ein Schma Israel.
Wie oft hatte er sich in seinem Leben schon getäuscht? Als er für sein Studium der Zahnheilkunde von Vinkovci nach Leipzig gezogen war, schien ihm Deutschland der Inbegriff freier geistiger Forschung zu sein. Doch schon bald hatte er innerhalb der Studentenschaft diese nationalistische Begeisterung gespürt. Er war nach Frankfurt gezogen, ins Zentrum des deutschen Judentums, und auch dort, selbst in den Seminaren der Humanmedizin, hatte ihn das rätselhafte Phänomen des Nationalsozialismus umgeben. Und er war – nach der Machtergreifung, als der Massenwahnsinn ausbrach und sich das Land der Dichter und Denker endgültig in eines der Gelichter und Henker verwandelte – nach Bern gezogen. Dort hatte er mit der Recherche für seine Dissertation über Krebs begonnen, ohne Lust und Eifer, denn wozu das alles? Die furchtbarste aller Erkrankungen hatte Deutschland bereits vergiftet und schickte sich an, den ganzen Erdball zu zerstören. Dagegen taugte medizinische Forschung nichts. Er wollte sich kein weiteres Mal täuschen lassen.
Er stand auf, nahm den Boden der Zigarettenbox vom Tisch und legte sich wieder hin. Ein Stück Karton, an den Rändern stand der Memphis-Schriftzug, auf der leeren Fläche in der Mitte hatte er seinen Aktionsplan festgehalten. «Wenn er nicht herauskommt und nicht zu sehen ist, versuchen zu fliehen, sonst Ausführung des Selbstmordes. 1–2 Schüsse in die Brust. Revolver in der rechten Tasche des Rockes, nicht im Überzieher. Sobald ich im Zimmer bin, plötzlich herausziehen und schiessen, in den Kopf oder in die Brust. 3 Schüsse.»
Er war ganz ruhig. Die Kämpfe, die er über Monate mit sich selbst ausgefochten hatte, waren beendet. Er spürte, wie der Friede auf ihn herabsank. Er betete einen Kaddisch.
In einem Berner Kaffeehaus, nach einem Spiel des einheimischen Fussballclubs BSC Young Boys, war er in der Zeitung zum ersten Mal auf den Namen Wilhelm Gustloff gestossen. Aufmerksam hatte er fortan seinen Werdegang verfolgt. Nach einer Tuberkulosekur in Davos war Gustloff dort heimisch geworden. Anstellung im Observatorium, erforschte das Sonnenlicht, mass die atmosphärische Strahlung. Seit 1932 Leiter der NSDAP-Landesgruppe Schweiz. Teilte die Schweiz in Gaue, Bezirke und Stützpunkte ein. Davos war ein Naziloch geworden, der wichtigste Vorposten von Nazideutschland in der Eidgenossenschaft. Man nannte es Hitlerbad. Auf der Strasse machte man den Hitlergruss.
Vor vier Tagen war David Frankfurter mit der Bahn von Bern nach Davos gereist. Sein Reisegepäck bestand aus Unterwäsche, Schreibzeug, zwei Büchern, Zigaretten und dem Revolver. Er hatte sich im Hotel Metropol-Löwen einquartiert. Er hatte sich nach Gustloffs Wohnhaus erkundigt. Er hatte Abschiedsbriefe geschrieben, an den Vater, an die Geschwister und an Linny, bei der er in Bern wohnte und die in seinem Leben vielleicht noch eine Rolle gespielt hätte. Gelegentlich hatte er gelesen, Gedichte von Heinrich Heine, dem jüdischen Sänger der Freiheit, und den «Zauberberg» von Thomas Mann, einen Roman, der in Davos spielte und den er nun abbrechen musste, doch es war ein dickes Buch mit langen kleingedruckten Sätzen, er war bestimmt nicht der Erste, der den Zauberberg nicht bezwang. Und schliesslich hatte er das Ende des Schabbats abgewartet.
Der Schabbat war nun zu Ende.
Er zündete sich eine weitere Zigarette an und schloss die Augen. Während er den Rauch eine Weile in den Lungen behielt und dann langsam an die Zimmerdecke blies, sah er noch einmal seine Liebsten. Endlich würden sie ihn verstehen. Endlich würden sie begreifen, warum er sich in letzter Zeit so verhalten hatte. Sie würden bemerken, dass seine Abwesenheit nicht gegen sie gerichtet gewesen war, sondern dass er sie im Gegenteil geliebt hatte, dass er sein ganzes Volk geliebt hatte, und dass sowohl sein Verhalten als auch seine Tat Zeugnis einer tiefen Verbundenheit war. Und dann, immer noch mit geschlossenen Augen, sah er wieder diesen Mann mit der Schreibfeder in der Hand. Er besuchte ihn gelegentlich. Es war ein Reisender aus einer fernen Zeit, einer Zeit, in der dieser Wahnsinn überstanden war. Ein Mann mit hellem lichtem Haar, der alles über ihn wusste, selbst die Dinge, die er noch gar nicht getan hatte. Der Mann zeigte ihm, dass alles so kam, wie es musste. Er öffnete die Augen, um wieder die Herrschaft über sich zu erlangen. Er war immer noch ruhig. Er kontrollierte, ob die Pistole geladen war. Er steckte sie nicht in den Überzieher, sondern in die rechte Tasche seines Rocks.
Um halb acht Uhr abends verliess David Frankfurter sein Hotelzimmer. Er ging an der Rezeption vorbei, wo er vor vier Tagen einen Ankunftsschein ausgefüllt hatte, unter seinem richtigen Namen. Er hatte nichts zu verheimlichen. Was er beabsichtigte, war für die Öffentlichkeit bestimmt. Er wollte nicht als Unbekannter aus dem Hinterhalt handeln, sondern ihm unverhüllt entgegentreten: der Jude gegen den Nazi.
Auf der Kurpromenade zeigte ein Wegweiser den Weg zum Blutgericht: «Landleiter der NSDAP, Gruppe Schweiz». Jeder wusste, wo Gustloff wohnte. Die Schweizer, die in ihrem freien Land lebten, sie waren ob so viel Freiheit blind geworden. Die Nazifizierung hatte längst begonnen, doch sie sahen es nicht. Die Annexion, die Einverleibung ins Höllenreich, war ihr Schicksal, doch sie merkten es nicht. Es gab Ausnahmen: Der Sozialist Gaudenz Canova hatte vom Bundesrat verlangt, Gustloff des Landes zu verweisen. Worauf der Bundesrat geantwortet hatte, das Hakenkreuz sei in der Schweiz nicht verboten. Dann werde wohl das Volk eingreifen müssen, so Canova, und dieser Aufforderung würde Frankfurter nun Folge leisten. Es lag an ihm, einem geschändeten Juden, dieses Land, das ihm Gastrecht gewährte, zu retten, so wie es im Mythos Tell getan hatte, und er spürte, wie sich der Geist Tells nun seines Leibes bemächtigte, ein Tyrannenmord, aus Liebe zur Schweiz und zum ganzen jüdischen Volk, und er, David Frankfurter, würde zu ihrem Märtyrer werden.
Die Nacht war kalt. Seine Hände zitterten, als er vor dem Haus Nummer 3 am Kurpark eintraf und sich eine letzte Zigarette anzündete. Die Pistole in seiner rechten Rocktasche war bereit, sich und die Nation zu erlösen. Den Auftrag zu vollziehen, den ihm sein Gewissen erteilte.
Er klingelte an der Eingangstür. Er wartete. Nichts geschah. Er öffnete die Tür und kam ins Treppenhaus. Da stand eine Frau. Sie sah ihn überrascht an.
«Was wollen Sie hier?», fragte sie.
War das seine Frau? Würde er einer Frau ihren Mann wegnehmen? Hatten sie gar Kinder, denen er ihren Vater wegschiessen würde? Frankfurter hatte sich Gustloff nie als Menschen vorgestellt. Immer nur als Nazi. Als Glied eines mörderischen Systems.
«Ist der Herr Gustloff zu Hause und kann ich ihn sprechen?», fragte er.
Die Frau nickte, liess ihn eintreten und in Gustloffs Arbeitszimmer warten.
Er setzte sich auf einen Stuhl. Ein Grammofon spielte Musik. An der Wand hing ein Bild des Führers: «Meinem lieben Gustloff, Adolf Hitler». Darunter ein SS-Ehrendolch, «Blut und Ehre». Auf einer Kommode Blumen. Das sorgfältig eingerichtete Zimmer strahlte unendliche Liebe zum deutschen Vaterland und seinem Führer aus, und jetzt erkannte er die Musik, die das Grammofon wiedergab. Es war Wagners «Tristan und Isolde», der fatale Gipfel der Deutschtümelei, und wie nie zuvor spürte er, dass es kein Zurück gab. Es war zu spät. Nun hörte er, vom Tristan-Akkord untermalt, Gustloffs Stimme. Im Flur führte er ein Telefongespräch, seine Worte drangen gedämpft und unverständlich an ihn heran, doch die Attitüde, mit der er sich mitteilte, war diejenige eines Nazis, laut, aufgeblasen, gestelzt. «Zum Donnerwetter, wer steckt schon wieder in der Leitung?», hörte Frankfurter nun, dann Schritte, dann ging die Tür zum Arbeitszimmer auf.
«Da bin ich», sagte Wilhelm Gustloff.
Es war ein riesengrosser Mann. Ein Hüne. Goliath.
David Frankfurter nahm die Pistole aus der Rocktasche und drückte ab. Der Mechanismus klemmte.
Gustloff schrie auf, kam mit erhobenen Armen auf Frankfurter zu, um sich auf ihn zu stürzen.
Frankfurter drückte erneut ab und traf Gustloff in die rechte Wange.
Der zweite Schuss traf ihn in den Hals.
Der dritte ins Kinn.
Der vierte wieder in den Hals.
Der fünfte Schuss ging in die Wand, da Gustloff endlich in seiner Blutlache niedersank.
Die Frau kam schreiend ins Zimmer angerannt.
«Platz, oder ich schiesse», sagte Frankfurter ganz ruhig. Die Frau verstummte und gehorchte.
Frankfurter verliess das Zimmer, ging die Treppe hinunter, aus dem Obergeschoss Schreie, er verliess das Haus, irrte über die schneebedeckte Wiese, irrte durch die Nacht, den Revolver immer noch in der Hand.
Er hatte noch eine Patrone.