Richterswil, Zürich
1937
Abends hatten sie immer eine Stunde frei. Dann setzte sich Olga meistens in den Innenhof ins Gras, umgeben vom Duft der Blumen und dem Summen der Bienen, genoss die letzten Sonnenstrahlen und die Sicht auf den nahen See, an dessen Ufer ein verwunschener Steg mit einem Boot aus dem Dunst ragte ... Es war das Paradies.
Das zumindest versuchte sie sich einzureden. In Wahrheit hielt man sie hier in einem Heim fest und liess sie den ganzen Tag öde Arbeiten verrichten, und manchmal, wenn der Trübsinn sie zerrieb, schien ihr das sanft in den Wellen schwappende Boot die einzige Rettung zu sein, und der Zürichsee die erlösende Freiheit.
Oft setzte sich Angelina zu ihr. Wie Olga kam Angelina aus Obervaz und war nur ein Jahr jünger als sie. Sie kannten einander seit der Kindheit, doch sie hatten sich damals nicht besonders gemocht. Beide waren ihrem Leben entrissen und in Kinderheime gebracht worden. Beide von Dr. Siegfried. Und beide hatten sie eine neue Familie bekommen, Olga im Bernischen, Angelina im Freiburgischen. Aber wie um sie zu ermahnen, sich dann doch nicht für allzu normal zu halten, hatte man sie bald wieder aus der Gemeinschaft entfernt, und jetzt waren sie beide hier, im Erziehungsheim für katholische Mädchen in Richterswil.
Fern von Zuhause begannen sie sich zu mögen. Jede fand in der anderen ein Stück der verlorenen Heimat wieder, sie sprachen über die schneereichen Winter und die Schlittelfahrten von Lain bis hinab nach Zorten, sie zogen über Lehrer Jochberg her und vermissten die Wälder und die Berge. In Bündner Dialekt, der allerdings von Zürcher, Berner, Freiburger Ausdrücken merkwürdig gebrochen wurde, teilten und weckten sie Erinnerungen an ein fernes Land, an eine vergangene Zeit.
Heute war Angelina nicht da. Nach einer Viertelstunde erhob sich Olga aus dem Gras und suchte sie am Seeufer, im Garten, hinter dem Hauptgebäude und rund um das Arbeitshaus. Sie vermutete schon, Angelina habe sich heimlich mit einem Knaben verabredet, da fand sie sie einsam am Weiler sitzend, der ebenfalls zum Heimanwesen gehörte. Sie weinte.
«Was ist denn los?», fragte Olga.
Angelina sagte nichts. Die Tränen flossen ihr über die Wangen.
Olga setzte sich zu ihr und fragte noch einmal: «Was ist passiert?»
«Siegfried hat geschrieben.»
«Und?»
«Vater ist gestorben.»
«Jacob?»
Angelina nickte.
Da drückte Olga sie an sich, strich ihr tröstend über das Haar und schöpfte selber Kraft daraus, endlich wieder einmal jemanden zu umarmen.
Jacob Eugster war gestorben, Angelinas Grossvater, in dem sie offenbar immer noch ihren Vater sah. Das war traurig. Olga hatte ihm früher gerne zugesehen, wie er pfeiferauchend die Fassdauben über dem Feuer bog. Doch beschämt stellte sie fest, dass die Kunde von Jacobs Tod sie auch ein wenig erleichterte. Es bedeutete, dass Siegfried ihnen mitteilte, wenn ein Familienmitglied starb. Und das bedeutete, dass ihre Eltern, Geschwister und Grosseltern alle noch lebten.
«Ich will weg von hier», sagte Angelina, immer noch in Olgas Armen. «Ich will nach Hause.»
«Ich auch», sagte Olga, «ich auch.»
Sie wusste nicht recht, wie man mit jemandem sprach, der gerade einen geliebten Menschen verloren hatte. Es gab im Leben fast immer eine Lösung, irgendetwas konnte man meistens tun, und sei es nur, von besseren Zeiten zu träumen. Aber ein Todesfall war komplizierter als alle anderen Probleme, er war unfassbar und endgültig, da fehlte ihr ein gutes Rezept. Eine Weile blieben sie noch still umschlungen sitzen, und als Angelina langsam die Tränen ausgingen, glaubte Olga, das Schweigen brechen zu müssen.
«Jacob war ja eigentlich dein Grossvater», sagte sie. «Aber was ist mit deinem richtigen Vater?»
«Keine Ahnung», sagte Angelina.
«Du kennst ihn nicht?»
«Nein.»
«Und was weisst du über ihn?»
«Nichts.»
«Interessierst du dich denn gar nicht für ihn?»
«Interessiert er sich denn für mich?»
«Aber er lebt!»
«Oder auch nicht.»
«Natürlich lebt er!», sagte Olga überschwänglich. Konnte das eine Hoffnung sein? Der vermeintliche Vater war gegangen, aber der echte war noch da. Eines Tages würde Angelina ihm begegnen und wieder einen Vater haben. «Ich stelle mir einen grossen schönen Mann vor. Einen Mann mit den gleichen blauen Augen wie du. Und mit deinem blonden Haar. Ein Musiker vielleicht, ein Zuckerbäcker, ein Modeladenbesitzer. Er könnte aus Deutschland kommen, aus Frankreich oder –»
«Hör auf», sagte Angelina finster.
Olga presste die Lippen zusammen. Auch dieses Rezept schien nicht funktioniert zu haben.
Am Abend, nachdem sie zu Bett gegangen waren, wartete Olga, bis es still im Schlafsaal wurde. Das Licht des Vollmonds flutete durch das Dachfenster in den Saal, und die eisernen Gestelle der Betten, die in Reih und Glied standen, warfen ein elegantes Schattenmuster auf den Boden. Olga mochte Vollmondnächte, dann konnte sie lesen. Dann musste sie nicht, wie bei Neumond, allein mit ihren Gedanken einschlafen, umfangen von Schwermut und Heimweh. Bald begann Elise neben ihr leise zu schnarchen, und Olga schien der Moment gekommen, ein Buch hervorzunehmen.
Offiziell gab es hier nur geistliche Literatur: Das einzige Buch, in dem Jesus nicht vorkam, war eine Einzelausgabe des Alten Testaments. Aber unter der Matratze hatte sich Olga eine kleine geheime Bibliothek eingerichtet. Sie bestand derzeit aus drei Büchern. Eines davon hatte sie fünf Mal gelesen. Es war die Geschichte von Heidi, einem Waisenkind aus Graubünden. In manchen hellen Nächten hatte Heidis Schicksal sie zu fesseln vermocht, aber ein sechstes Mal würde sie es nicht lesen. Heidi war ein fünfjähriges Mädchen, Olga war nun siebzehn, und bei der letzten Lektüre hatte sie bemerkt, dass das, was sie las, nicht mehr mit ihren Gefühlen übereinstimmte. Sie war kein Kind mehr, sondern bald eine Frau, die sich nicht nur nach ihrer Familie sehnte, sondern nach der ganzen Welt. Deshalb hatte sie kürzlich, auf einem Ausflug nach Luzern, zwei Bücher aus einer Buchhandlung entwendet. Das war nicht richtig, aber es war auch nicht richtig, dass man sie hier einbuchtete und nichts lesen liess.
Das eine der beiden schmalen Bücher hatte sie schon durch, nachdem sie damit ein paar Mal ohne Not auf die Toilette verschwunden war. Es trug den eigenartigen Titel «Lyrische Novelle» und war auch sonst recht mysteriös. Die Hauptfigur liebte eine Frau, und die Hauptfigur, aus deren Sicht man die Erzählung las, war offenbar ein Mann, aber geschrieben hatte das Buch eine Frau, sie hiess Annemarie Schwarzenbach. Das andere Buch erwartete sie noch, und sie freute sich darauf wie auf eine Reise: «Erlebnisse einer Serviertochter» von Annelise Rüegg. Die Beschreibung auf dem Innendeckel klang vielversprechend: Eine junge Frau aus Zürich geht ins Welschland, beginnt dort zu servieren und zieht bald weiter in die Hotels und Restaurants von Italien bis nach England. Was die wohl nicht alles erlebt hatte! Olga wollte darüber lesen, wenigstens lesen, um eine kleine Ahnung davon zu erhalten, was es bedeutete, nicht hinter diesen erbärmlichen Mauern zu verkümmern.
Sie schlug das Buch willkürlich in der Mitte auf, so begierig war sie nach dem Leben, dass sie sich gleich direkt ins Geschehen stürzen wollte: «In meinem Dachkämmerchen las ich», las sie, «bis ich einschlief und hatte den Wunsch, nicht mehr aus meinem Glücke zu erwachen, ausser im Himmel, und dort ihn wieder zu sehen.»
Das klang schön. Aufgeregt las sie weiter: «War es seine Stimme, seine Augen, seine Arme, was mich so mächtig und beseligend zu ihm zog? Ich küsste, doch es waren keine Küsse, ich fühlte grösser, heiliger, vielmehr.»
Plötzlich hörte sie einen Laut. Sie fuhr zusammen und versteckte das Buch unter der Bettdecke, doch rasch wurde ihr klar, dass sie nicht die Stimme einer Schwester gehört hatte. Es war das Schluchzen von Angelina, das gedämpft durch die Decke über ihrem Kopf zu ihr drang.
Olga drehte sich auf den Rücken, starrte zum Heiland, der tatenlos an der Wand hing, und dachte nach. Die Schwestern drohten ihnen regelmässig mit drakonischen Strafen. Kahlrasur. Bettarrest. Verlängerung des Verbleibs im Heim. Versetzung in ein strengeres Heim. Die mildeste Strafe setzte es für den blossen Fluchtversuch ab. Motivierte man Mitinsassinnen ebenfalls zur Flucht, verschärfte sich die Strafe. Für die tatsächliche Flucht blühte einem die Höchststrafe. Und je länger Olga darüber nachdachte, umso deutlicher schienen ihr die Drohungen blosse Angstmacherei zu sein, denn: Wie wollten die Schwestern jemanden nach einer erfolgreichen Flucht bestrafen?
Entschlossen schob Olga das Buch wieder unter die Matratze, stand leise auf und trat an Angelinas Bett.
«Was willst du?», fragte Angelina verwirrt.
Olga hielt sich den Finger an die Lippen. Dann flüsterte sie ihr den Plan ins Ohr, den sie spätestens seit dem Abendessen nicht mehr loswurde.
Angelina schüttelte verständnislos den Kopf, trocknete sich mit der Decke die Augen – und zu Olgas Überraschung stand sie auf, zog das Nachthemd aus und zwängte sich in Jupe und Bluse.
Als sie zur Tür des Schlafsaals schritten, hoben zwei andere Mädchen den Kopf vom Kissen. Olga gab ihnen mit einem Blick zu verstehen, dass sie von nichts wussten.
Draussen im Gang brannte schummriges Licht. Auf der Bank vor dem Saal befand sich nur eine Bibel, keine Nachtaufsicht. Offenbar verliessen sich die Schwestern auf die Macht ihrer Drohungen. Und bis jetzt hatte sich dies ja auch bewährt.
Noch trauten sie ihrem Glück nicht, während sie durch das wie ausgestorben wirkende Gebäude schlichen. Hinter jeder Ecke befürchteten sie eine Schwester, die sie an den Haaren packte und zur Vorsteherin beförderte, damit diese über sie richten konnte.
Über die letzte Treppe näherten sie sich dem Erdgeschoss, und Olga fragte sich schon, warum sie all die Nächte gehorsam im Bett liegen geblieben war, da es doch so einfach war, sich fortzustehlen, als sie die Schwester sah.
Sie sass neben dem Haupteingang auf einem Stuhl. In ihren Händen baumelte ein Rosenkranz. Ihr Mund war leicht geöffnet, der Kopf nach vorne genickt. Sie schlief.
Angelina fasste Olga bei der Hand und drückte so fest zu, dass es schmerzte. Nach Sekunden der Starre, die sich ewig hinzogen, tappten sie wieder die Treppe hoch, um aus dem Sichtfeld der Schwester zu verschwinden, sollte sie aus ihrem Schlummer aufwachen und die Augen aufschlagen.
Der Schuhraum. Der Schuhraum im ersten Stock, dessen Fenster tagsüber immer offen war. Warum sollte es jetzt verriegelt sein? Die Schuhe stanken auch nachts.
Als sie den dunklen Raum betraten, strich ihnen eine kühle Sommerbrise über die Haut. Sie sahen sich beschwörend in die Augen. Sie wussten, dass jetzt keine Zeit für Gespräche blieb. Und dass es besser war, nicht lange über den Sprung nachzudenken.
Zuerst warfen sie ihre Schuhe aus dem Fenster, damit sie sich bei der Landung nicht den Knöchel verstauchten. Dann folgten sie den Schuhen.
Olga sprang ins Blumenbeet, verlor das Gleichgewicht und zerschürfte sich beim Sturz den Ellbogen. Angelina blieb auf den Beinen, riss sich aber an den Rosenstacheln die Strümpfe auf. Doch sie befanden sich unter freiem Himmel.
Während sie in Richtung See rannten, spürte Olga, wie ihr das Adrenalin durch die Adern schoss.
«Was hast du dir nur dabei gedacht?», fragte Angelina keuchend.
«Warum bist du denn mitgekommen?», fragte Olga zurück.
«Was, wenn sie uns erwischen?»
«Was, wenn sie uns nicht erwischen?»
Sie kamen zum Steg. Olga, vom kühnen Sprung aus dem Fenster ermutigt, betrat sogleich das Boot, das unter ihren Füssen ins Wanken geriet. Sie reichte Angelina die Hand und half ihr, ebenfalls an Bord zu kommen.
Sie schnappten sich beide eines der Ruder, die im Bug lagen, knieten sich hin, und mit ein paar kräftigen Ruderschlägen entfernten sie sich Meter um Meter vom Ufer und den aufstrebenden Gebäuden des Erziehungsheims. Sie sahen hoch zu den Fenstern des Schlafsaals. Noch waren keine Lichter angegangen. Und sie ruderten weiter, mit dem Rücken voran hinaus in den dunklen See, bis sie sich erschöpft auf die morschen Bretter des Bootes fallen liessen.
Der Mond verschwand hinter den aufziehenden Wolken. Der Wind lenkte das Boot durch die Nacht. Die Wellen der Freiheit trugen sie fort und spülten das vergangene Jahrzehnt weg. Und plötzlich begannen sie zu lachen. Sie lachten über die schlafende Schwester, über Olgas Fall ins Blumenbeet und darüber, dass dennoch alles so leicht gegangen war. Sie lachten über ihre absurde Existenz und über die Tatsache, dass zwei Mädchen aus Obervaz eines Nachts mit einem gestohlenen Boot über den Zürichsee ruderten. Sie lachten vor Glück und aus purer Freude am Leben.
Langsam wurden sie wieder still, und erfüllt von der gemeinsamen Rebellion und der Freundschaft blieben sie Schulter an Schulter liegen.
War es nicht so, dachte Olga, dass sämtliche Gewässer miteinander verbunden waren, der Zürichsee über all die Flüsse, die durch die Täler zogen, mit dem Vazersee, mit dem Neuenburgersee, mit dem Lago Maggiore, und alle Seen des Landes wiederum mit dem unermesslichen Ozean?
Dann fielen die ersten Tropfen in den See. Ein warmer Sommerregen zog auf. Schliesslich prasselte ein ganzer Wasserfall herab und bildete eine Brücke, die sich von der Erde bis in den Himmel spannte.