Eduard Neiger (1876–?)

Bern

1939

   

Es war noch gar nicht lange her, da hatte er auf seinem Hof in Meiringen allein von den Kühen umhegt den zweiundsechzigsten Geburtstag begangen. Jetzt spazierte er als frisch verheirateter Mann in Halbschuhen über den Bundesplatz in Bern. Noch im Standesamt hatte seine Ehefrau ihn an der ungewohnt beringten Hand genommen, und seither zerrte sie ihn durch die Stadt, vorbei an den Brunnen, Bären und Bierstuben, während er sich mit Kräften darum bemühte, sein Verlangen nach einer Pause zu verheimlichen.

Auf dem Bundesplatz war Markt. Viele Leute hatten sich hier vereint, viele Gerüche, viel Tumult. Es war kein guter Ort, um sich zu erholen. Schon sehnte er sich wieder nach dem Land, wo er alles kannte, und wo selten etwas geschah, das er nicht hatte kommen sehen. Durch die Gasse aus Marktständen, die geradewegs auf das Portal des Parlamentsgebäudes zulief, führte seine Frau ihn über den Platz, bis sie endlich seine Hand losliess.

Sie trat an eine Theke, er schaute ihr nach. Sie sah schön aus mit ihrem hochgesteckten Haar und dem Kleid, das zwar nicht weiss war, sondern kirschrot, doch es stand ihr gut, und nichts an ihr erinnerte an die vom Leben gezeichnete Gestalt, die im Herbst nach einem blitzenden Gewitter seinen Hof betreten hatte.

Damals war sie eine durchnässte Frau gewesen mit traurigen Augen und einem Kopftuch, das sie gebrechlich machte. Damals redete sie noch mit ihm, als sie auf ihn zukam, sie sah ihn bittend an und redete, bis sie realisierte, dass er taub war und nichts verstand. Er holte Stift und Papier und erfuhr, dass sie Arbeit suchte. Sie soll verschwinden, so sein erster Gedanke. Aber es war kalt und die Nacht nahte. Ausserdem hatte sein Hof seit dem Tod der Mutter keine Frau mehr gesehen und war ziemlich heruntergekommen. So arbeitete sie einen Monat lang bei ihm. Am Tag putzte sie die vor lauter Dreck ganz dunkel gewordenen Fenster, entfernte die Spinnweben aus den Winkeln und bereitete aus dem wild im Garten wuchernden Gemüse köstliche Eintöpfe zu. Am Abend setzte sie sich neben ihn vor den Kamin, dann verfolgten sie gemeinsam das Treiben der Flammen. Kurz vor Ablauf des Monats stand auf einem Seitenrand im Milchbüchlein geschrieben: «Willst du mich heiraten?» Das war seltsam. Normalerweise kam die Frage vom Mann, nicht von der Frau. Aber ihm wäre es niemals in den Sinn gekommen, sie zu fragen. Er ging in den Stall und kraulte einer Kuh die Stirn. Wollte er das wirklich? Wollte er das, was ihm über sechzig Jahre lang verwehrt geblieben war, nun noch riskieren? Dazu mit einer Frau, die kaum vierzig war und seine Tochter hätte sein können? Die Kuh blickte ihn zuversichtlich an. Dann ging er zurück in die Stube und lächelte einfach, damit sich nicht die gesamte Verlobung im Milchbüchlein vollzog.

Sie brachte zwei sprudelnde Gläser vom Marktstand. Er nickte dankend und sie stiessen an, auf die Vermählung, vielleicht auf die Zukunft, aber ob sie auch auf die Liebe anstiessen, wollte er doch bezweifeln. Er war nur taub, nicht dumm.

Eduard Neiger hatte kaum zu den begehrtesten Junggesellen des Landes gehört. Er gab keine interessante Gesellschaft ab, er hatte einen krummen Rücken vom Melken, und das Melken brachte ihm wenig Geld. Aber zumindest von behördlicher Seite besass er einen einwandfreien Leumund. Er hatte niemals Ärger mit dem Gesetz gehabt und führte trotz seiner Behinderung ein gefestigtes, beständiges Leben. Womöglich war es das, was Maria Ursula an ihm so attraktiv fand, denn mit den Behörden lieferte sie sich seit vielen Jahren einen erbitterten Krieg. Es ging um ihre Tochter, die man ihr einst weggenommen hatte und die fern von ihr aufwuchs, warum wusste er nicht, sie schien es selber nicht zu wissen. Vielleicht höhlte dieser Krieg sie dermassen aus, dass ihre Stimme langsam brach und sie den Frieden in der Stille suchte, die er ihr gewährte.

Es war ein spritziges Getränk, das sie da zu sich nahmen. Es schmeckte ein bisschen wie Weisswein, nur teurer. Wahrscheinlich war es die traditionelle Verpflegung der Neuvermählten. Aber er hatte Durst und das Glas war schmal. Während er einen unnatürlich kleinen Schluck nahm, studierte er das Bundeshaus. Das war sie also, die Schaltzentrale der Eidgenossenschaft. Auf dem Dachgiebel standen drei steinerne Frauen. Ganz oben auf der Kuppel leuchtete ein goldenes Schweizerkreuz. Der Bau war stattlich, und doch spielte sich darin wohl ungefähr das Gleiche ab wie am Gemeinderatstisch im Hinterzimmer des Hotels Hirschen. Es trafen sich Männer, die die Macht mochten. Und sich dazu bestimmt fühlten, zu bestimmen. Über die Dörfer und die Städte, über das Geld und die Natur. Und natürlich über die Menschen, vor allem über Abweichlerinnen wie Maria Ursula, und über die Schweigsamen wie ihn.

Sie tippte ihm auf die Schulter und deutete mit strahlendem Gesicht an ihm vorbei. Er drehte sich um. Gleich neben den Ständen hatte eine Musikkapelle zu spielen begonnen. Ein Mundharmonikaspieler. Eine Geigerin. Ein Kontrabassist. Eine Lautenspielerin. Und eine Frau, die sang. Fünf Personen, die Musik machten, vermutlich Zigeuner. Für die Leute, die hörten, waren sie Künstler, doch für Eduard Neiger waren sie Handwerker, die ertraglos ihre Werkzeuge bearbeiteten. Eine Weile sah er der Lautenspielerin bei der Arbeit zu. Mit der rechten Hand wedelte sie auf und ab und strich dabei über die gespannten Stränge. Damit erzeugte sie wohl Töne, in einer gewissen Regelmässigkeit. In einem Rhythmus. Mit der linken Hand drückte sie die Stränge auf das Holzbrett, wobei sie die Fingerstellungen ständig wechselte. Wozu? Für die Melodie? Was war eine Melodie? Und wie fügten sich Rhythmus und Melodie zusammen?

Die Welt war auf seinem Hof einfacher zu begreifen als hier in dieser lauten stummen Stadt.

Maria Ursula schien es zu gefallen. Sie wippte mit den Knien, schaukelte die Hüfte hin und her, und auch die anderen Marktbesucher hatten sich den Musikanten zugewandt und konnten ihre Füsse kaum auf dem Boden behalten.

Vielleicht irrte er sich ja, dachte er und erschrak. Vielleicht war auch auf seinem Hof alles laut und bloss für ihn stumm. Dass die Kühe manchmal riefen, wusste er, das sah er, und das spürte er an ihrem Bauch. Doch wie klangen die Bäume? Die Blumen? Die Vögel? Wie klang der Regen und der Himmel und die Nacht?

Die Musikanten setzten ihre Geräte ab, tauschten ein paar Worte aus und setzten die Geräte wieder an. Entschlossen kam Maria Ursula auf ihn zu, schnappte sich sein Glas und stellte es auf die Theke. Dann reichte sie ihm die Hand, er ergriff sie, und zu seinem Erstaunen zog sie ihn nah an sich heran.

Jetzt verstand er. Sie wollte tanzen. Mit ihm.

Sein ganzer Körper verkrampfte sich. Er konnte nicht tanzen. Beim Tanzen bewegte man sich ja zu Musik, wie hätte er also tanzen können. Und dann der Rücken. Die Gelenke.

Mit seiner Hand in ihrer streckte sie den Arm seitlich vom Körper weg wie ein Schiff sein Segel. Die andere Hand umfasste seine Schulter und hielt ihn fest, und da er mit dem untätigen Arm nichts Besseres anzufangen wusste, legte er ihn um ihren Rücken. Schon allein die Haltung war kompliziert, und in dieser Haltung begann sich Maria Ursula zu bewegen. Langsam drehten sie sich im Kreis. Er folgte ihren Schritten stets mit Verspätung. Obwohl eng aneinandergeschmiegt, tanzten sie beide für sich allein.

Es dauerte zwei Umdrehungen, bis er herausfand, dass er sich völlig gehen lassen musste. Sie führte ihn und lenkte das Schiff durch den Sturm. Er musste nicht zur Musik tanzen. Er musste nur mit seiner Frau tanzen. Sie hörte für ihn. Und durch sie hörte er auch. Allmählich passten seine Schritte zu ihren Schritten, und die Bewegungen flossen ineinander. Als er sich immer sicherer fühlte und einen Seitenblick zu den Musikanten riskierte, bemerkte er, dass er exakt zu den Anschlägen der Lautenspielerin tanzte. So bekam er auf seine späten Tage noch eine Ahnung davon, was Musik war.

Plötzlich wurde es still.

Die Musik war aus, die umstehenden Leute klatschten in die Hände, und Eduard Neiger stellte fest, dass die Augen der Leute nicht auf die Musikanten gerichtet waren, sondern auf ihn und Maria Ursula, auf das Brautpaar, und für einen Moment schien ihm der ganze Bundesplatz eine grosse Festbühne zu sein, auf der man ihre Vermählung feierte, und der grosse Palast dahinter mit der grünen Kuppel gehörte ihnen, und man erwartete sie in seinen Gemächern zum pompösen Hochzeitsdiner.

Seine Aufregung legte sich wieder. Sie assen ein Stück Käsekuchen, verliessen den Markt und kehrten bald in ein Lichtspieltheater ein. Kaum hatten sie auf den weich gepolsterten Sesseln Platz genommen, erloschen schon die Lichter, und nach einigen Sekunden, die das Publikum gespannt im Dunkeln zubrachte, setzte die Vorstellung ein.

Auf einer grossen Fläche erschienen riesige Buchstaben:

OLYMPIA

Es folgten die nächsten Angaben, wobei die Wörter ein wenig wackelten, fast so, als wäre man berauscht. Aber an ihm konnte das nicht liegen, er hatte ja nicht einmal sein schmales Glas ausgetrunken.

DER FILM VON DEN

XI. OLYMPISCHEN SPIELEN

BERLIN 1936

Und das Gefühl, dass einem ein wenig schwindelte, wurde dadurch verstärkt, dass hinter den Wörtern, die man gerade las, schon die nächsten auftauchten, und man sich für einen Augenblick vor lauter Buchstaben gar nicht mehr zurechtfand.

ZUR EHRE

UND

ZUM RUHME

DER JUGEND

DER WELT

GESTALTET VON

LENI RIEFENSTAHL

MUSIK

HERBERT WINDT

Wieder nahm Maria Ursula seine Hand, wahrscheinlich, um ihn zu trösten, dass es kein Stummfilm war. Sie hatte kalt, und hier in diesem geschlossenen Theatersaal wirkte ihre Hand ganz fremd auf ihn.

Der Film fing merkwürdig an, mit Säulen und Statuen und einem nackten Speerwerfer. Dann Feuer, die Sonne, alles sah echt aus, und doch fühlte man sich in ein Schattenreich versetzt, das es gar nicht gab. Es waren verstörende, halluzinierende Bilder, die etwas in ihm weckten, das er überwunden geglaubt hatte. Neben ihm sass eine Unbekannte, seine Ehefrau. Und ebenso wenig wie er wusste, wer sie war, wusste sie, wer er war.

Mit fünfzehn Jahren hatte Eduard Neiger Berühmtheit erlangt. Zwei Wochen vor dem grossen Dorfbrand stand sein Name in den Tagesblättern, und seither war er für die ganze Region der schwerhörige Junge, den Peter Brügger verdroschen hatte. Der schwerhörige Junge, der danach zusah, wie Peter Brügger auch eine seiner Schwestern verdrosch. Vor allem aber war er der schwerhörige Junge, der danebenstand, als Peter Brügger schliesslich seiner zweiten Schwester den Schädel einschlug. Er war taub und dabei gewesen bei einem brutalen Mord – das hatte gereicht, damit Eduard Neiger selbst zu einer unheimlichen Figur wurde. Im Dorf umhüllte ihn bis heute eine Finsternis, für die er nichts konnte, ein Unheil, das so weit ging, dass die Jüngeren und die Vergesslichen bereits dachten, er habe seine Schwester damals umgebracht. Es hatte schon eine Auswärtige gebraucht, die Eduards dunkle Aura nicht kannte und sich auf seinen Hof des Grauens vorwagte.

Die bedrohlichen Bilder waren vorbei. Jetzt redete Hitler. Es war atemberaubend, ihn in Aktion zu sehen. Man kannte ihn aus den Zeitungen, die ihre Artikel nur ganz selten mit einer Abbildung aufwerteten. Aber auf den Bildern existierte er bloss. Nun salutierte und gestikulierte er, man sah ihn nicht nur, man erlebte ihn, als Führer und vor allem als Mensch, und als ihm die ganze Zuschauermasse mit ausgestrecktem Arm zujubelte, dachte Eduard, dass er noch nie eine solche Kraft gespürt hatte. Er sass jetzt nicht mehr in einem Lichtspieltheater in Bern, sondern mitten im Berliner Olympiastadion. Mit einem freundlichen Lächeln trat Hitler ab, dann wurde die Fahne mit den fünf Ringen hochgezogen, über den ganzen Himmel flogen in Schwärmen die Friedenstauben, und er hörte den nicht mehr enden wollenden Applaus des begeisterten Volks ...

Irgendwann wachte er auf.

Der Film war zu Ende. Hitler war verschwunden, Maria Ursula war noch da.

Er hatte heute die Hauptstadt durchwandert, auf dem Bundesplatz getanzt und die Olympiade besucht. Und vorher hatte er geheiratet. Wie sollte er nicht müde sein?

Draussen war eine schwüle Frühlingsnacht angebrochen. Die Sterne schimmerten schön. Schon als Junge hatte er gerne zu den Sternen hochgesehen. Sie gehörten allen, doch niemand verstand sie. Die Sterne stellten Gerechtigkeit her. Sie korrigierten alle Ungleichheiten, die es unten auf der Erde gab. Er sah noch heute gerne zu den Sternen hoch.

In der Kramgasse schloss Maria Ursula eine Tür auf, Eduard folgte ihr über eine Steintreppe mit abgerundeten Stufen in den zweiten Stock. Sie betraten eine kleine, spärlich eingerichtete Wohnung.

Das also war ihr Leben. Hier hauste sie, wenn sie nicht gerade irgendwo Geschirr wusch oder Zimmer putzte oder sich bei einem älteren Mann einquartierte, den sie kurz darauf heiratete.

Während sie Tee kochte, blickte er aus dem Fenster auf die Gasse, an deren Ende ein spitzer Turm mit einer Uhr stand. Ein Betrunkener stieg aus dem gegenüberliegenden Keller und torkelte davon. Der bärtige Mann auf dem Brunnen riss einem Löwen das Maul auf. Ein Jüngling rauchte und blies den Qualm hoch in den zweiten Stock.

Sie tranken eine Tasse Tee, gähnten und nickten.

Im Nachthemd schlüpfte Maria Ursula unter die Decke und schob sich an den Rand des Betts, was er als Einladung begriff, ebenfalls im Bett zu schlafen. Ausserdem hatte er in der ganzen Wohnung keinen anderen Platz entdeckt, an dem sich die Nacht verbringen liesse. Also ging er heute mit seiner Frau ins Bett. Er überlegte, was er alles ausziehen sollte, behielt schliesslich Unterhose und Unterhemd an und legte sich hin.

Auf dem Nachttisch sah Eduard eine aufgestellte Fotografie. Links eine Frau. Rechts ein Mann. In der Mitte ein Mädchen. Die Frau war Maria Ursula, und die drei waren eine Familie. Und sie würden es bleiben, wurde ihm bewusst, was auch immer geschah, denn Familienmitglieder konnten sich zwar in alle Richtungen zerstreuen, sie konnten sich verirren oder gar sterben, doch ihre Bande waren lang und unzertrennlich.

Aber warum hatten sie sich dann scheiden lassen?

Maria Ursula hatte ihm den Rücken zugewandt und rührte sich nicht mehr. Bestimmt schlief sie noch nicht, auch ihr mussten die vergangenen Stunden noch durch den Kopf gehen. War sie glücklich? Vielleicht war sie es gestern nicht gewesen und würde es auch morgen nicht sein. Doch heute hatte sie ganz gelöst gewirkt. Zögerlich legte er seine Hand auf ihren Oberarm. Sie erschrak nicht. Sie drehte sich ihm zu, küsste ihn auf die Wange und entliess ihn mit einem dankbaren Lächeln in die Hochzeitsnacht.