Emilio Arigoni (Name geändert, 1900–1965)

Lugano, Tessin

1939

   

Nachdem er die Palmen geschnitten, das Unkraut gezupft und die Magnolien im Hof gegossen hatte, begab er sich ins Gebäude, um nachzusehen, ob ein Kind zur Welt gekommen war.

Er stieg die Treppen hoch, passierte den Gang, ging an der Tür zum Entbindungsraum vorbei und erreichte das Fenster, das einen Blick in den Überwachungsraum gewährte. Hinter der Scheibe, in einer gläsernen Wiege, die kaum grösser war als eine der Obstkisten, mit denen er im Sommer rund um das Spital die Äpfel, Birnen und Feigen zusammentrug, lag ein Neugeborenes.

Emilio Arigoni musterte es so gebannt, dass er die Trennscheibe vergass, bis er sie mit der Nase berührte. Er wusste nicht, ob es ein Mädchen oder ein Junge war, doch er entschied sich für ein Mädchen. Es lag auf dem Rücken, die kleinen Augen geschlossen, der kleine Mund offen, der kleine Körper bis zum Hals in eine Decke gehüllt. Es schlief. Gab es etwas Schutzloseres als ein Kind, das keine Stunde alt war und schlief? Es war das einzige Kind im Überwachungsraum. Auch kein Arzt und keine Krankenpflegerin war gerade zugegen, es war allein, ganz allein, und für einen Augenblick fühlte sich Emilio Arigoni für das fremde Kind, das er zum ersten Mal sah und bestimmt nie wieder sehen würde, verantwortlich.

Er stellte sich das Mädchen an der Brust der Mutter und im Arm des Vaters vor, er stellte sich vor, wie es schon bald beginnen würde, zu gehen und zu reden und zu singen, wie es Zähne bekam, verlor und wieder bekam, wie es grösser und kräftiger wurde und ihm das Haar über die Schultern wuchs, wie es jeden Tag etwas Neues entdeckte, die Wärme einer Wollmütze, die Stimme eines Fremden, Feuer, den Duft von Brot, Angst, eine Wiesenblume, einen Bienenstich, den Mond, Herbstlaub, Scham, Schnee, einen Fliegenpilz, den eigenen Herzschlag, einen Buchstaben, den Namen eines fernen Landes, Gerechtigkeit, Widerstand, Träume. Und bald würde aus dem kleinen Mädchen, dessen Leben einst im Ospedale Civico in Lugano begonnen hatte, eine junge Frau geworden sein.

Plötzlich drehte das Mädchen seinen Kopf, öffnete die Augen, und die leichte Krümmung des Mundes deutete Emilio Arigoni als Lächeln. Freude flackerte in ihm auf, die sogleich in Schmerz erstickte. Womöglich bildete er es sich nur ein, dass das Mädchen ihn nun mit seinen kleinen hellen Augen ansah. Und für einen Moment glaubte er, in diesen Augen die Zukunft schlummern zu sehen, die enttäuschten Erwartungen, das Wissen, das Urteil.

Die Hebamme kam um die Ecke. Auch für sie gehörte das Ritual des Hauswarts, sich nach Feierabend nach den Neugeborenen zu erkundigen, längst zum Alltag. «Es ist ein Junge», sagte sie und nickte ihm stolz zu, als hätte sie das Kind soeben selbst zur Welt gebracht. «Ein Junge», sagte er, nickte gedankenverloren zurück und ging.

Er verliess das Ospedale Civico, marschierte hangabwärts in Richtung See, dessen Ufer er gut zwanzig Minuten später erreichte. Die Gewohnheit führte ihn auf die Terrasse der Osteria, wo er sich unter den Kastanienbaum auf seinen Stammplatz setzte. Kurz darauf stellte ihm der Kellner sein Glas Merlot auf den Tisch, und wie immer wurde ihm ein Treuerabatt gewährt, indem die Menge Rotwein die Dezilitermarkierung um eine Fingerbreite überstieg.

Der aktuelle Jahrgang, der von den Rebhängen rund um den Luganersee stammte, hatte einen herben, etwas kantigen Geschmack, und gerade deshalb mochte Emilio Arigoni ihn, denn er trank sein allabendliches Glas nicht aus Genuss. Vielmehr war es ein Tropfen des Schmerzes, und während der Merlot Schluck für Schluck seine Kehle passierte, liess Emilio Arigoni seiner Zerrissenheit freien Lauf. Die halbe Stunde unter dem Kastanienbaum war seine rettende Insel in den Fluten der Melancholie. Es war die Zeit zwischen Arbeit und Familie, in der sich sein Schein verdunkelte, die Rast, in der sich die Härte erweichte, die er sich zugelegt hatte, damit er überlebte. Und was er dabei spürte, war Erlösung.

Heute war ein besonderer Tag. Angelina wurde achtzehn Jahre alt. Das wusste er. Er wusste, dass sie Angelina hiess. Und dass sie am 23. April 1921 geboren war. Dieses Wissen begleitete ihn jederzeit, viel mächtiger aber war das Unwissen. Für manche mochten achtzehn Jahre schnell vergehen. Für andere bestanden sie aus unendlich vielen Momenten.

Wenn er sich vorstellte, wie Angelina heute wohl aussah, dann wurde das Bild, das er sich von ihr machte, von jenem ihrer Mutter überlagert. Denn damals, in diesem verhängnisvollen Sommer, war Maria Ursula ungefähr so alt gewesen wie Angelina jetzt, und in seiner Erinnerung war sie nicht gealtert. Angelina war Maria Ursula. Das führte zum befremdenden Umstand, dass er seine Geliebte nicht mehr von seiner Tochter unterscheiden konnte. Er hatte sie, nachdem er beinahe ohnmächtig aus dem Amtsvormundschaftsbüro getaumelt war, nie mehr gesehen. Er hatte damals entschieden, sie und ihr noch ungeborenes Kind ins Unglück zu stürzen. Um seiner eigenen Familie ein ebensolches Unglück zu ersparen. Getreu dieser Entscheidung verhielt er sich nun seit achtzehn Jahren: Maria Ursula hatte nie etwas von ihm gehört, seine Familie hatte nie etwas von Maria Ursula gehört. Zu seinem einzigen Zeugen und zugleich Vertrauten war der Merlot geworden.

Manchmal nahm er aus dem Geheimfach seines Geldbeutels das Armband hervor. Ein rotes Band, die einzige greifbare Erinnerung, die er an sie hatte, ein kleines stummes Zeugnis für das kurze Glück, das dem langen Unglück vorausgegangen war. Einmal hatte er es in den See geworfen, ihm zugesehen, wie die Wellen es überspülten und das Wasser es ihm für immer wegnehmen wollte – im letzten Moment hatte er es verhindert. Denn ohne dieses Band gab es Maria Ursula nicht. Ohne dieses Band hatte er keine Tochter.

Wenn er es aber vor sich auf den Tisch legte, dann sah er es am Handgelenk des Zimmermädchens aus Obervaz, sah, wie sie ihn schüchtern begrüsste, unsicher den Fahrstuhl betrat und über diese Extravaganz der Moderne staunte. Galant nahm er ihr den Koffer ab, und dann, bestimmt ein bisschen wichtigtuerisch, als erforderte die Bedienung besonderes Geschick, setzte er den Fahrstuhl in Bewegung. Ein Ruckeln, ein Knall, Dunkelheit. Emilio Arigoni fragte sich oft, wessen Plan es gewesen war, den Fahrstuhl ausgerechnet in diesem Moment der langen Hotelgeschichte feststecken zu lassen. Gab es irgendeine Macht, die alles sorgsam einfädelte? Eben Vater eines Sohns geworden, hatte er in die Rekrutenschule nach Graubünden einrücken müssen. Und am Wochenende, während sich seine Kameraden der Zecherei hingaben, war er in Graubünden geblieben, um zusätzlich zum Sold ein wenig Geld zu verdienen. Er hatte das alles aus Pflichtschuldigkeit getan, gegenüber seinem Land und seiner Familie. Im Fahrstuhl allerdings, in dem Maria Ursula Eugster und Emilio Arigoni die folgenden Stunden verbrachten, hatte es keine Schweiz und keine junge Familie im Tessin gegeben. Sie war in diesem kleinen dunklen Raum nicht lange das Zimmermädchen geblieben und er nicht der Portier, und bald waren sie nicht mehr im Fahrstuhl eingesperrt gewesen, sondern hatten die Welt ausgesperrt.

Emilio Arigoni ergriff das Glas, nahm einen Schluck und lehnte sich zurück. Durch die niedrigen Wolken, die um den Monte Brè und den Monte San Salvatore zogen, brach das Abendrot, legte sich über den See und schaukelte mit dem Wellengang. Auf der Terrasse befanden sich keine weiteren Gäste, die Seepromenade war praktisch leer, allein die Möwen, die kreischend und mit eifrigem Flügelschlag über die Osteria flogen, sorgten hin und wieder für Hektik. Als ein Schiff vom Ufer stiess und gemächlich davonglitt, dachte er an seinen Vater, der einst über den Atlantik gesegelt und nach Amerika ausgewandert war und ihn ebenso im Stich gelassen hatte wie er seine Tochter. Wie bewältigte wohl sein Vater diese Flucht? Sass er ebenfalls Abend für Abend irgendwo am Fluss und nippte melancholisch an einem Whisky? Oder hatte er seine Vergangenheit auf der Überfahrt einfach von Bord geworfen? Er wusste es nicht. Er wusste so wenig über seinen Vater wie Angelina über ihren. Und während die Sonne hinter den Wolken verblich und sich das Tal verdunkelte, kam ihm ein ebenso einfacher wie ungeheurer Gedanke. Nur ein Gebirge trennte das Tessin von Graubünden. Kein Ozean. Eine Reise nach Obervaz war ein Tagesausflug, keine Abenteuerexpedition. Bald war Sommer, bald hatte er Ferien, und vielleicht täuschte er sich, vielleicht musste er dabei doch ein ganzes Meer von Sorgen durchqueren, vielleicht war das Unterfangen doch so abenteuerlich wie eine Entdeckungsfahrt, aber in diesem Augenblick war Emilio Arigoni entschlossen, nach langen Jahren der Stille seine Tochter zu suchen.

Er wartete, bis sich sein Puls beruhigt hatte. Er sah auf die Uhr. Er legte die erforderlichen Münzen auf den Tisch und trank aus.

Das Glas war leer, das Leben ging weiter.

Emilio Arigoni war ein anständiger Bürger. Ein guter Arbeiter. Nie klagend, nie untätig, nie krank. Er war seiner Frau ein guter Ehemann, verlässlich, fürsorglich, liebevoll. Und er war seinen Söhnen ein guter Vater, immer für sie da, immer aufmerksam und geduldig. Er war ein guter Mensch. Zu Hause warteten sie bereits auf ihn, also stand er auf und ging, und als er einige Minuten später vor seiner Haustür eintraf, war der Merlot vollständig aus seinem Kopf verschwunden.