Angelina Eugster (1921–2014)

Strassburg

1939

   

Am Tag, an dem sie Strassburg nach zweijährigem Aufenthalt wieder verliess, marschierte Luzia zum ersten Mal durch die Strassen und Gassen, über die Plätze und Brücken, doch die Stadt war gerade dabei, sich ihr eigenes Grab zu schaufeln und dem Untergang zuzusteuern.

Rastlos zogen die Leute ihre mit Koffern, Truhen und Säcken beladenen Handkarren hinter sich her in die Ungewissheit. Der Modehändler streifte den Puppen im Schaufenster die Kleider ab, der Kioskinhaber nahm die unbeschriebenen Postkarten von den Ständern, während der Confiseur seine Köstlichkeiten kostenlos auf der Strasse anbot. Die Restaurants verschlossen ihre Türen ebenso wie die Krämerläden und Kinos und Kanzleien, und überall nagelte man die Fenster zu. Um die Statue, die mitten auf einem grossen Platz stand, baute man eine Mauer aus Sandsäcken, und sogar das festungsähnliche Münster wurde verbarrikadiert, dessen Glocken Luzia täglich vernommen hatte wie eine Verheissung auf das wahre Strassburg.

Siegfried ging vorneweg, die achtzehn Schweizer Mädchen vom Guten Hirten trotteten hinterher, gefolgt von der Obersten Schwester, die mit ihrem strengen Wächterblick dafür sorgte, dass niemand in eine bereits verlassene Wohnung verschwand. Einem Trauerzug gleich zogen sie durch die Stadt, die sich selbst beisetzte. Doch zum ersten Mal seit langer Zeit, nach einer zermürbenden Gefangenschaft im Höllenreich vom Guten Hirten, fühlte sich Luzia nicht einsam. Ihre Einsamkeit verschmolz mit der Einsamkeit, die sich auf den Gesichtern aller Menschen abzeichnete, ihr persönliches Schicksal bettete sich in ein allgemeines ein, ihr Niedergang löste sich im Niedergang der ganzen Stadt auf. Sie nahm teil am Exodus eines ganzen Volks, und aus dieser gemeinsamen Flucht vor den Bomben Hitlers an ein noch unbekanntes Ziel schöpfte sie eine Hoffnung, die sie für immer verloren geglaubt hatte.

Es war der 1. September 1939. Am frühen Morgen hatte das Radio den Einmarsch der Deutschen in Polen verkündet. Wenige Stunden später waren die Gendarmen mit dem Evakuierungsbefehl angerückt: Sämtliche Einwohner Strassburgs hatten die Stadt unverzüglich und für unbestimmte Dauer zu verlassen. Pro Person war Gepäck von höchstens dreissig Kilogramm erlaubt, auf Empfehlung führte man Lebensmittelproviant für vier Tage mit. Tiere mussten zurückgelassen werden, das Verschliessen der Haustür war verboten. Jedem Arrondissement wurde ein Verladebahnhof zugewiesen, wo man sich gleichen Tags einfinden musste, um aus dem Grenzgebiet fortgeschafft zu werden.

Als die Schweizer Mädchen auf dem Bahnsteig ankamen, ging die Evakuierung unter den Anordnungen der Soldaten bereits zügig voran. Auf den Gleisen reihte sich Waggon an Waggon, dunkle, mit Kreide beschriebene und nummerierte Güterwaggons ohne Fenster, und die Menschen drängten sich demütig, als steckten sie schon mitten im Krieg, durch die geöffneten Schiebetüren, bis ein Soldat abwinkte und das Zeichen zur Abfahrt gab. Auf den Perrons wartete man, von Kisten und Leiterwagen umlagert, auf das Eintreffen der nächsten Sonderzüge, und was Luzia am meisten erstaunte, war die geisterhafte Stille, die in dem ganzen Aufbruch herrschte. Nur selten hörte man neben dem Verladen von Material und dem Kreischen der Zugräder ein Kind, das leise weinte. Die Flucht aus der Heimat schien für die Menschen auch eine Flucht in ihr Inneres zu sein.

Es war Lilith, die sich zu fragen traute, was alle schon lange gerne gewusst hätten: «Wohin werden wir gebracht?»

Siegfried, der seit seiner Ankunft in Strassburg sehr nervös wirkte, schwieg einige Sekunden, dann sagte er mit aufgesetzter Zuversicht: «Nach Hause. In Sicherheit.»

«In die Schweiz?», fragte Lilith.

Siegfried nickte. Er war offenbar bekümmert, und das jedenfalls musste man ihm zugutehalten. Er sorgte sich um seine Zöglinge, er hatte sie nie vergessen.

Aber die Schweiz war nicht Luzias Zuhause. Die Schweiz war das Spielfeld, auf dem man sie jahrelang herumgeschoben hatte, in die Beobachtungsanstalt, in die St. Josefsanstalt nach Grenchen, ins Sanatorium nach Arosa, ins St. Iddaheim nach Lütisburg, und sie hatte damals recht gehabt mit der Behauptung, rückwärtszählen sei unnütz, denn es gab keine Tage abzuzählen, nach deren Ablauf sie wieder heimkonnte, die Zeit verging offen in die Ewigkeit und verging doch nicht. Irgendwann brachte man sie ins Freiburgische zur Familie Bielmann, wo sie in Helene beinahe so etwas wie eine Mutter fand, und vielleicht war es genau das, was man nicht gerne sah. Man wollte gar nicht, dass sie eine Mutter hatte. Man wollte nicht, dass jemand sie mochte. Ein Mädchen wie sie verdiente keine Liebe. Also ging es weiter nach Menzingen in die kühlen Mauern des Marianums, weiter ins Erziehungsheim nach Richterswil, und dort war sie einmal ausgebüxt, nachts, mit einem Boot hinaus auf den Zürichsee, von Richterswil bis nach Wädenswil, eine Stunde Freiheit und Abenteuer, und diese eine Stunde, das war ihre Jugend gewesen. Zur Strafe schaffte man sie daraufhin ins Ausland nach Strassburg. Die zwei Jahre im Kloster vom Guten Hirten hatten sie endgültig aus der Welt entfernt. Rund um das Klosteranwesen gab es einen Wassergraben und eine Mauer mit Stacheldraht. Die gefallenen Mädchen wurden zu gefallenen Engeln. Das hatte sich zuerst wie ein Aufstieg angehört, aber das war es nicht, denn gefallene Engel wie Luzifer, so lernten sie, waren die Abtrünnigen, die aus dem Himmel Verbannten, die Antichristen. Alle Mädchen erhielten einen neuen Namen. Sie wurde zu Luzia. Von ihrer Familie durften sie nicht sprechen, überhaupt von ihrer Kindheit. Den ganzen Tag über beteten sie um Gnade oder nähten Herrenhemden mit der Tretmaschine, und Luzia haderte dabei nicht und sehnte sich nach nichts und niemandem, denn Luzia hatte keine Herkunft, keine Geschichte, keine Familie, Luzia schwieg, betete, arbeitete, schwieg.

Es wurde bereits dunkel, als ein Soldat den Schweizer Mädchen befahl, in einen Waggon zu steigen. Der Einstieg befand sich gut einen Meter über dem Boden, eine Treppe gab es keine, einigen Mädchen bereitete es Mühe, sich über die Schwelle zu ziehen. Als sich alle im Waggon befanden, schob der Soldat die Tür zu, und zum letzten Mal sah Luzia den Strassburger Himmel.

Völlige Dunkelheit. Es gab keine Sitze. Nach einer Weile liess man sich auf den Boden nieder. Es war hart und kalt. Der Waggon setzte sich in Bewegung. Das spürte sie, und durch einen feinen Spalt im Untergestell sah sie, wie das Land erst langsam, dann immer schneller vorbeizog, das Elsass, Frankreich noch und bald die Schweiz. Die Luft war so schlecht, dass ihr schwindlig zu werden begann. Dazu ratterte und knallte es – waren das bereits die Bomben des Krieges?

Plötzlich spürte sie eine Hand in der ihren, es musste die Hand eines anderen Mädchens sein, die Hand von Lilith, wie Olga hier hiess, von Magda oder Eva, sie wusste nicht von wem und wollte es nicht wissen, sie spürte einfach die Wärme und die Kraft, das Gefühl der Geborgenheit, an das sie sich gar nicht erinnern konnte, und sie drückte die Hand fest und wollte sie nie mehr loslassen.

Und sie spürte die Hand von Engelina, ihrer Grossmutter, sie hörte ihre Geschichten, Johann Friedrich heilt ein Pferd, Marianna erfindet die Glocke, Paul Fidel im Schwabenland, Franciscus und der Bär, sie hörte ihre helle Stimme, mit der sie an ihrem Bett sang, eine schöne traurige Melodie, und sie fühlte, dass sie ein Teil dieser Geschichten und dieser Musik war, und dass nichts sie davon lösen konnte.

Wer war sie?

Sie war nicht Luzia. Luzia war von Beginn weg tot gewesen, eine Maschine, ein Niemand. Doch ihre Stärke war es gewesen, dass sie ihr Schicksal ertrug. Luzia hatte sie gerettet.

Aber sie war auch nicht mehr Angelina. Denn Angelina war getötet worden von denjenigen, die ihr einst das Leben geschenkt hatten. Von ihrem Vater, der nie ihr Vater gewesen war. Von ihrer Mutter, die nicht mehr ihre Mutter war. Angelina hatte kein Zuhause mehr und keine Zukunft, man hatte sie sterben lassen.

Ihre Kindheit war vorbei, ihre Jugend verloren, jetzt war sie eine junge Frau, geboren am Tag, an dem der Krieg begann. Sie würde sich fortan Angèle nennen. In Strassburg hatte sie Französisch gelernt, und am Französischen mochte sie die Geschliffenheit und die Harmonie. In welcher Sprache sie die Geschichte von Angèle schrieb, war ihr egal, aber sie wollte sie selber schreiben. Sie wollte endlich im Mittelpunkt ihres Lebens stehen. Zufrieden, glücklich fast schloss sie die Augen und sah in der Dunkelheit die Sterne, sah den Grossen Wagen, sieben funkelnde Diamanten am unendlichen Firmament. Es waren die Sterne Graubündens und des alles überspannenden Alls.