Die Wahrheit zwischen den Farben
Kutschen donnerten über Paris' Asphalt, sodass der Staub wie Nebelschwaden über den Straßen waberte. Es war ein Tag im Sommer, der jedem anderen glich, und doch schien er besonders. Kein Wölkchen wagte es, die Perfektion des azurblauen Himmels zu stören. Über der Île de la Cité erhob sich Notre Dame wie eine Königin auf ihrem Thron, umringt von Bäumen, deren üppiges Grün ihrer grauen Fassade huldigte, während auf der Pont Neuf geschäftiges Treiben herrschte. Die Damen trugen ihre Kleider spazieren. Ihre Frisuren türmten sich auf ihren Köpfen wie Kunstwerke, gemeißelt aus Porzellan. Mit ihren Fächern wedelten sie sich eine Brise ins Gesicht, die sie an diesem heißen Tag gebrauchen konnten, bevor sie durch die Schnürung ihrer Kleider in Ohnmacht fielen.
Die Luft war geschwängert vom Hufschlag der Pferde, dem Knarren der Kutschen und den Gesprächen der Herrschaften. Unter ihnen, unter der Brücke, die wie eine Burgmauer über der Seine schwebte, verlief ein Weg am Quai de Conti. Dort spürte man nichts von dem Treiben über ihnen.
Boote ankerten am Steg, der unter dem Quai verlief, trieben träge in der Sonne und wurden von den Wellen des Flusses geschaukelt. Verliebte Pärchen schlenderten mit Blick auf die Île de la Cité, kicherten, während die leicht nach Fisch stinkende Luft besser roch als je zuvor.
Dort an der Seine, unter dem duftenden Blauregen, der die Wand zum Quai de Conti hinaufkletterte, saß ein Maler. Wie jeden Tag. Vom ersten Sonnenstrahl, der sich im Wasser spiegelte, bis zum letzten, der die Stadt mit rotgoldener Farbe übergoss. Stundenlang verharrte er, malte voller Leidenschaft mit einem steten Lächeln im Gesicht.
Trotz seiner Blindheit, erfreute er sich einer großen Beliebtheit bei Touristen und Herrschaften, die so manches Mal Porträts von sich anfertigen ließen. Nach getaner Arbeit bestaunten sie das Werk voller Entzücken, unterhielten sich noch einige Minuten mit dem Künstler und gaben ihm anschließend einige Centimes. Manchmal ließen gut betuchte Herrschaften auch mehrere Franc in die Mütze fallen.
Der Mann freute sich über jedes Klingeln, viel mehr aber noch über die Menschen, die mit ihm sprachen und seine Arbeit bewunderten. Was ihn jedoch gänzlich entzückte, war das Gefühl, wenn die Leute seine Malerei verstanden.
Für ihn war es eine Leidenschaft, Kunst zu erschaffen. Es erfüllte ihn. Gleichermaßen verlangte die Kunst nach ihm wie ein Säugling nach der Brust der Mutter. Doch das Schwere daran war das Missverständnis der Menschen und die immergleiche Frage, die ihn begleitete: Waren seine Bilder etwas wert, wenn die Menschen nicht verstanden, was er versuchte, ihnen zu sagen?
Viel zu oft hatte er gehört, wie der Maronen-Verkäufer sich darüber brüskiert hatte, dass ein Blinder nicht malen könne, besonders keine Porträts. Er nannte ihn einen Betrüger, Stümper und an ganz schlimmen Tagen sogar einen Wahnsinnigen.
Zwar war der Maler, der den ehrenwerten Namen Manuel Epiphane trug, blind, aber nicht unfähig, zu sehen. Und schon gar nicht war er taub. Er lauschte dem Flüstern des Windes und den Vögeln, die ihm regelmäßig einen Besuch abstatteten.
»Mein lieber Herr«, erklang eine Frauenstimme. »Ich habe nicht viel Geld, aber … würden Sie ein Porträt von mir anfertigen?«
Manuel blickte auf, der silberne Schein seiner Augen reflektierte das Sonnenlicht, während ein Lächeln auf seine Lippen trat. »Bitte.« Er deutete auf den Schemel vor ihm. »Wenn Sie kein Geld haben, müssen Sie mir keines geben. Kunst sollte auch für die sein, die es sich nicht leisten können.«
Zögerlich lächelte die Frau, nicht sicher, ob sie dieser Bitte Folge leisten sollte. Ihr graues Kleid, das sicherlich einst weiß gewesen war, war übersät von Flicken verschiedener Farben und Stoffe, die sie irgendwie hatte aufbringen können. Geld für ein neues Kleid war nie ausreichend gewesen. Sobald sie sich auf dem wackeligen Hocker niederließ, legte sie ihre Hände in den Schoß.
»Wie heißen Sie, meine Liebe?«, fragte Manuel, während er nach seinen Farben tastete. Vor die Schälchen geritzte Zeichen halfen ihm, sich zu orientieren.
Die Frau beobachtete ihn gebannt bei der Auswahl seiner Farben, noch immer irritiert, aber auch neugierig. »Sophie Madeleine«, sagte sie mit einem Klang in der Stimme, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen.
Manuel, der im Laufe seiner Kindheit blind geworden war, wusste sehr wohl, wie Menschen aussahen. Wie verschieden sie waren, welche Schönheit jeder einzelne besaß. Doch das wahre Ausmaß dieser Schönheit hatte er erst richtig sehen können, nachdem er erblindet war.
Mit einem Lächeln auf den Lippen lauschte er dem Star, der sich auf der Mauer über ihm niedergelassen hatte. Er hörte ihm so genau zu, dass das geschäftige Treiben zu einem Rauschen im Hintergrund verblasste.
»Wo leben Sie, Madame?«
»Oh«, flüsterte Sophie Madeleine und errötete. »In einem kleinen Appartement, zusammen mit meiner Mutter und meinen vier Kindern.«
»Vier Kinder«, wiederholte Manuel. Sein Gesicht erstrahlte. Er liebte Kinder, ihre Reinheit, ihre Unschuld.
»J-ja, Monsieur.«
Langsam entstand ein Bild in der Dunkelheit vor Manuels Augen. Wie er es entstehen ließ, war ein Geheimnis, das er nur mit der Leinwand teilte.
Er malte ein junges Gesicht mit roten Lippen und einer Stupsnase. Die Augen waren groß wie die eines Rehs. Ihre Haare glänzten und fielen lang über ihre Schulter, umspielten ihre Brust. Das Kleid, das sie trug, war weiß.
Ein Räuspern ertönte und ließ Manuel die Brauen heben. »Monsieur, ich möchte nicht unhöflich sein, aber wie gelingt es Ihnen, zu malen, wenn Sie doch … wenn Sie -«
»Obwohl ich blind bin?« Manuel lächelte. »Nun, das ist eine Sache der Übung, Madame.«
Die Frau blinzelte. »Monsieur, Sie haben mich falsch verstanden.« Sie nestelte an dem Stoff ihres Kleides. »Wie schaffen Sie es, mich zu malen? Sie können mich nicht sehen.«
Manuel führte den Pinsel unbeirrt weiter über das Papier. »Ich kann Sie sehr gut sehen, Madame. Nicht Ihr Äußeres, aber das ist nicht von Belang.« Er machte eine kurze Pause, überlegte, ob er ihr mehr offenbaren sollte. »Ich weiß, dass Sie jeden Tag vor dem Morgengrauen aus dem Haus verschwinden, während Ihre Kinder und Ihre Frau Mutter, die voller Gebrechen scheint, noch schlafen. Ihr Mann ist im Krieg gefallen, nicht?«
»Ja, woher -« Ein eisiger Schauer erfasste Sophie Madeleines vom Sommer erhitzten Körper. Der Wunsch, aufzuspringen und fortzurennen, erfasste sie. Aber sie blieb, mehr angewurzelt als aus freien Stücken.
»Sie bieten Ihre Dienste bei den Herrschaften an. Kochen, Kammerpflege.« Manuel färbte den Hintergrund des Porträts in eine goldene Farbe. »Wenn Sie dann einige Francs verdient haben, kaufen Sie einen Laib Brot, den Sie oft mit den Bettlern in den Straßen teilen. Den Rest heben Sie für Ihre Familie auf, ehe Sie in die Innenstadt laufen, um Schuhe zu putzen. Weitere wenige Francs, die Sie und Ihre Familie ernähren.«
Sophie Madeleines Kehle schnürte sich zu. Mit offenem Mund starrte sie auf den Maler, dessen Augen wahllos in ihren Höhlen umherirrten und doch so viel mehr zu sehen schienen als andere Menschen.
»Ich weiß, dass Sie sich rührend um ihre Frau Mama kümmern.« Manuel lachte verzückt. »Es ist mir immer eine Freude, Herrschaften wie Ihnen mit meiner Kunst zu beglücken. Ich treffe nicht oft auf Menschen, die wahre Schönheit beherbergen.«
Ein weiteres Mal errötete Sophie Madeleine.
Um sie herum hatte sich bereits eine Traube neugieriger Zuschauer versammelt. Verkäufer, aber auch reiche Herrschaften, die voller Staunen auf das Gemälde der Frau blickten, das so gar nicht aussah wie sie und dennoch seinen Reiz barg.
Ganz zum Ärgernis des Maronen-Verkäufers. »Humbug«, grunzte der. »So ein Betrüger! Und sieh dir an, wie sie ihm verfallen. Wie Ratten dem Käse.« Empört strich er über seinen Schnurrbart und schüttelte den Kopf.
Der Maler ignorierte die Gehässigkeiten des Verkäufers und präsentierte das Gemälde der Madame und den Zuschauern. Während die umstehenden Herrschaften Applaus spendeten, entglitt Sophie Madeleine ein Laut des Entzückens. Für einen Augenblick, flüchtig wie ein Augenaufschlag, war sie enttäuscht. Nicht, weil die Frau auf dem Gemälde nicht so aussah wie sie, sondern vielmehr, weil sie gern so aussehen würde. Lediglich in den Augen des jungen Mädchens, die sie entfernt an ihr kindliches Ich erinnerten, erkannte sie sich wieder. Aber sie hatte verstanden, was der Maler gesehen hatte.
Auf wackeligen Beinen sprang sie auf, nahm das Bild an sich und bedankte sich so inbrünstig wie noch nie zuvor. Nichts hatte sie zuletzt so sehr erfreuen können wie dieses Stück Kunst, das sie nun stolz in den Händen trug. Es schien, als durchdrangen die Sonnenstrahlen ihre Brust und stießen auf ihr Herz, das vor lauter Kummer und Leid verkümmert war.
»Danke«, sagte sie und gab trotzdem einen Großteil ihres hart verdienten Geldes dem Maler, der, so war sie sich sicher, es ebenfalls gut gebrauchen konnte.
»Ich danke Ihnen«, sagte der Maler, verbeugte sich und sandte ebenfalls einen leisen Dank gen Himmel aus.
Die Damen und Herren ignorierend, die hinter vorgehaltenen Händen und mit spitzen Zungen über sie sprachen, schritt sie die Treppen zur Brücke empor und verschwand wie ein Geist im grellen Sonnenlicht.
»Ein wirklich talentierter Künstler sind Sie«, ertönte die Stimme eines jungen Mannes.
Manuel sah auf, während er geschäftig seine Pinsel reinigte. »So?«
»Ein Maler, der es versteht, das Schöne aus dem Hässlichen hervorzubringen.«
Manuel legte die Utensilien beiseite. »Ist es das, was Ihrer Meinung nach die Kunst ausmacht?« Er fragte dies ohne jeglichen Vorwurf, vielmehr aus Interesse. Da er die Menschen nicht sehen konnte, verzehrte er sich nach dem, was sie in sich trugen.
Der Mann, der aus der gesunden Mittelschicht zu stammen schien, rückte seinen Zylinder zurecht und warf ein gewinnendes Lächeln in die Runde. Er sah, wie die Menschen um ihn herum an seinen Lippen klebten. Genau das war er gewohnt. Er besaß das wertvolle Talent, Menschen mit schmucken Worten, die reizvolle Versprechen bargen, zu beeinflussen.
»Gewiss«, sagte der Jungspund und reckte sein Kinn noch etwas mehr in die Höhe. »Die Kunst ist dafür da, uns Menschen zu erfreuen, mit Schönheit und Eleganz. Hässlichkeit gibt es genug auf der Welt.«
Manuel Epiphane lächelte, während seine Augen ins Leere blickten. »Natürlich«, sagte Manuel, der dem Jungen sicherlich beipflichten musste, wenn auch nicht vollständig. »Aber ist die Kunst nicht vielmehr ein Stück der Welt, mit der der Künstler andere sehend macht? Wie ein Spiegel, der der Gesellschaft vorgehalten wird, abseits von Schönheit und Eleganz, finden Sie nicht?«
Der junge Mann schob seine Hände in die Hosentasche und wippte vor und zurück. Er lachte, nicht aus Amüsement, vielmehr, um seine Überlegenheit hinauszuposaunen wie ein Hund, der immerzu kläffte, um seine Unsicherheit zu überspielen. »Kunst muss das Auge erfreuen.«
»Kunst muss echt sein«, entgegnete Manuel, der es gewohnt war, seine Wahrheit zu sprechen. Denn es gab viele Wahrheiten. Und jeder lebte eine andere.
Der Jüngling schnaubte, als er bemerkte, dass die Menschen um ihn herum zustimmend murmelten. »Dann zeigen Sie mir meine Wahrheit.«
Manuel richtete seinen leeren Blick in die Richtung, aus der die Stimme klang. Schneidend und eingeschnappt. »Ich ...«, begann er.
»Suchen Sie nach Ausflüchten, alter Mann?«
»Nein, gewiss nicht.«
Der Junge trat aus der Traube, die sich um sie gebildet hatte, und setzte sich auf den Hocker. »Malen Sie mich«, verlangte er in einem herrischen Tonfall, den er wohl besonders gegenüber Menschen anschlug, die ihm unterlegen waren.
Manuel zögerte. Seine Hand, die nach dem Pinsel greifen wollte, schwebte leicht zitternd in der Luft. Er hielt sich zurück, wobei er den Drang, zu malen, nicht unterdrücken konnte. Ebenso wenig wie die Wahrheit, die daraus hervorbrechen würde. Manuel ahnte, dass es dem Jungen nicht gefallen würde.
Von einem Gefühl des Mutes, einem Impuls durchzuckt, griff er nach dem Pinsel. Kaum hatte er ihn berührt, schmeckte Manuel die Verbitterung auf seiner Zunge, spürte den Schmerz, der sich wie ein Dorn mit jedem Schlag tiefer in sein Herz bohrte. Das waren nicht seine Empfindungen. Nun, vielleicht doch. Ein Teil von ihm empfand, was der Junge ihm Gegenüber mit dem Namen Baptiste empfand.
Auf Manuels innerer Leinwand erschien das Bild eines schlaksigen Kindes, das den Großteil seiner Kindheit im Dreck verbracht hatte, niedergeschlagen von anderen Kindern, die stärker, vielleicht sogar älter gewesen waren als er. Die Bilder erschienen ihm wie dispergierende Farben: Baptiste, der gelernt hatte, Menschen niederzumachen, bevor sie es wagten, sich über ihn zu stellen.
Sein Pinsel glitt über das Papier, das von der Wahrheit in Blau-, Braun- und Pfirsichtöne getränkt wurde.
Immer mehr Menschen versammelten sich um den blinden Maler, tuschelten, murmelten und leckten ihre vor Sensationslust trockenen Lippen. Was würde geschehen, wenn der Junge sein Porträt erblickte?
Als der Maler den Pinsel beiseitelegte, kehrte Stille ein, in der nur das Rauschen der Stadt zu hören war. Der Junge hob erwartungsvoll seine Brauen, ehe er sich eines Besseren besann, da er vergessen hatte, dass der Maler ihn nicht sehen konnte.
Manuel nahm das Bild von der Staffelei und erhob sich in der gebrechlichen Manier eines alten Mannes, um dem Jungen sein Bild zu überreichen.
Dieser riss den Mund auf, als er es erblickte. Erst vor Überraschung, dann aber formte Wut seine Augen zu Schlitzen und den Mund zu einer schmalen Linie. »Das ist Ihre Wahrheit über mich?«, presste er hervor und ballte die Hände zu Fäusten.
Die umstehenden Menschen begannen zu kichern, als sie das Bild eines Gesichts erblickten, das keines war. Man konnte Augen erahnen, eine Nase und einen Mund, dessen Winkel nach unten zeigten. Schwarz hatte sich mit dem blassen Ton seiner Haut vermischt. Es sah aus, als hätte der Maler aus Versehen über seine Konturen gewischt und alles verschmiert.
Manuel, der niemand bestimmtes ansah, nickte. Er öffnete den Mund, um dem Jungen seine Wahrheit zu offenbaren, die Wahrheit, die er gehört hatte, doch Baptiste war schneller. »Das ist nicht einmal Kunst.« Er spuckte die Worte zu Boden, direkt vor Manuels Füße, der im Anbetracht der Abneigung zurückzuckte. »Ich sollte Sie verklagen, damit Sie niemals wieder den Pinsel in die Hand nehmen dürfen.«
Baptiste riss ihm die Leinwand aus der Hand und zerschmetterte sie sogleich am Boden. Vor all den Zuschauern, die schockierte und belustigte Laute von sich gaben, trat er das Gemälde in den Staub, wie er es mit vielen schwächeren Kindern getan hatte – wie es viele starke Kinder mit ihm gemacht hatten.
Sein Zylinder, den er von seinem Vater geschenkt bekommen hatte, fiel in all seiner Rage zu Boden. Schnaubend hob er ihn auf, klopfte den Staub ab und stampfte ohne ein weiteres Wort davon.
»Ein Betrüger«, erhob sich die Stimme des Maronen-Verkäufers. »Ich habe es immer gewusst, immer gesagt.« Er lehnte sich zu der Dame vor, die er gerade bediente. »Ein Ketzer.«
Die Blase der Faszination, in der sich die neugierigen Zuschauer befunden hatten, platzte. Kopfschüttelnd und getrieben von Ekel entfernten sie sich, während sie dem Maler vorwurfsvolle Blicke zuwarfen. Schuld für ihre Enttäuschung war er.
Manuel stand da, vor dem zertretenen Abbild, das er nicht sehen konnte, und mit einem Herzen, das wie ein Anker in seine Brust sank, in die sich dieses Erlebnis hineingrub.
Er seufzte und setzte sich wieder. Es war nicht das erste Mal, dass jemand seine Kunst nicht verstanden hatte. Aber das erste Mal, dass ihm jemand mit so viel Abscheu begegnet war. Manuel versuchte, es als Kritik zu sehen. Kritik an seiner Kunst. Alle schimpften sie sich Kritiker, ob sie es verstanden oder nicht.
Derweil erfreute sich der Maronen-Verkäufer an seiner neugewonnenen Kundschaft. Mit einem strahlenden Lächeln füllte er die dampfenden Kastanien in eine Papiertüte und kassierte ab, während er den Sensationsdurst der Menschen mit seinen Geschichten über den blinden Maler stillte. »Wenn Sie mich fragen, ist er nicht einmal blind. Wie soll man denn blind malen können?« Er schnaubte, dass sein Schnurrbart erzitterte. »Wenn Sie mich fragen, meine Herrschaften, haben wir es hier mit einem Betrüger zu tun. Oder er hat seine Seele dem Teufel verkauft.«
Der Platz leerte sich langsam. Die Herrschaften führten ihre Spaziergänge fort, wobei sie dem Maler missgünstige Blicke zuwarfen.
Manuel konnte sie nicht sehen, aber er konnte sie spüren. Sie bohrten sich wie Dornen in seine Haut. Er versuchte, das Gefühl abzuschütteln und sich auf das Bild zu konzentrieren, das er zu malen begann.
Wie es schon oft geschehen war, verlor er sich in seiner Kunst. So bemerkte er erst spät, dass die Sonne keine rötlichen Flecken mehr in sein schwarzes Blickfeld warf; dass es nun vollkommen dunkel um ihn herum war.
Mit einem Seufzen erhob er sich. Sein Rücken schmerzte ihm und langsam spürte er den Hunger, den er mit einem Laib Brot stillen würde, allein in seiner Kammer, die ihm von einer alten, netten Dame vermietet wurde. Sie verlangte nichts dafür. Ihr reichten die wenigen Franc, die er am Monatsende gab, und manchmal verlangte sie, dass er sie porträtierte.
Wenn sie die Gemälde erblickte, gab sie immer ein leises Glucksen vor Entzückung von sich. »Ihre Kunst ist wirklich etwas ganz besonderes, Manuel, Sie sollten nicht auf einer schmuddeligen Straße malen. Sie sollten ein Atelier besitzen und Kunstwerke für große Herzöge und Fürsten erschaffen.«
Manuel lächelte dann immer. »Ich fürchte, sie würden sich nicht von einem Blinden porträtieren lassen. Sie haben einen Ruf zu verlieren.«
»Unsinn«, sagte die alte Dame.
Er aber widersprach ihr meist nicht mehr als einmal und gab sich ihren Träumen hin, die auch seine waren. Lächelnd klappte er seine Staffelei zusammen. Vielleicht hätte die alte Dame heute einen Teller Suppe für ihn. Er hatte seit Tagen nichts Warmes mehr gegessen.
Um ihn herum wurde die Stadt leiser. Weniger Kutschen donnerten über die Brücke, sodass er auch die Lieder der Vögel auf der anderen Seite hören konnte. Was er außerdem hören konnte, waren die vielen Schritte hinter ihm. Teure Schuhe klapperten die Stufen hinab, die von dem Lachen junger Herren begleitet wurden.
Einer fragte: »Ist er das?«
»Ja«, ertönte Baptistes vertraute Stimme.
Manuel wurde ganz anders.
Seine Hände begannen zu zittern und eine plötzliche Hektik ereilte ihn, in der er seine Pinsel und Farben in die Tasche stopfte.
Diese wurde ihm sogleich entrissen. Einer der Jungspunde, ein korpulenter Mann mit braunen Haaren, ließ sie vor seinen Augen baumeln. »Er sieht ja tatsächlich nichts«, stelle er amüsiert fest.
»Bitte«, krächzte Manuel, die Hände suchend nach der Tasche ausgestreckt. »Das ist alles, was ich besitze.« Und das war die Wahrheit. Manuel fürchtete nicht um seine eigene Unversehrtheit, vielmehr um die seiner Malutensilien. »Was wollt ihr von mir?« Seine Stimme brach im Angesicht der Angst, die ihn wie der Winterwind schüttelte. Vor seinen Augen erstreckte sich nichts als Schwärze.
Er konnte nicht sehen, dass er nun inmitten eines Kreises stand, gebildet aus fünf Halbstarken, die ihm körperlich überlegen waren. Nicht nur, weil sie sehen konnten, sondern auch, weil sie seinen gebrechlichen Körper ohne Mühe zu Boden schmettern könnten.
»Sie haben mich beleidigt«, sagte Baptiste nun.
Manuel wirbelte herum. Seine Augen erfassten das hübsche Gesicht des Jungen nicht, während seine Hände nach ihm suchten. »Das wollte ich nicht.« Manuels Stimme zitterte. »Ich wollte dich nur sehend machen.«
Baptiste schnaubte. »Ich kann sehen, alter, blinder Mann.« Mit jedem Wort trat Baptiste auf Manuel zu, der in seiner gekrümmten Haltung nach ihm tastete. »Das, was Sie betreiben, ist das Werk eines Stümpers. Es ist schlecht und hässlich. Niemand will hässliche Kunst. Niemand will Kunst von einem Blinden, der die Welt nicht sehen und auch nicht verstehen kann.«
»Ich …« Manuel zitterte am ganzen Leib. Ihm war bewusst, dass er allein war. »Ich verstehe -«
»Sie verstehen nichts«, sagte Baptiste und stieß Manuel zu Boden.
Dieser gab einen erschrockenen Laut von sich, als er seinen Halt verlor und seine Ellenbogen und Knie auf dem Kopfsteinpflaster aufschlugen. »Bitte«, krächzte er. Sein Mund war trocken. Er schluckte.
»Zeigen wir dem blinden Maler, wo sein Platz ist«, rief Baptiste.
Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, droschen Schuhe und Fäuste auf den Maler ein. Manuel kauerte sich wimmernd zusammen, die Beine schützend vor den Bauch gezogen, die Arme über den Kopf gelegt.
Ein Tritt traf ihn in den Rücken. Ihm entglitt ein Schmerzensschrei, der erstickte, als sich ein Fuß in seinen Magen bohrte. Er keuchte. Der nächste Tritt ging ins Gesicht und an den Hinterkopf. Die Nase knirschte, woraufhin warmes Blut zu Boden quoll.
Aufgewirbelter Staub kratzte in seiner Lunge. Inzwischen pochte sein gesamter Körper vor Schmerz.
Aber das, was noch schmerzhafter war, war sein Innerstes. In Anbetracht des Gelächters und der Beleidigungen, die er über sich ergehen lassen musste, zersplitterte sein Seelenleben wie hauchdünnes Glas.
»Er hat genug«, sagte Baptiste außer Atem und betrachtete zufrieden den am Boden kauernden Maler. Er beugte sich zu ihm hinab. »Ich hoffe, Sie haben Ihre Lektion gelernt. Sie sollten nie wieder einen Pinsel in die Hand nehmen.« Um sicherzustellen, dass Manuel seine Nachricht verinnerlichte, drückte er den Absatz seines Schuhs auf seine Finger.
Manuel stieß einen lauten Schmerzensschrei aus.
Die Jungen ließen von ihm ab. Triumphierend lachten sie, während sie die Treppen hinaufrannten und in der Dunkelheit der Stadt verschwanden.
Manuel lag da. Seine Muskeln bebten, das Blut tropfte von seiner Nase auf sein Kinn. Der metallische Geschmack breitete sich auf seiner Zunge aus, vermischt mit dem Staub, der an seiner Haut klebte.
Er wusste nicht, wie lange er dort lag, zitternd und nach Luft japsend. Doch nachdem sich ein letzter Rest Kraft in seinen Knien gesammelte hatte, stemmte er sich empor. Auf allen Vieren suchte er nach seinen Utensilien. Niemand half ihm. Dabei wusste er, dass um ihn herum noch vereinzelt Menschen standen, die alles mitbekommen haben mussten. Doch er war allein.
Nachdem die Steine seine Hose durchgescheuert hatten, gab er auf. Seine Staffelei war noch vorhanden, doch seine Mütze und das darin enthaltende Geld war verschwunden. Ebenso seine gesamten Malutensilien. Stöhnend, keuchend und hustend kam er auf die Füße. Er wankte und schleppte sich die Treppen empor.
»Ich habe es gesagt! Er ist ein Betrüger, das habe ich immer gesagt. Das hat er wohl verdient«, schnatterte der Maronen-Verkäufer zu niemand bestimmten und schüttelte immer wieder den Kopf. »Das musste ja mal geschehen.« Ohne Scham gestand er sich selbst ein, dass er sich am Unglück des Malers weidete. Es war ihm ein Genuss. Endlich sahen sie, was er gesehen hatte.
»Mon dieu, Manuel, was ist Ihnen zugestoßen?« Madame Bernard schlug eine Hand vor ihr vom Alter zerknittertes Gesicht. Sie trug bereits ihr Nachthemd, das beinahe so weiß wie ihre Haut selbst war. Sie hielt eine Kerze vor Manuels aufgeplatztes Gesicht, der sich unter großer Anstrengung in seine Kammer geschleppt hatte.
Amélie Bernard war von dem Poltern und dem Stöhnen geweckt worden, sodass sie aus ihrem Bett geschlüpft war, um nach dem Rechten zu sehen. Normalerweise schämte sie sich für ihre neugierige Art, die sie so manches Mal an ihr Fenster trieb, wenn sich ihre Nachbarn wieder stritten. In ihrem Leben geschah so wenig, über das sie sich erfreuen konnte, also ergötzte sie sich an den Dramen anderer, froh darüber, dass es nicht ihre waren. Nun aber war sie dankbar, dass ihre Neugierde sie umgetrieben hatte. Eilig huschte sie in die Küche, wo sie warmes Wasser in eine Schüssel füllte. Damit eilte sie zurück in Manuels Kammer. Sie stellte die Schale auf den Waschtisch mit dem aufgeplatzten Furnier, ehe sie herumwuselte. Eilig schob sie aneinander gestapelte Leinwände von der kleinen Kommode, um saubere Tücher herauszunehmen.
Manuel hatte sich bereits auf das klapprige Bett gelegt. Vollkommen erschöpft rang er nach Luft. Jede Bewegung schmerzte und die Wunden in seinem Gesicht, besonders die Nase, pochten.
»Was ist geschehen?«, fragte Madame Bernard und half Manuel, sich aufzusetzen, damit sie ihm das getrocknete Blut von Gesicht und Händen wischen konnte.
Manuel öffnete den Mund. Er rang nach Worten, nun aber vielmehr nach Luft. War es noch von Belang, ihr davon zu erzählen und sie zusätzlich zu ängstigen?
Doch beim Blick der Wunden, änderte Madame Bernard ihre Frage: »Wer hat Ihnen das angetan?« Sie sah erschüttert drein, die braunen Augen schimmerten wässrig im Kerzenschein, der ihre Falten noch tiefer wirken ließ.
»Ein paar Kinder, junge Burschen, die sich beweisen wollten.«
Madame Bernard sprang schnaufend auf, wobei sie fast die Kerze vom Schränkchen fegte. »Unerhört. Sich an einem alten, blinden Mann messen, der keinem etwas zuleide tut.«
»Das ist nicht ganz wahr«, sagte Manuel und zuckte zurück, als Madame Bernard etwas zu fest über seine Nase tupfte. Sie war inzwischen so geschwollen, dass die Haut spannte.
»Wie meinen Sie das?« Madame Bernard runzelte die Stirn. »Können Sie überhaupt einer Fliege den Flügel krümmen?«
»Da ich sie nicht sehe, fürchte ich nicht.« Manuel rang sich ein Lächeln ab, versagte allerdings kläglich. Madame Bernard brummte etwas, während sie die Tücher in der Schale auswusch, und Manuel fuhr fort. »Ich habe einen der Burschen mit meiner Kunst beleidigt.«
Madame Bernard hielt in ihrer Bewegung inne und sah Manuel an. Ihr Schweigen deutete Manuel als Anweisung, fortzufahren. »Ich habe ihn porträtiert und es hat ihm nicht gefallen.«
»Kunst ist nicht immer bequem. Das soll sie auch nicht sein. Sie soll unbequem sein, das Innere nach außen kehren, das Hässliche sichtbar machen, auf dass wir Menschen unsere Fehler erkennen und für sie geradestehen.« Madame Bernard schüttelte den Kopf. »Das ist das Privileg der Reichen. Sie möchten nur die Schönheit betrachten. Etwas, das ihnen Honig ums Maul schmiert und nicht kritisch ist.« Sie lachte. »Für sie soll die Kunst wohl wie eine Frau sein. Hübsch und am besten still. Den Mund soll sie halten und nichts in Frage stellen!«
»Nun, es sind ja nicht alle so«, entgegnete Manuel beschwichtigend.
Madame Bernard lachte laut aus. »Ich bin eine alleinstehende Frau, die es sich nicht hat nehmen lassen, ihre Wahrheit zu sprechen. Nun sehen Sie, was aus mir geworden ist.«
»Sie sind nicht allein.«
Madame Bernard wischte getrockneten Staub von Manuels Wange. »Ich wäre lieber allein, als ein Leben mit verschlossenem Mund zu führen.«
»Das verstehe ich.« Manuel lächelte schwach. In dieser Beziehung waren sie sich ähnlich.
Nachdem Madame Bernard Manuels Wunden versorgt und ihm ins Bett geholfen hatte, strich sie sich eine Strähne ihres weißen Haares aus der Stirn und sah sich um.
Sie suchte etwas in dieser kleinen Kammer, in der hunderte Augenpaare auf sie blickten. Die meisten davon gehörten ihr. Unzählige Gemälde lehnten an Tischbeinen, Wänden, der kleinen Kommode. Ihre Porträts, die sie hatte anfertigen lassen. Abbildungen, die sie zu verschiedenen Zeitpunkten zeigten, an verschiedenen Tagen, nach verschiedenen Taten. Taten, die sie älter aussehen ließen, dann wieder jünger, hübscher und unansehnlicher. »Wo sind denn Ihre Malutensilien? Die Pinsel, die Farbe?«
Der Dorn in Manuels Herzmuskel bohrte sich noch etwas tiefer hinein. Er stöhnte auf, die Hand auf seine Brust gepresst. »Die Burschen haben es von mir genommen. Sie wollen, dass ich aufhöre, zu malen.«
Madame Bernard, die ihre Wut nicht im Zaum zu halten wusste, fuchtelte mit den Händen in der Luft. »Und?«, fragte sie. »Hören Sie auf?«
Manuel wandte seinen Kopf in die Richtung, aus der ihre Stimme ertönte. »Auch wenn ich wollte, könnte ich nicht.«
Madame Bernard lächelte. »Ruhen Sie sich erst einmal aus.«
Manuel nickte. Seine Lider waren schwer, sodass sie immer wieder zufielen. Er hörte noch, wie sich die Tür schloss, ehe er in vollkommener Stille badete. Sein Körper sank in die harte Matratze, schwer wie ein Stein.
Nachdem er am nächsten Morgen erwachte und sich – so gut es für seinen Zustand möglich war – seiner Morgentoilette widmete, trat er auf einen Stock gestützt aus der Kammer, ehe ihm etwas vor die Füße fiel. Es war ein Stoffbeutel.
Manuel bückte sich, langsam und wankend. Mit einem angestrengten Schnauben richtete er sich auf, um den Beutel zu öffnen. Aufregung überkam ihn, als er an der Kordel zupfte, seine Hand hineintauchte und Pinsel erfühlte. Dann ertastete er Farbpaletten. Augenblicklich hüpfte sein Herz gegen seine Rippen.
»Freuen Sie sich?«, fragte Madame Bernard. Sie stand in dem schmalen Flur im Türbogen, der in die Küche führte.
Manuel wandte seinen Kopf etwas in ihre Richtung. Seine silbernen Augen suchten nach ihrer Stimme. »Ja«, sagte er heiser. »Aber ich fürchte, ich kann es nicht annehmen, so edel diese Geste auch sein mag. Ich kann nicht verlangen, dass -«
»Unsinn«, unterbrach Madame Bernard ihn, trat auf ihn zu und umfasste seine zerkratzten, zitternden Hände. Bestimmt drückte sie seine Finger um den Beutel. »Sie sagen, Sie können nicht aufhören, dann können Sie dieses Geschenk auch nicht ablehnen.«
Tränen der Rührung fluteten Manuels Augen, während ein breites Lächeln sein ramponiertes Gesicht grotesk verzog. »Danke.«
Madame Bernard lächelte, tätschelte seine Hände, ehe sie an ihm vorbei die Treppen emporschlich. Sie mochte diesen Mann und manchmal hatte sie das Bedürfnis, ihn an sich zu drücken, wie es Mütter mit ihren Söhnen taten. Sie hatte nie die Gelegenheit gehabt, Kinder zu bekommen. Aber wenn sie es sich aussuchen könnte, hätte sie Manuel als ihren Sohn erwählt.
Mehrere Wochen ließ Manuel Epiphane sich nicht blicken. Ganz zur Freude des Maronen-Verkäufers, der sich – nun, da der Maler fort war – an einem blühenden Geschäft erfreute. Vergessen war der Frust und Ärger über diesen Stümper, diesen Betrüger, der die Leute mit seiner Kunst beleidigte und ausnahm. Der Verkäufer schnaubte bei diesem Gedanken. Nicht einen Cent hätte er für dieses miserable Werk gegeben. Allgemein machte sich der Maronen-Verkäufer nicht viel aus Kunst. Nicht mehr. Aber er liebte es, über sie zu urteilen.
Doch als er nun von seinen duftenden Maronen aufsah und zur Treppe blickte, durchfuhr ihn ein Blitz. Der Maler humpelte die Stufen hinab. Grüne und blaue Flecken in seinem Gesicht zeugten von dem Ereignis, das ihn – zum Bedauern des Verkäufers – nicht vollständig vertrieben hatte.
Schnaufend zwirbelte er die Spitze seines Schnurrbarts. »Unerhört«, presste er hervor.
Als der Maler dann auch noch seine Staffelei und die Malutensilien auf seinem Stammplatz unter dem Blauregen ausbreitete und zwischendurch sein Gesicht der Sonne entgegenreckte, mit einem genüsslichen Lächeln auf den Lippen, war es um die Geduld des Verkäufers geschehen.
Wut und Empörung wallten in ihm auf wie das Meer im Norden Frankreichs. Er stampfte auf den Maler zu.
Der hörte ihn kommen und sah auf. Der leere Blick irgendwo zwischen dem Kopf des Verkäufers und dem strahlend blauen Himmel. »Eine Unverschämtheit«, bellte dieser. »Dass Sie sich wieder hierher trauen. Und da -« Er deutete auf den Beutel, wobei ihm kurze Zeit später bewusst wurde, dass der Maler nicht sehen konnte, wohin er zeigte. »Das Geld, das sie von ahnungslosen Leuten ergaunert haben, hat für neue Malutensilien gereicht, nicht wahr?!«
Der Maler ließ sich auf seinem Hocker nieder, während er eine Leinwand auf der Staffelei platzierte. »Es war ein Geschenk«, sagte er. »Ich ergaunere kein Geld. Den Herrschaften steht es frei, mich zu bezahlen. Ich tue nur, was ich liebe.«
Der Verkäufer schnaubte. »Sie tun nur, was Sie lieben. Aber es hat keinen Wert.« Er gestikulierte. »Es gibt Menschen, die nicht lieben, was sie tun. Dennoch erschaffen sie Wertvolleres als ein stümperhafter Maler wie Sie.« Der Verkäufer war völlig außer sich und schnappte nach Luft. »Maurer, ja, Maurer bauen Häuser … Brücken, Straßen! Andere erschaffen Gärten und wieder andere erfinden Dinge, die der Menschheit noch in Jahrhunderten dienen werden.«
Der Maler begann, seine Farben an den Kerben zu erfühlen und sie zu mischen. »Es ist wahr, ich erschaffe keinen Wert, wie es ein Maurer oder Erfinder täte, aber dennoch hinterlasse ich etwas für die Menschen, auch wenn es nicht mehr ist, als ein Lächeln auf ihren Lippen.«
»Andere erzürnen Sie aber mit dem, was Sie machen.«
Manuel hob die Schultern. »Das ist der Preis der Wahrheit.«
Der Verkäufer ballte die Hände zu Fäusten. Er echauffierte sich so sehr, dass ein Geräusch aus seinem Hals drang, das wie das erstickte Wiehern eines Gauls klang. »Was wissen Sie schon über die Wahrheit?«, blaffte er.
Manuel lächelte, blickte auf die Stelle, an der er den Verkäufer vermutete. »Darf ich Sie malen?«
Der Verkäufer zögerte. Er war viel zu stolz, um sich auf dieses Angebot einzulassen, doch dann dachte er darüber nach. Es könnte eine Gelegenheit sein, in der er dem Maler endgültig sagen könnte, dass er aufhören sollte. Dass er schlecht war, ein Stümper, ein Betrüger. »Nun gut, malen Sie mich nur.«
Wie ein Kind, das nicht bekam, was es wollte, ließ er sich auf den Hocker fallen, mit verschränkten Armen und zusammengepressten Lippen. In derselben Sekunde fragte er sich, warum er das eigentlich tat, da der Maler ihn ohnehin nicht sehen konnte. Aber er behielt seine Gedanken für sich. Mit einem Lächeln versicherte er sich selbst, dass er Recht hatte; dass er dem Maler einen Schritt voraus und somit überlegen war. Der Verkäufer war so vertieft in seine wirbelnden Gedanken, dass er nicht einmal den Falken bemerkte, der hoch oben über seinem Kopf kreiste und seine Schreie ausstieß.
Manuel ließ den Pinsel über das Papier gleiten. Es fühlte sich richtig an, jeder Strich schien ihm recht. Er sah den Verkäufer vor sich, mit einem vor Wut verzerrtem Gesicht, wie Manuel es oft von seinem Vater kannte. Er malte tiefe Falten, zornig funkelnde Augen und einen weit aufgerissenen Mund. Er kannte nun die Geschichte des Mannes. Sie war traurig, beinahe tragisch. Die Geschichte eines Jungen, der schon früh lernte, sich dem Willen anderer zu fügen. Dem seiner Eltern, seiner Freunde, seiner Gelehrten. Der Kern, der in jedem Menschen schön war und einer zarten Blume glich, blieb Manuel größtenteils verborgen. Das Einzige, das er erfuhr, war, was der Verkäufer sich bereits in frühen Kindertagen gewünscht hatte. »Ihr Name ist François«, sagte Manuel.
Er konnte nicht sehen, wie sich die Augen des Verkäufers weiteten. Er riss den Mund auf, um den Maler zu fragen, woher er das wusste, da er sich zu gut daran erinnerte, dass sie sich einander nie vorgestellt hatten. Doch ehe er seine Überraschung preisgab, schloss er den Mund. Er war ein Betrüger und Betrüger hatten ihre Mittel und Wege.
Manuel fuhr fort. »Und Sie wollten früher ebenso Künstler werden.«
Es waren keine Fragen, es waren Feststellungen, über die sich der Maler mehr als sicher schien. Das Schockierende für François war, dass sie stimmten. Woher wusste er das? Wie hatte er dieses gut behütete Geheimnis zutage fördern können? Der Verkäufer war das erste Mal in seinem Leben sprachlos. Und noch viel mehr als das: Ein kalter Schauer erfasste ihn. Jegliche Farbe schwand aus seinem Gesicht.
Manuel ließ sich nicht verunsichern, malte Pinselstrich um Pinselstrich, bis das Werk vollendet und der Falke am Himmel verschwunden war. Wie bei jedem Porträt oder Gemälde, das er gemalt hatte, spannte sich ein Lächeln über seine Lippen. Mit bescheidenem Stolz wandte er dem Verkäufer sein Abbild zu.
Hätte François nicht gesessen, wäre er in die Knie gegangen. Das, was dieser Mann auf einer Leinwand erschaffen hatte, war in all seiner Hässlichkeit von überragender Schönheit. Es sollte hässlich sein. Er, der Verkäufer, sollte hässlich sein. Und das war er, mit all seiner Wut und dem Hass gegenüber der Welt, die so unfair zu ihm gewesen war.
In Sekundenschnelle wechselte seine Ehrfurcht in Verletztheit, die in ebendiese hässliche Wut umschlug, die ihn so unverhohlen anstarrte, dass er glaubte, von sich selbst angeschrien zu werden. Dabei sah das Abbild des Mannes nicht so aus wie er. Vielmehr war es ein abstraktes Bild von dem, was er war. Ein gescheiterter Künstler in der Haut eines Maronen-Verkäufers.
Durch die Tatsache, dass der Maler im Stande gewesen war, genau diese Wahrheit zu sehen, mischte sich blaue, kalte Angst in das Rot, das in ihm brodelte.
François erhob sich, sodass der Hocker hinter ihm umstürzte. Seine Hände zitterten. »Sie sind ein Ketzer«, flüsterte er. »Sie sind der Teufel!«, schrie er und zog damit die Aufmerksamkeit aller Umstehenden auf sich.
Manuel starrte ihn mit silbrigen Augen an. Unschuldig. Doch François sah, was er sehen wollte: eine seelenlose Hülle. Nun glaubte er, zu verstehen, wie der Maler wissen konnte. Nun glaubte er, zu verstehen, dass der Maler durchaus nicht blind war.
Seine Hand zitterte, als er mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Manuel deutete. »Ich weiß, wer Sie sind! Ich weiß, was Sie tun!«
Manuel runzelte verwirrt die Stirn. »Ich verstehe nicht -«
»Das muss ein Ende haben«, flüsterte François und sah sich um, als suchte er nach etwas, das ihm helfen konnte. »Ich werde dafür Sorge tragen, dass es ein Ende haben wird. Ich werde dafür sorgen, dass Sie ein Ende haben werden.« François stolperte zurück.
Manuel zuckte zurück. Er hatte nicht erwartet, dass der Verkäufer es verstand. Doch wie bei dem Jungen vor ein paar Wochen, hatte er nicht mit dieser Reaktion gerechnet. Töricht strafte er sich, denn er hätte wissen müssen, dass er sich Feinde machte, wenn er die Wahrheit offenbarte.
Manuel ließ das Gemälde sinken und wandte den Blick zu Boden. Schmerz flutete seine Brust. Er wollte den Menschen nicht wehtun. Er wollte sie nicht erzürnen, aber die Kunst, seine Kunst, ließ es nicht zu, dass er die Wahrheit in ein schönes Gewand kleidete und sie entfremdete.
Es war wie mit den Männern und Frauen in dieser Gesellschaft. Es war nicht von Belang, wie viel Puder sie in ihr Gesicht tupften und wie viel Parfum sie trugen, am Ende des Tages blieben ihre Gesichter, wie sie waren - und am Ende des Tages stanken sie.
»Es tut mir leid, wenn Sie das so sehen. Ich habe nur gemalt, was mir Ihre Geschichte gezeigt hat.«
»Nein, Sie haben gemalt, was der Teufel Ihnen zugeflüstert hat«, gab François zurück.
Manuel hob die Hände. »Ich bin ein gottesfürchtiger Mann.« In ihm brodelte Angst. Noch nie hatte ihm jemand unterstellt, mit dem Teufel unter einer Decke zu stecken. Er verspürte den Drang, François zur Vernunft zu bringen.
Der wich allerdings zurück. »Bleiben Sie fern von mir.« Mit diesen Worten wandte er sich um und verschwand. Er hatte bereits einen Plan gefasst, den er noch heute Abend in die Tat umsetzen würde.
Manuel blieb zurück. Ahnungslos, während die Gedanken in seinem Kopf umherflatterten wie vom Wind aufgepeitschte Blätter.
Um wieder klar denken zu können, widmete er sich seiner Leinwand. Zwar trieb sich die Angst in ihm um, aber er wollte nicht zurückweichen.
Die Zeit verstrich und Herrschaften, die nichts von dem Drama um Manuel mitbekommen hatten, baten um Porträts. Manuel war froh darum, dass sie entzückt waren von seinem Schaffen. Wobei der Gedanke weniger tröstlich war, wenn er bedachte, dass es sich meist um »schöne« Abbildungen handelte.
Unweigerlich fragte er sich, ob die Menschen die Wahrheit nur dann akzeptierten, wenn sie in ihren Augen schön war. Wenn sie nicht unangenehm wie ein Dorn im Fuß stach. War er nur ein Künstler, wenn er etwas Schönes schaffte? War er nur dann akzeptabel?
Manuel zerbrach sich bis zur Dämmerung den Kopf darüber, wobei er beinahe zu dem Schluss kam, dass er vielleicht tatsächlich kein Künstler war. Vielleicht hatten der junge Bursche und der Verkäufer recht. Vielleicht war er ein Stümper, ein Betrüger, kein Künstler. Und vielleicht war es doch der Teufel, der ihm zuflüsterte. Kannte er nicht einmal die Wahrheit um sein eigenes Geheimnis?
Der Maronen-Verkäufer kam nicht mehr zurück, auch nicht, als Manuel nach Sonnenuntergang seine Utensilien zusammenpackte und den Heimweg antrat.
Er spazierte durch die ruhigen Gassen Paris', wie er es immer tat. Ein ihm vertrauter Weg, den er schon so lange beschritt, dass er jeden Stolperstein und jeden Bettler kannte. Und doch war es nie dasselbe, wenn er spazieren ging. Etwas an seiner Umgebung fühlte sich immer anders an, roch anders, klang anders.
Und heute fühlten sich die Wände nicht mehr rau, sondern scharf an. Heute roch es nicht nach süßen oder deftigen Speisen, sondern nach Urin und Abfall. Heute hörte er keinen Vogel, der ihn auf seinem Weg begleitete – normalerweise war es die Drossel. Heute hörte er Streitgespräche und ersticktes Weinen hinter Mauern, die über seinem Kopf emporragten.
Mit einem schweren Gewicht auf den Schultern, schleppte er sich über das Kopfsteinpflaster nach Hause. Dort konnte ihn nicht einmal der Duft der Rosen erfreuen, die Madame Bernard vor dem Haus hegte und pflegte.
Er öffnete die Tür und spürte seine Niedergeschlagenheit in jedem seiner Knochen.
»Guten Abend, Manuel«, begrüßte Madame Bernard ihn aus der Küche. Es roch nach einer würzigen Suppe.
Manuels Magen verzog sich. »Guten Abend.«
»Sie klingen niedergeschlagen«, sagte Madame Bernard, die nun im Türrahmen stand, um Manuel zu begutachten. Dabei wallte in ihr ein Gefühl von Angst auf, dass er wieder geschlagen worden war.
»Mir geht es gut«, leugnete Manuel, dem der Sinn nicht danach stand, seinen Kummer mit Madame Bernard zu teilen, auch wenn sie eine hervorragende Zuhörerin war.
»Warum gehen Sie noch hinaus, um zu malen?«, fragte die Dame. »Ich kenne viele Leute, die sich hier von Ihnen porträtieren lassen würden? Es ist zu gefährlich, immer wieder zum selben Platz zu gehen.« Madame Bernard wusste, wo er malte, und dass er seinen Platz seit zehn Jahren nicht gewechselt hatte. Seine Blindheit brauchte Gewohnheit, Vertrautheit.
Manuel stand vor seiner Kammer, den Schlüssel in seinen Händen drehend. »Ich male nicht gern in geschlossenen Räumen«, sagte er. »Gute Nacht.«
»Wollen Sie nicht essen?«
»Nein, danke.«
Am anderen Ende des Arrondissements, eilte François der Maronen-Verkäufer mit dem Gemälde in der Hand zum Haus des jungen Burschen. Es hatte nicht lange gedauert, bis er kundig gemacht hatte, wer dieser Junge war und wo er wohnte. Sein Vater war ein – für den Mittelstand – bekannter Mann, der ebenso überzeugend klingen konnte wie sein Sohn, ein aufsteigender Kaufmann, der es sicherlich bald in die obere Schicht schaffen würde.
François eilte die Straßen entlang, auf denen hie und da eine Kutsche an ihm vorbeirauschte. Die Hufe der Pferde hallten in den labyrinthartigen Reihen der Stadt wider. Der Verkäufer passierte ein paar Bettler, die nach etwas Geld oder Brot fragten, ignorierte sie aber, ehe er die Treppen zu dem Wohnhaus erklomm. Eine grüne Tür mit goldenem Knauf in der Mitte ragte vor ihm empor. Kurz bevor er anklopfen wollte, löste sich eine Silhouette aus dem Schatten.
»Ich kenne Sie doch«, hörte er die bekannte Stimme des jungen Burschen. Er stand nun vor ihm, die Brauen gehoben, einen fordernden Ausdruck auf dem Gesicht. »Sie sind doch der Maronen-Verkäufer an der Seine.«
»Korrekt, mein Junge«, sagte François und nickte, seine Hände umklammerten das Bild. Er stand nun oben, während der Junge unten an der Treppe verweilte und hinaufblickte.
»Warum kommen Sie her?« Misstrauisch musterte der Jüngling ihn.
»Ich …« François blickte auf das Porträt hinab, das ihm wieder eine Gänsehaut bescherte. »Der Maler, den Ihr verscheucht hattet, ist wieder da.« Damit drehte er das Bild herum. »Er ist ein Ketzer. Ich bin mir sicher, dass der Teufel ihm ins Ohr flüstert.«
Die Augen des Jungen weiteten sich, während er einige Stufen erklomm, um das Gemälde in Augenschein zu nehmen. Dann verwandelte sich das junge Gesicht in eine zornige Maske, die sehr dem Gesicht ähnelte, das er gerade ansah. »Der Teufel?«
»Wir müssen ihm das Handwerk legen«, forderte François, der versuchte, seinen Zorn zu dämpfen.
Der Junge schob eine geballte Faust in die Hosentasche und mahlte mit dem Kiefer. Er glaubte nicht wirklich, dass der Teufel sich einem unbedeutenden Künstler widmete. Er glaubte auch nicht, dass diese Werke die Werke des Teufels waren. Aber er wusste, dass das ein Weg war, um dem Maler endgültig die Hände zu binden. »Dann werden wir uns dieser Aufgabe widmen.« Baptiste grinste.
Manuel lag seit Stunden auf der harten Matratze. Wenn er es könnte, würde er nun an die Decke starren, wie es viele Menschen taten, die mit Augenlicht gesegnet waren. Was würde er dafür geben, die Decke sehen zu können. Und doch tat er genau dasselbe. Er starrte, während vor seinen Augen die Dunkelheit residierte.
Seit Stunden plagten ihn Zweifel, die ihn wie eine schlimme Krankheit befallen hatten und sich rasch ausbreiteten. War er wirklich ein Künstler, wenn er Menschen erzürnte?
»Oder ist nicht vielmehr die Frage, ob ich überhaupt einer wäre, wenn ich es nicht täte?«, rief er aus. »Und wenn ich nun die Menschen erzürne, wäre ich denn wirklich ein Künstler, wenn ich mich verstecken und aufhören würde?«
»Nein.«
Madame Bernards Stimme ließ Manuel hochfahren. Seine Hände an das hämmernde Herz gepresst, glitt sein blinder Blick in ihre Richtung. Sie war noch einmal hergekommen, um nach ihm zu sehen, und stand nun in der geöffneten Tür. »Nein, Sie wären ein Feigling, wenn sie das täten«, sagte die alte Dame bestimmt. »Würde ein jeder sein Leben danach ausrichten, was anderen gefällt, so würden wir gar nicht erst dazu kommen, zu leben. Und genauso ist es mit der Kunst. Wenn Sie anfangen, die Bedürfnisse der Menschen mit Ihrer Kunst befriedigen zu wollen, haben Sie aufgehört, Kunst zu erschaffen.«
Manuel öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, doch die Worte kamen ihm noch auf der Zunge abhanden.
»Manuel, Sie sind ein begabter Künstler, hören Sie nicht auf, Ihre Wahrheit zu malen, weil es anderen nicht passt.«
In Manuel erblühte etwas, eine Rose, die unter dem Hass verkümmert war. Ein Lächeln umspielte seine schmalen Lippen. Die Falten in seinem Gesicht gewannen an Tiefe. »Ich danke Ihnen, Madame Bernard.«
»Nein, ich danke Ihnen, dass Sie die Welt mit Ihrer Begabung bereichern. Gute Nacht.« Damit verließ Madame Bernard das Zimmer und Manuel fand endlich seinen Schlaf.
Am nächsten Morgen war er schon früh auf den Beinen. Noch bevor die ersten Sonnenstrahlen ihr goldenes Licht durch die verschlafenen Straßen Paris‘ schickten, saß Manuel Epiphane an seinem Platz.
Zwar konnte er die Schönheit des Morgens nicht sehen, aber er konnte sie hören.
Die Vögel, die ihre fröhlichen Lieder sangen, um den Tag zu begrüßen. Das Flüstern der Seine. Das Rauschen einer Stadt, die erwachte. Und er konnte den Morgen nicht nur hören, er konnte ihn riechen. Den Blauregen über ihm, den Gestank, der von den Märkten herüberwehte.
An diesen Tagen malte Manuel, was er von den Sonnenaufgängen behalten hatte – und kreierte seinen ganz eigenen. Stunden vergingen, bis die ersten Menschen sich bewundernd um seine Arbeit scharrten. Ein Mann bat um ein Porträt und setzte sich zu Manuel.
Wie er erfuhr, war er ein wohlhabender, einflussreicher Bürger, der sich viel aus der Kunst machte. Umso verzückter war er, als Manuel ihm das Porträt zeigte, das ihn etwas älter darstellte, als er war, ernst, aber mit einem unverkennbaren Leuchten in den Augen.
Der Mann ließ einige Franc in Manuels Hut fallen und ging seines Weges, während sich immer mehr Menschen um Manuel versammelten, ganz zum Ärgernis des Maronen-Verkäufers François.
Doch seine schlechte Laune löste sich in Wohlgefallen auf, als er die zwei Männer der Nationalgarde entdeckte, die sich nun durch die Traube der amüsierten Herrschaften schob.
»Manuel Epiphane?«, sagte der größere von beiden und musterte Manuel mit einem strengen Blick.
Manuel drehte seinen Kopf in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. »Ja?«
Die beiden Beamten zerrten den blinden Mann von seinem Platz, rissen an seinen Armen, um ihn zu fixieren, legten ihm schwere Eisenketten an, die an Manuels Gelenken scheuerten. »Sie sind festgenommen.«
Manuels Herz raste in seiner Brust. Er hörte das Tuscheln der Leute, spürte, wie sie sich von ihm entfernten. Nicht, um zu gehen, aber um das Spektakel aus sicherer Entfernung beobachten zu können.
»Darf ich erfahren, was mir vorgeworfen wird?«, krächzte Manuel.
»Sie werden der Ketzerei bezichtigt. Sie sollen Ihre Seele dem Teufel überlassen haben«, dröhnte die Stimme des großen Mannes über den kleinen Quai de Conti. Dabei klang es so, als hätte er bereits sein Urteil gefällt.
Die Menschen um ihnen herum verfielen in verängstigtes Raunen.
Manuel schnappte nach Luft. Seine Arme schmerzten und das erste Mal in seinem Leben bereitete die Dunkelheit vor seinen Augen ihm Panik. Wie eine eiserne Kette legte sie sich um seinen Brustkorb.
»Meine Herren«, presste er hervor und versuchte, sich zu befreien, was ihm noch viel mehr Schmerz in den Armen verursachte. »Da muss eine Verwechslung vorliegen. Ich habe nichts mit dem Teufel zu schaffen.«
Der kleinere, dickere Mann schnaubte verächtlich und verpasste Manuel einen Schlag in die Kniekehlen. »Das können Sie dem Inquisitor erzählen.«
Manuel fiel auf die Knie, sodass einige Herrschaften ängstlich zurücktaumelten, als könnte er den Teufel auf sie spucken. Einige bekreuzigten sich, murmelten Gebete, riefen die heilige Maria um Gnade.
»Endlich setzt jemand dem Wahnsinn ein Ende.« Der Maronen-Verkäufer drängelte sich durch die Menge. »Es liegt doch auf der Hand. Wie kann er all diese Bilder malen, wenn er blind ist? Er hat dem Teufel seine Seele verkauft!« Mit dem Finger deutete er auf Manuels Gesicht.
Schreie der Entrüstung und Panik schwappten durch die schaulustige Menge.
Manuel ließ seinen leeren Blick umherschweifen, als suchte er nach jemanden, der ihm helfen konnte, der ihm zur Seite stand. Doch ein weiteres Mal war er allein auf dieser Welt.
Sein Herz zerbrach. Tränen rannen aus seinen silbernen Augen. »Niemals.« Seine Stimme zitterte. »Ich bin ein bescheidener Maler, der nur seiner Kunst nachgehen will. Ohne Zauberei, ohne Ketzerei.«
François lachte freudlos auf. »Dass ich nicht lache«, sagte er. »Wie konnten Sie so viele Details über mich wissen? Das hat Ihnen eine dunkle Macht ins Ohr geflüstert.«
Eine Frau, die sich hatte malen lassen, warf das Gemälde voller Panik in die Seine, fiel sogleich auf die Knie und faltete ihre Hände zum Gebet.
»Nein«, wimmerte Manuel und richtete sich wankend auf. »Nie in meinem Leben bin ich den Verlockungen des Teufels verfallen. Das ist eine Verschwörung.«
»Natürlich, Monsieur«, sagte der hagere Mann der Nationalgarde und stieß ihn voran.
Unter den Blicken der Menschen, die ihn nun bedachten wie ein gefährliches Tier, taumelte Manuel in Richtung Treppen. Die Männer der Nationalgarde dachten nicht daran, ihm zu helfen.
Offenbar schienen sie überzeugt, dass Manuel Epiphane nicht blind sei, während dieser einige Male nach vorn stürzte. Dabei schlug er sich die gerade erst verheilte Nase und seine Stirn auf.
Seine salzigen Tränen vermischten sich mit Blut und Staub. Gedemütigt vor den Herrschaften, die ihm kopfschüttelnd nachsahen und wüste Beleidigungen hinterherschimpften, kam er am Ende der Treppe wieder auf die Beine.
Er hatte noch nicht einmal sein Gleichgewicht wiedererlangt, da stießen die Polizisten ihn erneut in die Richtung, in die sie gehen wollten, ehe sie ihn in eine Kutsche verfrachteten. Ein Verlies auf Rädern, in dem es nach Urin und Schweiß stank.
Manuels Gesicht lehnte an den Gitterstäben, während sein leerer, nichtssehender Blick umherschweifte, ohne dass er es kontrollieren konnte. Sein von Blut und Schweiß verklebtes Haar hing ihm im Gesicht. In ihm pulsierte der Schmerz wie sein schneller Pulsschlag.
Panik machte sich in ihm breit. Sollte er als Teufelsanbeter verurteilt werden, würden Sie ihn foltern. Und wenn sie sich einig waren, dass all das nicht geholfen hatte, dann würden sie ihn töten. Manuel musste nicht lange überlegen, wer dafür verantwortlich war, dass er sich nun in dieser Lage befand. Er war sich sicher, dass François, den seine Kunst so aufgebracht hatte, dahintersteckte.
Aber wer war er? Er war nur Manuel. Nur ein Maler, ein unbedeutender Künstler. Er hatte nur seine Wahrheit gesprochen. Wahrheiten, die niemanden bedroht hatten. Wahrheiten, die ihm zugetragen wurden, doch nicht vom Teufel. Aber wer würde ihm das schon glauben?
Während Manuel in seinen Gedanken versank, donnerte der Wagen durch die Straßen Paris‘. Die Kutsche schaukelte Manuels kraftlosen Körper kaum tröstlich hin und her. Manchmal schüttelte er ihn, sodass er gegen eine Wand oder die Gitterstäbe knallte, gegen die er sich presste. Als versuchte er, durch sie hindurch zu verschwinden.
Er war blind und hatte oft geglaubt, dass er ebenfalls blind für andere gewesen war. Zum ersten Mal schien er so etwas wie Reue zu empfinden. Reue darüber, die Leute sehend gemacht zu haben.
Einige Tage hatte Manuel in einer Zelle verbracht. Der Gestank brannte in seiner Nase, heftete sich an seine Kleidung, klebte an seiner Haut. Man überließ ihn grobschlächtigen Männern, die wahrscheinlich schlimmere Dinge getan hatten, als Bilder zu malen.
In eine Ecke gekauert saß Manuel da. Die Mahlzeiten verpasste er zum Großteil, da sich die anderen seine Blindheit zum Vorteil machten und sich seiner Ration bemächtigten.
Aus einigen Tagen wurden Wochen. Sie strichen dahin, zogen spottend am Gitterfenster vorbei, während in dem Loch die Zeit stehen zu bleiben schien. Mit jeder verstrichenen Woche, in der Manuel nicht malen konnte, fürchtete er, dem Wahnsinn zum Opfer zu fallen.
Seine Hände zitterten, seine Muskeln schwanden, als lechzten sie nach der befreienden Tätigkeit, während in seinem Kopf Bilder aufbrandeten wie vom Wind gepeitschte Wellen. Sie wollten raus, mit dem Pinsel in Farbe getaucht werden und in die Welt entfliehen, um eine eigene zu kreieren.
Eines Tages, er wusste nicht mehr genau, welcher es war, besuchte ihn ein Mann, der sich als Monsieur Gallaird vorstellte. Er nannte sich seinen Verteidiger und wollte Manuels Version anhören; befragte ihn nach Zeugen, die für ihn bürgen würden.
»Werde ich hier jemals rauskommen?«, fragte Manuel mit einer kratzigen Stimme, die er nur noch selten gebrauchte.
Er sah nicht, wie sich Monsieur Gallairds Miene verdunkelte. »Ich werde mein Bestes geben«, versprach er. Aber Manuel musste nicht sehen, um zu wissen, dass Monsieur Gallaird müde war, abgekämpft. »Das Problem, Monsieur Epiphane, ist, dass auch, wenn alle Zeugen sich für Sie verbürgen, es dennoch ein Rätsel bleibt, wie Sie so viel über fremde Menschen erfahren konnten. Möchten Sie mir Ihr Geheimnis verraten?«
Manuel, der weiterhin in seiner Ecke kauerte, die Arme um die Knie geschlungen, senkte seinen Blick. Seine Lippen zitterten. Dann starrte er genau durch Monsieur Gallaird hindurch, dem es eine Gänsehaut bescherte. »Welches Geheimnis auch immer es ist, würde es mich unschuldiger wirken lassen?«
Monsieur Gallaird stieß die Luft durch seine Nase aus und regte sich auf der Pritsche. »Vermutlich nicht.« Er erhob sich. »Ich werde versuchen, Sie hier herauszuholen, Monsieur Epiphane.«
»Glauben Sie mir?«, fragte Manuel. Seine silbrigen Augen funkelten in der Dunkelheit des Kerkers.
Monsieur Gallaird stand bereits in der Gittertür und blickte über seine Schulter. »Sie sind kein Mensch, der dem Teufel verfallen würde. Das glaube ich.« Damit verließ er Manuel, sodass er wieder auf sich alleingestellt war. Für lange Zeit.
Mit den Wochen und Monaten schwanden nicht nur Manuels Muskeln und Kraft, sondern auch seine Hoffnung, jemals wieder einen Pinsel in der Hand zu halten. Inzwischen tropfte seine Fantasie aus jeder seiner Poren, sodass er auch im Inneren zu erblinden drohte. Aus Verzweiflung nahm er einen Kieselstein, um farblose Bilder auf den kalten Kalkwänden zu zeichnen.
Er hörte die Vögel nicht mehr, also musste es inzwischen Winter sein, was erklärte, warum er immer mehr fror, trotz der verfilzten Decke, in die er sich wickelte.
Er verfiel dem Wahn und seiner selbst. Bis seine Finger bluteten, wetzte er die kleinen Kieselsteine ab, mit denen er Porträts seiner eigenen Gestalt anfertigte. Gemälde, die von Verzweiflung zeugten. Gemälde, die verblassten, so wie Manuel. Es waren Zeichnungen von wirren Gesichtern. Sie waren zerkritzelt, andere besaßen keine Augen, keinen Mund. Wiederandere zeugten von vollständiger Leere. Bald schon umgaben Manuel an allen Wänden Ebenbilder, die ihm nicht im Ansatz ähnlich waren und gleichzeitig Manuels Wahrheit erschreckend realistisch widerspiegelten. Sie alle starrten ihn an, sofern sie Augen hatten, und waren mit und in Manuel gefangen, während dieser nur noch ein Schatten seiner selbst war. Ein magerer Mann, der sich in die Ecke kauerte und an seinen blutigen, wunden Fingern lutschte, wenn er nicht wie im Wahn seine Porträts in den Stein ritzte.
An manchen Tagen redete er mit sich selbst. An anderen blickte er ängstlich durch sein verfilztes Haar, ohne wirklich etwas zu sehen, lauschte den Geräuschen, die durch die Kälte des Verlieses hallten. Wimmern und Schluchzen, Rasseln von Ketten, als trieb ein Geist sein Unwesen.
Dabei war es nicht einer. Es waren viele.
Inzwischen war sich Manuel sicher, dass er das Gefängnis nicht wieder verlassen würde, dass er hier verrotten würde, ehe man ihm den Prozess machte.
Manchmal nahm er es resigniert hin, an anderen Tagen weinte er bitterlich um seine Freiheit, um seine Kunst.
Während Manuel gefangen war in der dunklen Ewigkeit, die in dem zeitlosen Loch herrschte, entschied der Inquisitor Monsieur Tibeaut über sein Schicksal.
Monsieur Gallaird hatte Zeugen gefunden, die sich für Manuel Epiphane verbürgten, ganz zum Ärgernis von Lucien Gerard, dem Vater von Baptiste und deren Anwalt.
Nach und nach verbürgten sich Männer und Frauen für Manuel, insgesamt zehn an der Zahl. Manuel hätte jeden von ihnen erkannt, wenn er dabei gewesen wäre. Ihre Stimmen, ihre warmen Herzen. Er hätte sich an jeden Tag, an dem er jeden von ihnen gemalt hatte, erinnern können.
Da war Sophie Madeleine, die ihr gesamtes Leben lang schuftete, um ihre Kinder und ihre kranke Mutter durchzubringen. Sie erzählte, dass das Gemälde – das einzige Kunststück, das sie besaß – in ihrer Kammer hing. Und immer, wenn der Morgen sie mit bleierner Schwere in die Kissen drückte und der Tag sie mit Dunkelheit begrüßte, war Manuels Gemälde das Licht, das die Schatten vertrieb. Sophie Madeleine berichtete, wie glücklich es sie machte, wenn sie es betrachtete, weil sie sich daran erinnert fühlte, wofür sie all die schwere Arbeit verrichtete. Auf die Frage, ob sie jemals gefürchtet hatte, dass Manuel mit dem Teufel unter einer Decke steckte, schüttelte Sophie Madeleine empört den Kopf.
»Niemals.« Sie blickte dem Inquisitor direkt in die Augen, etwas, das sie nur selten tat, da sie eher den Kopf gesenkt hielt. Doch sie wollte, dass er in ihren Augen sah, was sie von Manuel glaubte zu wissen. »Er wurde von Gott gesandt.«
Doch es sprachen nicht nur Menschen, die schöne Porträts von Manuel erhalten hatten. Eine ärmliche Frau trat nach vorn. Manuel hätte sie nicht sogleich erkannt. Ihre Gegenwart hatte sich verändert.
Die hagere Frau mit dem weinroten Kleid stand vor dem Richter und berichtete von ihrer ersten Begegnung mit dem Künstler. »Als ich Manuel traf und ein Porträt von mir anfertigen ließ, war ich geschockt, als ich das Ergebnis betrachtete. Er hatte mich hässlich gemalt wie ein Monster, ein Vampir mit spitzen Zähnen und milchigen Augen, blasser Haut. Die Frau auf dem Gemälde war viel älter als ich.« Die Frau namens Bernadine blickte von Monsieur Tibeaut zu Lucien und Baptiste. »Ich war wütend auf ihn gewesen. Er hatte mich beleidigt. Dennoch habe ich das Bild mit mir genommen und es stundenlang angestarrt, bis ich es verstand.« Sie lächelte verschüchtert, während sie auf ihre Finger blickte, die mit den Falten ihres Kleids nestelten. »Nun, Manuel reflektiert auf magische Weise die Wahrheit seiner Porträts. Das ist seine Kunst.« Bernadine lächelte. »Und als ich es verstanden habe, habe ich sie gesehen. Meine Wahrheit. Ich war so egoistisch. Durch meine Armut, habe ich sogar Menschen, die ebenso wenig hatten wie ich, Dinge genommen, die sie brauchten. Brot, Käse, Geld.« Bernadine blinzelte die Tränen der Scham fort. »Ich wollte nicht mehr so sein und habe mich geändert. Ich nehme niemandem mehr etwas weg und versuche zu geben, was ich nicht brauche.« Bernadine blickte an die mit Goldstuck verzierte Decke, als blickte Manuel auf sie herab. Dabei wünschte sie sich, er könnte sie sehen. Das, was aus ihr geworden war. »Und sicherlich hat er diese Fähigkeit nicht vom Teufel. Es sind engelsgleiche Dinge, die er tut.« Das sagte sie mit Nachdruck. »Ich kenne sein Geheimnis nicht, aber Manuel Epiphane sieht trotz seiner Blindheit mehr als wir.«
Im Saal erhob sich ein Raunen, das wie eine Wolke aus Bewunderung und Staunen den Raum füllte. Auch Monsieur Tibeauts Berater konnten nicht mehr an sich halten, brachen ihr eisernes Schweigen und spekulierten über den mysteriösen Maler.
»Unerhört! Das ist eine Farce!« Lucien explodierte wie ein Feuerwerk, das versehentlich durch einen Funken entzündet wurde. Aber dieses war nicht schön anzusehen. Es war erfüllt von Zorn und Arroganz. Er sprang auf, fuchtelte mit den Händen herum, ehe er all seinen Frust auf Manuel Epiphanes Anwalt Monsieur Gallaird konzentrierte. Mit dem Finger deutete er auf ihn. »Er steckt ebenso mit diesem Epiphane und dem Teufel unter einer Decke.« Er richtete sich zur vollen Größe auf wie der imposante Mann, der er war. Mit geschwellter Brust blickte er auf die Anwesenden um ihn herum hinab. »Was ist das für eine Welt? Was ist das für eine Gerechtigkeit, in der wir leben? Mein Sohn wurde Opfer eines Ketzers, der mit stümperhafter Kunst die Menschen hinters Licht führt. Ein Licht, von dem Sie alle geblendet sind. Der Teufel ist ein Meister der Tarnung, ein Scharlatan, der sie verführen will – und Manuel ist ein Diamant, von dem alle glauben, er sei echt. Aber werfen Sie ihn auf den Boden! Nur zu, er wird zerschmettern wie Glas.« Nun waren es seine aufgeplusterten Worte, die das Raunen verdrängten und den Saal bis unter die Decke ausfüllten, sodass man glaubte, sogar die gemalten Engel verzogen ihre Gesichter voller Empörung.
»Wenn hier jemand mit der Zunge eines Teufels spricht, dann sind Sie das, Monsieur Gerard!« Madame Bernards Stimme erhob sich über das Getuschel und erzeugte ein angespanntes Schweigen. Alle Augenpaare richteten sich auf die Frau, die sich von ihrem Platz hinter Monsieur Gallaird erhoben hatte.
Monsieur Tibeaut blinzelte, während Lucien den Zeigefinger erhob, den Mund weit aufriss, um eine weitere Rede zu schwingen. Aber der Inquisitor kam ihm zuvor. »Sie sind -«
»Madame Bernard, die Vermieterin von Manuel Epiphane.«
Der Inquisitor sammelte sich kurz. Das forsche Vorpreschen dieser Frau hatte ihn aus der Fassung gebracht. Er besann sich und fuhr fort: »Sie leben in der Rue de -«
»Rue de LaFayette, ja«, beendete Madame Bernard ungeduldig seinen Satz.
Monsieur Tibeaut musterte die kleine, robuste Frau. »Nun, Madame, wie kann Monsieur Epiphane sich eine Kammer in diesem Viertel leisten? Es ist bekannt und beliebt bei den Herrschaften aus den oberen Schichten.«
Madame Bernard hatte die Hände vor ihrem Bauch gefaltet. Das Kleid mit dem edlen Stoff fiel in perfekten Falten zu Boden. »Monsieur«, sagte sie mit kokettem Charme. »Manuel bezahlt mir das, was er mir bezahlen kann. Das ist nicht viel, das gebe ich zu, denn er verdient nicht sonderlich gut. Aber das ist auch nicht wichtig. Manuel ist wie der Sohn, den ich niemals hatte.« Dann drehte sie sich zu Baptiste und seinem Vater. »Und Sie«, sagte sie und deutete mit dem Finger auf Baptiste, »Oh … mir fehlen die Worte. Ihr Sohn sollte auf der Anklagebank sitzen, nicht Manuel. Es ist eine schändliche Tat, einen Unschuldigen zu beschuldigen!«
Baptiste starrte Madame Bernard entgeistert an. Sichtlich schrumpfte er auf seinem Stuhl zusammen, während sich hektische Flecken auf seinen Wangen abzeichneten.
Monsieur Tibeauts scharfen Augen entging diese Reaktion nicht. »Und durchaus strafbar«, warf er ein.
Lucien sprang auf. »Schweig still, Weib! Dass Sie es wagen, meinen Jungen zu beschuldigen!« Er gestikulierte wild. Seine Perücke rutschte in seine Stirn, sodass er sie augenblicklich mit der flachen Hand zurückschob. Er schnaubte. »Sie gibt einem Mann vollkommen kostenlos Unterschlupf? Monsieur, wenn Sie mich fragen, sind wir im Begriff eine unorthodoxe Liebschaft aufzudecken. Vielleicht sollten wir es sogar in Betracht ziehen, dass der Teufel in Manuel Epiphane diese beiden zur Unzucht verführt«, sagte Lucien an den Inquisitor gewandt und genoss das darauffolgende Getuschel wie nachmittägliche Sonnenstrahlen auf seiner Haut.
Doch Madame Bernard war eine Madame, die sich nicht beleidigen ließ, besonders nicht von einem Mann. Mit einem zuckersüßen, in Gift getränkten Lächeln drehte sie sich um, was sie für einen kurzen Moment wie ein junges Mädchen wirken ließ. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen.
»Sie ungehobelter Bauerntrampel. Ich kenne Sie, Lucien, Man erzählt sich viel in den oberen Kreisen. Sie sind wie ein Heißluftballon. Steigen weit auf, sehen pompös aus, aber wenn man die Luft rauslässt, sind Sie nur noch ein großer – faltiger – Sack.«
»Madame!« Luciens Anwalt sprang ebenfalls auf die Füße. Knallrot im Gesicht. Seine Hände zitterten. Er schien überfordert. Und das war er auch. Noch nie hatte er einer solch hitzigen Verhandlung beigewohnt, in der eine Dame mit Ansehen solche Unschicklichkeiten von sich gab.
»Genug!«, brüllte Monsieur Tibeaut. »Das ist wie im Laientheater. Genug.«
Inzwischen hatte Baptistes Gesichtsfarbe von purpur zu aschfahl gewechselt, sodass es wirkte, als hätte auch er sich geschminkt. In ihm keimte Reue auf. Er fragte sich, wie Manuel ihn nun malen würde, wie er ihn nun sehen würde, und versank bei diesem Gedanken in tiefer Scham, während Lucien, Madame Bernard und die Anwälte in einen lautstarken Streit verfielen.
Monsieur Tibeaut rieb sich die pochenden Schläfen. Noch nie hatte er solch einer Inquisition beigewohnt – und noch nie hatten Bürgschaften noch mehr Fragen aufgewirbelt.
Wer war Manuel Epiphane? Hatte er sich wirklich dem Teufel versprochen oder war er ein Engel, ein Gesandter Gottes? Oder tatsächlich nur ein einfacher Maler?
Nach Monaten, die sich anfühlten wie ein halbes Leben, öffnete sich die Zellentür. Schwere Schritte polterten über den Boden. Das Klimpern von Schlüsseln erklang und die Zellentür kreischte, als sie nach langer Zeit wieder geöffnet wurde.
Manuel bemühte sich, über den rasenden Puls in seinen Ohren hinwegzuhören. Filigrane, ruhige Schritte lösten sich. Manuel wusste, sie stammten nicht von den Gardisten.
Ein schweres Parfum, wie es nur ein reicher, einflussreicher Mann tragen konnte, verdrängte den beißenden Gestank. Für den Bruchteil weniger Sekunden glaubte Manuel, in einem Rosengarten zu stehen.
Das Ächzen der Pritsche, als sich der Inquisitor höchstselbst auf ihr niederließ, beförderte ihn zurück zwischen die kalten Mauern des Gefängnisses.
Durch die hellen Stoffe seines Gewandes, wirkte Monsieur Tibeaut wie ein grotesker Fleck in einer schäbigen Welt, in der es nach Urin und Krankheiten stank.
»Wenn Sie mich mit ihm allein lassen«, sagte der Inquisitor und nickte den Gardisten zu.
Sie zögerten kurz, nickten dann und verschwanden.
»Wer ist da?«, fragte Manuel, der sich in die Ecke kauerte.
Der Inquisitor faltete seine Hände vor dem mächtigen Bauch und räusperte sich. »Mein Name ist Monsieur Tibeaut und man hat mich mit ihrem Fall betraut.«
Manuel richtete sich auf und blickte durch sein verfilztes Haar in die Leere. »Der Herr Inquisitor«, hauchte Manuel, der einen leichten Anflug von Panik wie einen kalten Windzug verspürte. »Werden Sie mich nun foltern?«
Der Inquisitor blinzelte. »Nein, Monsieur Epiphane.« Er musterte den Mann, ehe er all die Bilder, die dieser in den Stein gewetzt hatte, betrachtete. »Ich habe Monate zugebracht, in denen ich Zeugen verhörte. Die einen behaupten, Sie seien vom Teufel besessen, die anderen sagen, sie wären ein Engel.« Der Inquisitor betrachtete Manuel. »Und ich frage mich, was Sie wirklich sind. Ein Teufel getarnt als Engel – oder ein Engel, der fälschlicherweise für den Teufel gehalten wird.«
Manuel lächelte schwach. »Monsieur, ich bin weder das eine noch das andere. Ich bin nur ein Maler.«
Monsieur Tibeaut lehnte sich nach vorn. »Das sind Sie nicht. Sie sind nicht nur ein Maler.« Kurz blickte er über seine Schulter, um ganz sicherzugehen, dass niemand ihn hören würde. »Sie sehen etwas, was andere nicht sehen, und teilen dieses Geheimnis mit der Leinwand. Monsieur Epiphane«, er senkte seine Stimme, als ein Stöhnen durch die Gänge glitt. »Entgegen allen Gesetzen musste ich Sie kennenlernen. Den Mann, der diese Kunstwerke schuf, und ich muss wissen, wie Sie sie geschaffen haben. Was ist Ihr Geheimnis?«
Manuel zog seine Knie fester an seine Brust. Die Angst schüttelte ihn und ließ seine Zunge schwer wie Blei werden. »Monsieur, ich weiß nicht, was Sie sich erhoffen, aber ich bin nur ein bescheidener Maler.«
Das Lächeln des Inquisitors erstarb mit einem letzten Zucken. »Da ist etwas in Ihren Gemälden, Monsieur. Ich will meine Wahrheit sehen.« Der Kerzenschein fing einen traurigen Glanz in seinen Augen ein. »Als Richter ist es meine Pflicht, stets die Wahrheit zu finden. Aber wissen Sie, Manuel, in einer Welt, in der die Lüge viel leichter über die Lippen kommt, ist es sehr schwer, sie zu entdecken. Oft liegt sie irgendwo zwischen zwei Halbwahrheiten. Es ist ermüdend, immer danach zu graben.«
Manuel lächelte. Er fühlte sich verstanden, fühlte sich weniger unsicher im Angesicht des Richters, der über sein Leben entscheiden würde.
Dennoch zögerte er. Er wusste nicht, welche Wahrheit sich hinter dem Richter verbarg, was die Farbe auf der Leinwand zum Vorschein bringen würde. Er wollte ihn nicht beleidigen. Gleichzeitig konnte er ihm diese Bitte nicht abschlagen. Nicht um seinetwillen, sondern aus egoistischen Gründen. Manuel wollte malen, er wollte wieder sehen.
»Monsieur Epiphane, ich bitte Sie.« Er lächelte breit im Anbetracht der Tatsache, dass er wieder vergessen hatte, dass Manuel es nicht sehen konnte. »Ich möchte verstehen. Ich möchte sehen. Ich möchte Ihnen helfen.«
Manuel presste seine Lippen aufeinander. Er glaubte, dass die Worte des Inquisitors aufrichtig waren. Deshalb nickte er, mit der Hoffnung im Herzen, dass er damit keinen Fehler begehen würde.
Manuel wusste nicht, ob es klug gewesen war, dem Inquisitor zu zeigen, wie er die Gemälde malte. Er wusste nicht, wie ihn das davon überzeugen sollte, dass er nicht vom Teufel besessen war. Er wusste nur, dass es sich in diesem Moment recht anfühlte.
Nun saß er auf seiner Pritsche und hielt das erste Mal wieder einen Pinsel in der Hand. Er strich über die Staffelei, als berührte er eine liebe Verwandte, die er zu lange nicht gesehen hatte. Und so fühlte es sich auch an. Durch ihn floss neue Hoffnung, während er sich mit den Farben vertraut machte und die Kerben an den Schälchen mit seinen Fingern studierte.
Monsieur Tibeaut saß ihm gegenüber, den Blick auf Manuel geheftet, als versuchte er, einen verräterischen Moment zu erhaschen, wobei er nicht darauf aus war. Vielmehr hatte ihn die Neugierde und der Glaube an die Unschuld dieses Mannes hierhergetrieben.
»Nun«, begann Manuel mit zittriger Stimme. Die Monate, die er in diesem Gefängnis zugebracht hatte, hatten ihn rapide altern lassen. »Ich kann nicht versprechen, dass es funktioniert. Normalerweise male ich im Freien.«
Monsieur Tibeaut kniff die Augen zusammen, während er tiefer in den breiten Stuhl sank, den die Gardisten ihn in die Zelle gestellt hatten. Er hielt sich ein Taschentuch vor die knollige Nase, um den Geruch seines Parfums einzuatmen, damit der Urin und Schweiß ihm nicht die Tränen in die Augen trieben. »Monsieur Epiphane, ich verstehe nicht. Wie malen Sie, wenn Sie doch nichts sehen können?«
Manuel machte Halt und blickte auf, tauchte dann den Pinsel in die Farbe. »Ich bin blind, aber das heißt nicht, dass ich nicht sehen kann. Ich kann hören, schmecken, tasten. Ich sehe, aber anders als Sie, und so ist es mir möglich, zu malen.«
Monsieur Tibeaut blinzelte verdattert. Er wusste nicht, was er antworten sollte, also schwieg er und beobachtete Manuel dabei, wie er mit einem zufriedenen Lächeln den Pinsel über die Leinwand gleiten ließ.
Für Manuel war diese Möglichkeit der erste Sonnenstrahl in der dunkelsten Zeit seines Lebens. Kaum hatte er den Pinsel berührt, war es, als explodierten Farben in der tristen Welt um ihn herum. Alles wurde hell und warm. Die Pritsche war nicht mehr unbequem und für einen Moment vergaß Manuel seine Schmerzen. Das Malen öffnete seine Augen. Doch etwas fehlte, um ihn vollständig sehend zu machen, um ihn die Wahrheit über Monsieur Tibeaut zu verraten.
Er horchte angestrengt. Aber nichts.
Die Angst griff mit eisigen Händen nach Manuels Knöcheln. Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen.
Wenn er dem Inquisitor nicht zeigen konnte, was es mit seiner Kunst auf sich hatte; wenn er ihm seine Wahrheit nicht offenbaren konnte, dann würde er ihn für einen Lügner halten, wie es alle anderen taten. Er würde ihnen glauben und Manuel zum Tode verurteilen.
Bei diesem Gedanken schnürte sich ihm die Kehle zu. Panisch ließ er seinen nichtssehenden Blick umherschweifen, als könnte er dadurch etwas wahrnehmen.
In ihm breitete sich ein beklemmendes Gefühl aus. Vielleicht hatte er diese Fähigkeit verloren? Vielleicht hatte er verlernt, zuzuhören. Vielleicht war er nun vollständig erblindet.
Manuels Hand klammerte sich so fest um den Pinsel, dass dieser beinahe zerbrach. Die Farben vor seinen Augen schwanden, wurden von der Dunkelheit verschluckt, die nach Manuel griff, nach seiner Seele. Sie hatte sich schwer auf ihn gelegt und ihn erstickt.
Das Blut rauschte in seinen Ohren.
»Was ist nun?«, fragte der Inquisitor, der seine Stirn in tiefe Falten gelegt hatte. Falten des Misstrauens.
Manuel, der vollkommen erstarrt war und nicht bemerkt hatte, dass er innegehalten hatte, schüttelte seinen Kopf. »Verzeihung, Monsieur, es ist nur -« Er suchte nach einer Erklärung, als plötzlich der glockenklare Klang eines Kleibers durch die Zelle hallte.
Manuels Miene hellte sich auf. Sein verhärmtes Gesicht legte sich in Falten der Freude.
Endlich konnte er den Inquisitor vor sich sehen mit all seinen Makeln und seiner Schönheit, mit seinen Wahrheiten und Geheimnissen. Es war nur ein Teil, aber der kleine Kleiber erzählte ihm genügend, um beschwingt mit dem Pinsel über die Leinwand zu fahren, während nach und nach ein Bild entstand.
Der Inquisitor blickte immer wieder zum Vogel und zu Manuel, die in ihrer Konversation so vertieft schienen, dass alles um sie herum verschwand. Monsieur Tibeaut genoss das abendliche Lied.
Nach Stunden in dem Verlies, in dem es sich anfühlte, als bliebe die Zeit stehen, legte Manuel zufrieden den Pinsel zur Seite. Kaum hatte er dies getan, spannte der Kleiber seine kleinen Flügel, drehte zwitschernd eine Runde durch das Verlies und verschwand durch die Gitterstäbe.
Manuels Finger klammerten sich um den Rand der Leinwand.
Der Richter rieb sich nachdenklich das Kinn, knüpfte seine Schlüsse und blickte dann erwartungsvoll zu Manuel. »Nun?«
Manuel – etwas unsicher auf der Stelle tretend – drehte das Gemälde herum. Es zeigte einen dünnen Mann auf einem Lehnstuhl, wie er in Manuels Kammer stand. Die Hände im Schoß übereinandergelegt. Er trug einen marineblauen Anzug mit einer weißen Weste, die mit Gold verziert war. Den Hintergrund hatte Manuel in ein helles Grau getaucht.
Der Blick des Richters wanderte von unten nach oben. Seine Augenbrauen waren dabei zusammengekniffen, die Stirn gerunzelt.
Als er dann sein Gesicht erblickte, hellte sich die Miene auf. Er stieß ein Lachen aus, das mehr dem Grunzen eines Schweines glich.
Das Porträt zeigte ein verschwommenes Gesicht, als bewegte der Kopf sich zu schnell zu allen Seiten.
Monsieur Tibeaut sagte nichts. Lediglich einige brummende Geräusche drangen aus ihm, während er mit zwei Fingern sein Kinn knetete.
Derweil brach Schweiß auf Manuels Stirn aus. Seine Finger krampften sich um den Rand der Leinwand.
»Ich verstehe«, murmelte Monsieur Tibeaut. »Ja.« Dann blickte er von dem Gemälde zum erblassten Manuel auf. »Was können Sie mir dazu sagen?«
Manuel schluckte. Er fühlte sich alles andere als wohl, sein Geheimnis zu verraten. »Ich weiß, dass Sie der Sohn einer einflussreichen Familie sind. Aber Ihr Leben war geprägt von Lügen und Intrigen, die einigen Mitgliedern – einschließlich ihrer Mutter – das Leben kosteten.« Manuel holte tief Luft. Seine Kehle fühlte sich eng an. »Ihnen fällt es schwer, Vertrauen zu fassen, daher suchen Sie fanatisch nach der Wahrheit in allen Dingen. Oft macht es Sie wütend und haltlos – und manchmal behandeln Sie Menschen unfair deswegen.«
Tränen sammelten sich in den kleinen Augen des Richters. Seine Unterlippe bebte leicht. In diesem Moment war er froh, dass Manuel es nicht sehen konnte. Gleichzeitig fühlte er sich schlecht, solch einen Gedanken in sich zu tragen. Er schüttelte den Kopf, um damit nicht nur die Tränen, sondern auch seine innere Stimme zu verscheuchen.
»Woher wissen Sie das alles?« Er flüsterte andächtig, als befände er sich nicht in einem modrigen Kerker, sondern einer Kirche, in der jedes Geräusch vom Echo offenbart wurde. Monsieur Tibeaut drehte sich zu der Stelle,
an der der Vogel gesessen hatte. Der Inquisitor kannte die Antwort, aber die Wahrheit war zu unglaublich, um sie aussprechen zu können.
Manuel stellte das Gemälde ab und begann, seine Pinsel in der Wasserschüssel, die man mitgebracht hatte, zu reinigen. Er konnte spüren, wie sich der neugierige Blick des Inquisitors wie ein Stock in seinen Rücken bohrte.
Noch nie hatte er sein Geheimnis offenbart. Es fiel ihm schwer, es in Worte zu fassen, ohne selbst zu glauben, dass er dem Wahnsinn verfallen war. Deshalb setzte er noch zweimal an, ehe die Worte aus ihm heraussprudelten wie aus einer Wasserquelle. »Monsieur, ich bin blind, aber nicht taub. Ich male das, was mir die Vögel berichten. Sie sehen alles in dieser Stadt. Und ich sehe die Wahrheit vor meinem blinden Auge und bringe sie auf die Leinwand.«
Quälend ewige Minuten breitete sich das Schweigen zwischen den beiden Männern aus. Monsieur Tibeaut saß einfach da, während die Finger über die Armlehne kratzten. Sein Blick war leer, als beobachtete er etwas um ihn herum, das nicht da war. Dann wandte er Manuel sein Gesicht zu. Dieser schien Qualen unter dem Schweigen zu leiden. »Es ist verrückt, nicht? Wie facettenreich die Wahrheit ist. Und manchmal ist sie genau vor uns. In all ihrer Verrücktheit, dass wir sie nicht glauben möchten.«
Manuel blinzelte verwirrt. Seine Hände hatte er ineinander gefaltet, um das Zittern zu unterdrücken. Noch nie hatte er jemand Fremdes die Wahrheit um seine Fähigkeit offenbart und nun wusste er nicht, ob Monsieur Tibeaut ihm glaubte oder nicht.
Dieser erhob sich, indem er sich mit den Händen aus dem Armlehnstuhl drückte. Das Holz ächzte, während der Richter angestrengt schnaubte. »Es ist spät«, sagte er.
Manuel übergab ihm das Gemälde. »Wollen Sie nicht ...«
»Etwas dazu sagen?«, beendete er seinen Satz. »Mein lieber Epiphane, seit über zwanzig Jahren bin ich Inquisitor. Es gelingt mir nicht immer, aber ich erkenne es, wenn jemand die Wahrheit spricht. Sie muss nicht immer kommentiert werden, nicht wahr? Wir können sie auch einfach sein lassen.« Monsieur Tibeaut lächelte und klopfte Manuel auf die Schulter, sodass dieser beinahe unter der Kraft zusammenbrach. »Sie sind ein begnadeter Künstler. Kein bescheidener Maler. Das ist nicht das Werk des Teufels. Das ist die Magie, so beängstigend sie auch für manche sein mag, die Ihnen innewohnt. Das ist die Wahrheit. Gute Nacht, Monsieur.«
Manuel verstand seine Worte, doch sie lösten nicht die Ketten der Angst, die sich wie eine Würgeschlange um seine Kehle legten. Er stürzte an die Verliestür, brach dabei zusammen. Seine Hände klammerten sich an die Gitterstäbe, durch die er sein Gesicht zu pressen versuchte. Nun schien er dem Wahnsinn näher als zuvor. »Monsieur Tibeaut.«
Der Inquisitor wandte sich um. »Monsieur Epiphane?«
Manuels Finger glitten von den Stäben und er stürzte auf die Knie. Seine Ketten rasselten. »Für meine Kunst sterbe ich«, sagte er. »Denn ich habe nichts anderes, das mich sehend macht.« Er blickte zum Richter auf. »Wenn Sie mich einsperren, nehmen Sie mir das letzte Augenlicht, das ich habe.« Heiße Tränen rannen über Manuels verschmutztes Gesicht. Er japste nach Luft. All die Monate, die er hier verbracht hatte – in vollkommener Dunkelheit. Einsam.
Der Inquisitor hatte ihm Minuten im Sonnenlicht geschenkt. Minuten, in denen er wieder hatte sehen und malen können. Man hatte ihm, einem verdurstenden Mann, Wasser gegeben, Luft zum Atmen. Und nun schien es, als drängten sich die Wände näher. Das Verlies um ihn herum schrumpfte.
Monsieur Tibeaut trat auf Manuel zu. »Vertrauen Sie mir.«
Nach einer schlaflosen Nacht, kreischten Manuels Verliestüren ein weiteres Mal. Aber er hörte nicht die erhabenen Schritte des Inquisitors. Da war nur das schwere Getrampel der Nationalgarde.
Verängstigt kauerte Manuel sich in die Ecke. Die beiden Männer packten ihn an den Armen und rissen ihn auf die Beine, die Manuel kaum tragen konnten.
Deshalb schleiften sie ihn hinterher durch einen Tunnel voller Zellentüren. An den Stäben klammerten sich Gestalten, die Manuel ähnlich sahen, zumindest äußerlich. Sie riefen ihm zu, flehten um Gnade, Vergebung. Andere hatten sich in ihre Ecken gekauert, die Arme um ihre Leiber geschlungen, während sie vor und zurück wippten.
All das, all das Leid und den Wahnsinn konnte Manuel nicht sehen, aber spüren. Wie ein Zahnschmerz, ein Gebrechen, das in seinen Knochen hauste.
»Hinrichtung«, rief jemand aus einer oberen Etage und sprang vor den Gittern seines Kerkers herum, als wäre es ein Grund zu feiern. »Hinrichtung.«
Manuel erfasste nackte Panik. Mit seiner kaum vorhandenen Kraft versuchte er, sich gegen die eisernen Griffe der Männer zu stemmen. »Wo bringen Sie mich hin?«, fragte er atemlos. Seine Kehle war trocken, das Herz raste in seiner Brust.
Das Jaulen verfolgte ihn, hallte an den nackten Wänden wider und haftete an Manuels Haut.
Die Männer der Nationalgarde schwiegen und führten ihn durch ein angrenzendes Gebäude. Edle Stoffe hingen von den Wänden, Gemälde gerahmt in Goldstuck und glänzender Marmor auf dem Boden ließen ihn wie einen grotesken Fleck wirken.
Er roch Parfum, wie es besonders reiche Herrschaften auflegten. Hatte es sich der Inquisitor nun doch anders überlegt? War er doch noch zum Schluss gekommen, dass Manuel dem Teufel verfallen war?
Seine nackten Füße wollten sich in den sauberen Boden bohren, aber er schlitterte einfach weiter. »Bitte«, flehte er mit Tränen in den Augen. »Ich bin unschuldig.«
Die Männer der Garde blieben abrupt stehen. Mit einem Knarzen öffnete sich eine Doppeltür aus massivem Holz. Murmeln und das Rascheln von Papier drang aus einem hohen Raum.
Säulen ragten an die Decke, wie man es aus Kirchen kannte. Über Manuels Kopf thronten Engel, gemalt mit goldenen Flügeln unter einem hellblauen Himmel.Viele Menschen hatten sich versammelt, angeordnet in zwei Halbkreisen um den Inquisitor herum, der in der Mitte thronte. Mit stolz erhobenem Blick sah er Manuel dabei zu, wie er von den Gardisten durch den Gang geschleift wurde wie wertloses Vieh, das man zum Schlachter zerrte.
Es schien offensichtlich, dass die Kraft Manuel verlassen hatte, ebenso wie die Hoffnung. Sein tränennasses Gesicht war gen Boden gerichtet. Die in Ketten gelegten Hände hatte er gefaltet. Auf seinen Lippen zitterte ein Gebet.
»Merci«, sagte der Inquisitor zu den Gardisten, die sich mit einem Nicken hinter den auf dem Boden kauernden Manuel positionierten.
François, Baptiste, Lucien und ihr Anwalt erhoben sich. Empörung stand in ihren Gesichtern geschrieben. »Monsieur Inquisitor, bei allem Respekt. Der Angeklagte wohnt einer Inquisition nicht bei.«
Monsieur Tibeaut rümpfte seine Nase, dann erhob er sich und schritt langsam zum Anwalt von Lucien Gerard. »Manuel Epiphane ist kein Angeklagter.« Der Inquisitor nickte zu den Gardisten, die augenblicklich die Ketten von Manuels Handgelenken entfernten.
Manuel aber blieb auf seinen Knien, während er ungläubig in die Richtung starrte, aus der die Stimme des Inquisitors dröhnte. Er öffnete seinen Mund, doch schien die Stimme in all seiner Angst verloren zu haben.
»Manuel Epiphane ist ein freier Mann«, verlautete Monsieur Tibeaut so laut, dass es jeder hören konnte. Doch vielmehr waren diese Worte für Manuel selbst bestimmt. »Er ist kein Ketzer, kein Betrüger und hat seine Seele nicht dem Teufel verkauft.«
Ein überraschtes Raunen schwappte durch die Menge. Die Schaulustigen tuschelten, bis Monsieur Tibeaut mit erhobenen Händen um Ruhe bat. »Aber Sie«, er deutete auf Lucien, François und Baptiste. »Sie sind angeklagt wegen Verleumdung.«
Lucien sprang auf. Sein Gesicht glühte. Wild gestikulierend verfiel er in eine Tirade voller Empörung. »Wie können Sie es wagen, unser Wort infrage zu stellen.«
Baptiste sank bleich wie ein Leichentuch auf seinem Stuhl zusammen, während François fassungslos nach Luft schnappte.
Lucien stieß seinen Anwalt vor die Brust. »Was für ein Advokat sind Sie? Ein Nichtsnutz! Ein Stümper!«
»Mäßigen Sie sich!«, schrie Monsieur Tibeaut.
Chaos brach aus. Wilde Diskussionen über Manuels Unschuld und die Schuld der Ankläger brachen wie Sturmwellen über Manuel hinweg.
Nach all der Stille und Dunkelheit, in der er beinahe wahnsinnig geworden war, fürchtete er nun, den Wahnsinn in den tausenden Stimmen zu finden, die wie Paukenschläge in seinen Ohren dröhnten.
»Ruhe«, krächzte er, aber es schien, als hätte er über all die Monate seine Stimme verloren. »Ruhe«, keuchte er noch einmal.
Aus dem Chaos löste sich plötzlich Madame Bernard. Sanft legte sie Manuel die Hand auf die knochige Schulter. Es zerbrach ihr das Herz, nur noch den Schatten von Manuel vor sich zu sehen. Dennoch rang sie sich zu einem Lächeln durch, ehe sie ihren Mund öffnete. »RUHE!«, tönte sie. »RUHE!«
Erschrocken wirbelte der Inquisitor, der sich ein Wortgefecht mit Lucien und seinem Anwalt lieferte, herum. Jedes Augenpaar in diesem Raum war auf Madame Bernard gerichtet – außer eines.
Mit stolz erhobenem Kinn stand Madame Bernard da und ließ ihren Blick über die Menge schweifen. »Monsieur Epiphane möchte etwas sagen.«
Manuel erhob sich mit der Hilfe seiner Vermieterin. Auf sie gestützt und mit wackeligen Beinen, wischte er sich das verfilzte Haar aus dem Gesicht. »Monsieur Tibeaut, ich bitte Sie, vielleicht sollten wir das alles einfach vergessen.«
Madame Bernard bohrte ihre Finger etwas zu fest in Manuels muskelloses Fleisch. »Manuel, diese Leute haben dich geschlagen und verleumdet. Sie würden dich im Kerker verrotten lassen, dafür, dass du ihnen ihre Wahrheit offenbart hast«, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Auch Monsieur Tibeaut schien überrascht. Er selbst würde diese Männer zu gern für ihr hinterhältiges Verhalten bestrafen. Doch etwas an Manuel ließ ihn weichwerden, als müsste er den Wunsch eines Sterbenden erfüllen.
Lucien widmete Manuel nicht eines müden Blickes, während sein Sohn verängstigt mit seinen Händen rang. Auch François wirkte nun alles andere als überheblich. Seine Oberlippe zitterte, was seinen Schnurrbart wackeln ließ.
»Sie wollen Sie ungestraft davonkommen lassen?«
Manuel lächelte. »Sie sind doch schon gestraft. Ihre Verbitterung und ihr Frust lässt sie diese Dinge tun. Es scheint mir Strafe genug, mit einem solchen Gift zu leben, das einen langsam sterben lässt.«
»Wie können Sie es wagen«, stieß Lucien hervor. Er erhob einen Zeigefinger. »Ich bin hier, um für Gerechtigkeit zu sorgen. Für meinen Sohn und -«
»Ich bin die Gerechtigkeit«, unterbrach Monsieur Tibeaut ihn. »Und so sehr ich Manuels weise Worte und Ansichten schätze, so schätze ich Bestrafung für Taten, die anderen Menschen schaden.«
»Ich wäre damit zufrieden, wenn die drei Herrschaften sich nie wieder dem Quai de Conti und der Pont Neuf nähern dürfen.«
Lucien schnaubte.
Doch Manuel ließ sich nicht beirren. »Lucien ist gestraft genug. Er hat nun seine Glaubwürdigkeit in den hohen Kreisen einbüßen müssen. François wird keine Maronen mehr verkaufen, wo ich male, und mich belästigen. Und der junge Baptiste lernt hoffentlich daraus.« Manuel drehte seinen Kopf in die Richtung, in der er Baptiste vermutete.
Der Jüngling gefror auf seinem Stuhl, als sich der silberne Blick durch ihn hindurch bohrte wie ein Sonnenstrahl durch einen Geist.
Monsieur Tibeaut rümpfte die Nase. Seine fleischigen Finger trommelten auf der Armlehne, während er die drei Männer musterte. Nur einer – Baptiste – sah reumütig zu Boden. Seine Haut war fahl und seine Hände rangen miteinander. Sie zitterten.
Luciens versteinerte Miene hatte sich kaum verändert. In seinen Augen funkelte unbändiger Zorn, der ihn jedoch nicht davon abhielt, das Kinn hoch in die Luft zu strecken. François hingegen schien ebenfalls wenig erfüllt von Reue. Vielmehr wirkte er wie jemand, der eine gute Begründung für sein Verhalten an den Tag legte, weil Menschen wie er so etwas nun mal taten. Sie hatten für jede Tat eine Entschuldigung, eine Rechtfertigung, eine Erklärung, die sie vor allem sich selbst erzählten.
Doch Tibeaut sah auch, dass ihr Misserfolg sie gebrochen hatte. Aber würde es sie davon abhalten, wieder anderen Menschen schaden zu wollen? Würden sie Manuel Epiphane in Frieden lassen? »Ich verurteile François Blaise und Lucien Gerard zu einer Haftstrafe von 12 Monaten. Außerdem werden sie mit 100 Peitschenhieben gezüchtigt.«
Lucien stieß seinen Anwalt beiseite. »Sie verlogenes Schwein! Er hat sie ebenfalls verführt! Sie haben den Teufel in unsere heilige Mitte gelassen!«, kreischte er aus voller Kehle.
Die Gardisten stürzten sich auf Lucien, um ihn ruhigzustellen.
Baptiste schien inzwischen der Ohnmacht nah. Stumme Tränen rannen über seine blasse Haut, während François sich widerstandslos festnehmen ließ.
Monsieur Tibeaut sah zu Baptiste. »Lass dir das eine Lehre sein, Junge.«
Um Manuel herum herrschte mit einem Schlag Chaos. Die Schaulustigen in den Reihen hinter ihn erhoben sich. Lucien brüllte, fluchte, zeterte, während die Gardisten ihn dorthin schleiften, wo sie Manuel hergeholt hatten. François folgte stumm mit rasselnden Ketten und dem Blick eines geschlagenen Hundes.
Madame Bernard stützte Manuel, wie es eine Mutter tat. »Wir gehen nach Hause«, sagte sie.
Und Manuel folgte ihr. Er spürte die Erschöpfung über ihn hereinbrechen.
Es hatte einige Monate gedauert, bis Madame Bernard Manuel wieder aufgepäppelt hatte. Und nun saß er das erste Mal wieder hier, unter seinem Blauregen mit Blick auf Notre-Dame. Die Sonne ging bereits unter und die kühle Nachtluft strich ihm wie eine Katze um seine Beine.
Einige Herrschaften waren bereits auf ihn zugekommen, um sich malen zu lassen, doch Manuel hatte sie abgelehnt. Zu tief saß das Trauma der vergangenen Monate in seinen Knochen, als dass er es einfach vergessen könnte.
Er malte das, was die Vögel ihm erzählten, was sie sahen. Menschen, die an der Seine entlangschlenderten, das Sonnenlicht, wie es auf dem Wasser glitzerte.
»Guten Abend.«
Manuel fuhr zusammen, entspannte sich jedoch, als er die vertraute Stimme des Inquisitors erkannte.
»Monsieur Tibeaut«, sagte er und schob ihm eilig den Hocker hin. »Setzen Sie sich doch.«
Monsieur Tibeaut lächelte, ließ seinen Blick in den Himmel zu den Schwalben schweifen, ehe er seinen massigen Körper auf dem dreibeinigen Hocker niederließ. Dieser ächzte bedrohlich, als würde er augenblicklich zusammenbrechen.
»Wie geht es Ihnen, Manuel?«
Manuel lächelte schwach. Inzwischen war sein Haar wieder kurz, der Bart verschwunden. Dennoch hatten die Monate im Kerker ihn gezeichnet. Sein Gesicht war verhärmt und um Jahre gealtert in den unzähligen Wochen. Doch er wirkte wieder gesünder, bei Kräften. »Ich kann mich nicht beklagen«, sagte er. Tatsächlich genoss er die Freiheit und dass er sehen konnte; dass der Wahnsinn ihn nicht mit Haut und Haar verschlungen hatte.
Monsieur Tibeauts Lächeln wurde breiter. »Ausgezeichnet. Was halten Sie von einem Porträt?«
Manuel erschauderte, sein Lächeln bröckelte und er ließ den Pinsel sinken. »Wissen Sie, ich glaube, ich möchte mich zunächst nicht mehr in Porträts versuchen.«
Monsieur Tibeaut richtete sich auf, sodass sich sein wulstiger Bauch streckte. Er runzelte die Stirn. »Sie hören auf?«
Manuel legte den Kopf schief. Seine Augen glitten hinauf zu den Schwalben. »Ich weiß es noch nicht.«
Monsieur Tibeaut lehnte sich vor und legte eine Hand auf Manuels Schultern. Auch wenn er wusste, dass Manuel nicht sehen konnte, wie er ihm in die Augen blickte, so glaubte er, dass er es spüren könnte. »Das ist Ihre Gabe, Manuel, warum sollten Sie sie aufgeben?«
Manuel schlug die Augen nieder. »Die letzten Monate lehrten mich, dass sowohl Wahrheit als auch Kunst immer einen Preis haben.« Tränen schwammen in seinen Augen. »Nicht alle Menschen ertragen die Wahrheit – und nicht alle Menschen verstehen die Kunst. Der Preis, den ich dafür zahlen musste, war sehr hoch. Ich hätte die Kunst dadurch beinahe verloren.« Er hielt seinen Pinsel so fest, als fürchtete er, jemand könnte ihm ihn sogleich entreißen.
Monsieur Tibeauts Hand glitt von Manuels Schulter. Er verstand, die Angst, die ihn nun plagte. Doch er verstand auch den Wert, den Manuel in dieser Welt hatte. Und den Wert, den er dieser Welt gab. »Hören Sie nie auf, die Menschen sehend zu machen, Epiphane. Hören Sie nie auf, Ihre Wahrheit zu sprechen oder zu malen, egal, wie viele sich gegen Sie stellen.«
»Es ist nicht leicht«, sagte Manuel und richtete sein Gesicht gen Himmel, wo nun die Sterne leuchteten, fern von seinem Blick.
»Wenn Menschen mit der Wahrheit, mit ihrer Wahrheit konfrontiert werden, obliegt es ihnen, sie niederzuschmettern und als Lüge zu beleidigen ... oder sie anzunehmen und etwas zu verbessern.« Monsieur Tibeaut zuckte mit den massigen Schultern. »Aber wir dürfen niemals aufhören, die Wahrheit zu sprechen, nur weil sie den Menschen unangenehm ist.« Er erhob sich. »Und schon gar nicht dürfen wir uns von diesen Menschen unsere Bestimmung nehmen lassen. Sie sind ein wahrer Künstler, Manuel.«
Manuel seufzte. »Vermutlich haben Sie recht.«
»Das habe ich«, sagte Monsieur Tibeaut. »In einer Welt voller Lügen, ist die Wahrheit die wertvollste Währung. Und in einer Welt voll makelloser Gemälde, ist die Wahrheit die hässlichste und zugleich schönste Form der Kunst.«
Manuel lauschte, wie sich die Schwalben mit dem Einbruch der Nacht entfernten, und begann, langsam die Pinsel zu reinigen.
»Gute Nacht, Manuel.« Die Schritte des Inquisitors verloren sich in dem gedämpften Rauschen Paris'.
Er richtete seinen Kopf gen Himmel und wünschte sich, er könnte die Schönheit der Nacht sehen, die Sterne, wie sie funkelten.
Als hätte er es laut ausgesprochen, flatterte eine Nachtigall auf seine Schulter. Ihr Lied war ebenso schön wie die Geschichte der Nacht mit der Unendlichkeit der Galaxien, die in ihr sichtbar wurden.
Manuel hatte eine eigene Galaxie in seinem Kopf, eine Galaxie, die nur er sehen konnte.