Hier geht es um die folgenden Themen:
Abbruch einer Eingewöhnung und Neustart
Somatische und emotionale Reaktionen auf eine Eingewöhnung
Beziehungsaufbau zwischen Kind, eingewöhnender Fachkraft und Eltern
Kindliche Trennungsängste und Tränen
Positive Effekte einer behutsamen Eingewöhnung im Krippenalter
Für die Eingewöhnung von Felix (2,5 Jahre) hat das Team viel Zeit eingeplant. Im Vorgespräch haben die Mütter von ihrem vergeblichen Versuch berichtet, ihr Kind mit 16 Monaten an den Krippenalltag zu gewöhnen. Die Mütter berichten von einer chaotischen Eingewöhnung mit häufig wechselndem Personal. In den ersten Wochen konnte Felix kurze Trennungen gut bewältigen. Er hatte eine einfühlsame Bezugserzieherin, die ihn gut beruhigen konnte. Diese Erzieherin konnte die Eingewöhnung von Felix aufgrund ihrer Kündigung jedoch nicht fortsetzen. Nach dem Wegfall der sicheren Basis sei Felix wie ausgewechselt gewesen. Bereits am Morgen wollte er nicht mehr das Haus verlassen und weinte bitterlich. Die Mütter brachten Felix gegen seinen Willen jeden Tag erneut in die Kita. Die pädagogischen Fachkräfte bestanden auf die Fortsetzung sowie kontinuierliche Steigerung der Trennungsversuche, die jedoch desaströs verliefen. Felix weinte intensiv bei jeder Trennung und konnte von niemandem beruhigt werden. Er lief dem zurückkehrenden Elternteil völlig aufgelöst und verschwitzt in die Arme. Dabei war es mehrmals zu Situationen gekommen, in denen Felix sich übergeben musste – so stark war seine innere Anspannung im Rahmen der Trennungssituation gewesen. „Er weint aus Wut und Trotz. Er wird sich daran gewöhnen“ – verunsichert durch diese Rückmeldungen aus dem eigenen Familien- und Freundeskreis hielten die Mütter daran fest, Felix weiter in die Kita zu bringen.
Felix verlor daraufhin an Gewicht, entwickelte chronische Ohrbeschwerden, die mehrmals antibiotisch behandelt werden mussten, und entwickelte eine extreme Anhänglichkeit gegenüber den Müttern. Er lehnte jeden Kontakt mit den Großeltern vollständig ab, obwohl eine Betreuung durch diese vor dem Kita-Start völlig unproblematisch gewesen war. Allerdings ließ er sich nach einiger Zeit ohne große Schwierigkeiten am Morgen abgeben, zeigte jedoch Wesensveränderungen, die neben dem Gewichtsverlust große Sorgen auslösten. Wenn die Mütter ihn abholten, so saß er zwar bei den anderen Kindern oder hielt ein Spielzeug in der Hand. Aber es war offensichtlich, dass er nicht mit den anderen Kindern spielte und ebenso wenig alleine spielte. Wenn er „Mami“ oder „Mama“ erblickte, so huschte kein Lächeln oder sichtbare Freude über sein Gesicht. Vielmehr sah er durch seine Mütter hindurch und schien erst nach einer gewissen Zeit zu realisieren, dass die Abholzeit gekommen war. Nach rund vier Monaten war die Situation für die Mütter nicht mehr tragbar und sie kündigten den Vertrag. Es dauerte fast zwei Monate, bis sich Felix von den Strapazen erholte und wieder der „alte Felix“ war.
Die neue Eingewöhnung von Felix dauerte rund drei Monate. Er durfte sich dabei selbst einen Bezugserzieher – Matias – wählen und konnte zu diesem eine gute, stabile Bindung aufbauen. Der erste Trennungsversuch fand in der vierten Woche statt, und dieses behutsame Vorgehen war für alle Beteiligten sinnvoll.
Die Mütter übernahmen im Wechsel die Eingewöhnung und Felix zeigte bei beiden Elternteilen identisches Beziehungs- und Spielverhalten. Felix suchte beim Betreten des Kita-Raums stets intensiv die Nähe von „Mama“ oder „Mami“ auf, konnte sich dann aber immer besser lösen und auf den Kontakt mit seinem Bezugserzieher einlassen. Die erste Trennung war durchaus emotional. Auch die anwesende Mutter, „Mami“, war sichtlich ergriffen und Felix wiederum klammerte sich fest an sie. Er konnte jedoch an Matias übergeben werden. Im inzwischen vertrauten Körperkontakt beruhigte er sich rasch und nachhaltig.
Auch in den nächsten Wochen waren die Trennungen emotional. Fachkraft Matias konnte Felix jedoch immer rascher verstehen und trösten. Felix zeigte sehr bald Wiedersehensfreude, wenn er „seinen“ Bezugserzieher erblickte, und gerade dieses Verhalten war für die Mütter ein sichtbares Zeichen dafür, dass ihr Kind eine gute Beziehung zu Matias aufgebaut hatte. Bei allen Beteiligten wuchs, Woche für Woche, die Zuversicht, dass die Vorgehensweise richtig war. Die Mütter fühlten sich verstanden und angenommen vom pädagogischen Team, das deren Einsatz einfühlsam wertschätzte. Nach dieser schweren Erfahrung, die bei den Müttern große Schuldgefühle hinterlassen hatte, war die neue Eingewöhnung mit vielen Ängsten verbunden gewesen. Das anfängliche Versprechen, dass man diese Eingewöhnung bindungsorientiert und anders gestalten werde, hatte die Mütter nachhaltig beruhigt und ihr Vertrauen in die neue Einrichtung gestärkt.
Menschen unterscheiden sich in der Funktionalität ihres Stresssystems. Dies zeigt sich bereits im Kindesalter. So gibt es Kinder, die gelassener auf eine neue Umgebung oder neue Erfahrungen reagieren. Bei anderen Kindern wiederum führen neue Situationen oder Anforderungen zu einer stark erhöhten Cortisol-Freisetzung, was diese besonders verletzlich und anfällig für intensive Stressreaktionen macht (Strüber 2019). Dies erklärt, warum Eingewöhnungen – auch wenn die Rahmenbedingungen optimal sind – langwierig, kräftezehrend oder kaum durchführbar sein können.
Viele Kinder können im Rahmen ihrer Eingewöhnung heftige Reaktionen zeigen. Sie schreien intensiv, klammern sich wie Ertrinkende an den eingewöhnenden Elternteil an und möchten ihre Bindungsperson auf keinen Fall gehen lassen. Sie wirken untröstlich. Kann die pädagogische Fachkraft das Kind rasch und nachhaltig innerhalb weniger Minuten beruhigen, so ist dies in aller Regel ein positives Zeichen für eine positive Beziehungsentwicklung. Ein Kind sucht bei Angst und emotionaler Verunsicherung die sichere Basis – in diesem Fall die Fachkraft – auf, kann sich nach einer gewissen Zeit aber auch wieder von ihr lösen. Das sichtbare Wechselspiel von Bindungs- und Explorationsverhalten ist ein zentrales Merkmal davon, dass ein Kind im Krippenalter in der pädagogischen Einrichtung de facto angekommen ist.
Wenn ein Kind bei der Trennung von den Eltern länger als ungefähr zehn Minuten weint, dabei sehr panisch klingt und jeglichen Körperkontakt mit der Fachkraft ablehnt, so hat es noch keine ausreichend sichere Beziehung zu dieser aufgenommen. Dies führt in aller Regel zu einer erhöhten Ausschüttung von Cortisol (Strüber 2019).
Was passiert, wenn diese Situation langfristig unverändert bleibt? Jene Kinder zeigen möglicherweise im Rahmen der Abgabesituation weniger Trennungsprotest, sind tagsüber oftmals jedoch weinerlich und rufen immer wieder nach ihren Eltern. Die Kinder zeigen kaum Explorationsverhalten und „hängen“ durchgängig am Rockzipfel der pädagogischen Fachkraft. Hat diese zu wenige Ressourcen – wie nachvollziehbar –, so wandern diese Kinder mehr oder weniger ziellos herum. Sie können kein wirkliches Spiel beginnen und wirken traumverloren-abwesend. Ihr Blick wirkt verhangen und leer. Oder sie ziehen sich überwiegend in „ihre“ Ecke zurück, die zu einem Schutzraum geworden ist. Dort sitzen sie und warten darauf, wieder abgeholt zu werden. Manche Kinder beginnen ein intensives Schlafverhalten zu entwickeln und entziehen sich auf diese Weise der inneren Anspannung. All dies sind jedoch Kennzeichen von emotionaler Taubheit und Erstarrung, was im Englischen als „Numbing“ bezeichnet wird. Jene Kinder wirken niemals fröhlich, heiter oder gelöst. Fachkräfte sollten bei einer solchen Beobachtung aufmerksam und bedacht reagieren. Es bedarf einer Abklärung, ob das Kind resignative Zeichen zeigt. Das kindliche Gehirn schaltet nicht mehr in den aktiven Bewältigungsmodus, denn dies wäre verschwendete Energie. Anstatt weiter mit einer erhöhten Cortisolfreisetzung auf die missliche Situation zu regieren, entwickelt sich eine Cortisolunterfunktion (Strüber 2019). Dies erklärt den verminderten Antrieb und die Auffälligkeiten im kindlichen Verhalten.
Wie lässt sich dies erklären? Cortisol hat stets zwei Wirkungseffekte:
• Ein Cortisol-Schub macht das Gehirn „leistungsbereit“.
• Es erhöht die innere Bereitschaft, sich im Anschluss an eine Stresssituation reflektierend mit dieser auseinanderzusetzen. Daraus gewonnene Erkenntnisse werden lernend integriert und im Verhaltenssystem abgespeichert.
Ein Mangel an Cortisol führt dazu, dass diese Prozesse ausbleiben oder zumindest erschwert sind (Strüber 2019). Diese neurowissenschaftlichen Einsichten untermauern die Wichtigkeit einer bindungs- und beziehungsorientierten Begleitung von Kindern in ihren Familien und ebenso in pädagogischen Einrichtungen. Die Beteiligten sollten die Affektregulation des Kindes somit als gemeinsame Aufgabe einer gelingenden Erziehungspartnerschaft begreifen. Dies wirkt sich schützend auf das kindliche Gehirn aus und ist somit von fundamentaler Bedeutung für die Entwicklung des Kindes.