Hier geht es um die folgenden Themen:
Kinder, die wenig Bindungsverhalten zeigen
Rastloses Spielverhalten
Nachfolgeverhalten im Kindesalter
Trost und Sicherheit als kindliche Grundbedürfnisse
Psychische Belastungsepisoden bei Eltern, in diesem Fall Depression
Der inzwischen zweijährige Aaron wurde im Alter von zehn Monaten in der Kinderkrippe eingewöhnt. Die Eingewöhnung, vom Vater übernommen, verlief einfach und rasch. Aaron, inzwischen überdurchschnittlich groß für sein Alter, wirkt sehr selbstständig. Während seiner bisherigen Kita-Laufbahn musste Aaron häufig mit neuen pädagogischen Fachkräften zurechtkommen, da es zu Kündigungen oder längeren Ausfällen des Personals gekommen ist. Aaron akzeptiert rasch neue Betreuungspersonen, scheint jedoch auch keine spezielle Präferenz gegenüber einer bestimmten Person im Kita-Team auszubilden. So kann er von allen im Team getröstet werden, aber insgesamt ergeben sich auch kaum Situationen, wo dies notwendig erscheint.
Aaron ist aus Sicht der Eltern von Anfang an „ein pflegeleichtes Kind“ gewesen. Was die Eltern jedoch zunehmend beschäftigt und sich auch im Krippenalltag immer deutlicher zeigt, ist eine gewisse Rastlosigkeit im kindlichen Verhalten. So sucht Aaron zwar den Kontakt mit anderen Kindern und gesellt sich zu ihnen, aber es findet keine wirkliche Begegnung statt. Aaron wirkt unbeteiligt, manchmal beinahe freudlos, wenn er auf andere Menschen trifft. Auch im Kontakt mit dem Kita-Personal zeigt sich dieses Verhalten. Sobald sich ein gemeinsames Spiel oder ein Gespräch entwickeln könnte, verlässt Aaron von sich aus die Situation und zieht weiter. Ferner ist es für Aaron nicht möglich, in eine vertiefte, konzentrierte Spielsituation zu finden. So nimmt er sich Spielsachen, wirft einen kurzen Blick darauf, scheint dann jedoch in Ratlosigkeit zu verfallen, was damit anzufangen sei. Er lässt das Spielzeug fallen, widmet sich dem nächsten Objekt, das erneut auf Desinteresse zu stoßen scheint, und ist bereits beim nächsten Gegenstand. Aaron ist also ständig überall und dennoch nicht greifbar. Im Rahmen einer Supervision spricht das Team über Aarons Entwicklung und sein derzeitiges Verhalten. Dieses führt zu einer ständigen Unruhe in der Gruppe, und es entwickelte sich der Wunsch, Aaron besser zu verstehen.
Wie entwickelt sich das kindliche Spielverhalten?
Zweijährige Kinder spielen in aller Regel noch wenig konsistent miteinander, sodass häufige Unterbrechungen zu beobachten sind. Es gibt jedoch Sequenzen, in denen das Spiel eindeutig aufeinander bezogen ist. Man tauscht Spielzeuge oder rollt einen Ball hin und her. Ausgeprägtes Beobachtungsverhalten findet häufig statt. Dies führt dazu, dass Kinder sich im Spiel, in ihren Tätigkeiten aufeinander beziehen, was als Parallelspiel bezeichnet wird. Schon kleine Kinder profitieren voneinander. Sie bieten sich gegenseitig Lern- und Entwicklungsanreize, die Erwachsene in dieser Form nicht anbieten können. Im Zusammensein mit den Peers verbirgt sich bereits in den jungen Jahren ein bedeutsames Bildungs- und Lernpotenzial.
Im Lauf der weiteren Entwicklung verändert sich das kindliche Spielverhalten hin zu einem kooperativen Spielstil, der wechselseitig aufeinander bezogen und abgestimmt ist. Diese Ausdrucksform des kindlichen Spiels zeigt sich erst ab ungefähr drei Jahren (Höhl & Weigelt 2015).
Erzieher Jens, lustig sowie aktivierend in seinem Spielverhalten, kümmert sich in den nächsten Wochen mehr um Aaron – dies ist ein Ergebnis der Supervision. Er spielt mit Aaron auf eine aktivierende, humorvolle Art. Dies verändert die Situation. Aaron beginnt Jens immer mehr nachzufolgen und fordert ihn immer häufiger als gewünschten Spielpartner ein. Dies führt zu einer ruhigeren Gruppenatmosphäre, da Aaron weniger getrieben durch den Raum rennt. Ein kleiner Sturz Aarons von der Sprossenwand beim Turnen – auf eine weiche Matratze – verändert alles. Es ist für das gesamte Team ein emotionaler Moment, als sich Aaron nach diesem keinesfalls dramatischen Sturz auf herzzerreißende Art in die Arme von Jens wirft und mit einer Intensität weint, die für Aaron völlig untypisch ist. Aaron wird so lange von Jens getröstet, bis es aus Sicht von Aaron „wieder gut“ ist und er sich selbstbestimmt wieder lösen kann.
Nach diesem Ereignis zeigt Aaron nun häufiger ruhigere Spielepisoden mit anderen Kindern und er findet auch mehr allein in eine vertiefte, kurze Spielsituation. Den Eltern ist Aarons „Verwandlung“ nicht verborgen geblieben, wie sich im Entwicklungsgespräch, von Jens geführt, abzeichnet. Die Eltern sind verwundert darüber, dass sich Aaron ihnen gegenüber plötzlich etwas anhänglicher verhält, drücken zugleich Freude und Erleichterung darüber aus, dass ihr Kind ruhiger und entspannter wirkt. Unter Tränen berichtet die Mutter schließlich davon, dass sie wenige Wochen nach der Geburt von Aaron eine heftige Depression entwickelt habe. Es gehe ihr nun – dank einer gut eingestellten Medikation sowie von Psychotherapie – deutlich besser. Die Schuldgefühle, damals nicht ausreichend für ihr Baby dagewesen zu sein, verfolgen sie bis heute. Der Vater wiederum berichtet von eigener Überforderung und Hilflosigkeit, was aus seiner Sicht sicherlich dazu beigetragen hat, Aarons selbstständige Entwicklung voranzutreiben. Dass Aaron nun plötzlich mehr Beziehungszeit einfordert, wird in dem gemeinsamen Gespräch als positiver Entwicklungsschritt von allen Seiten bestätigt. Die Mutter, davon sichtlich berührt, erkennt für sich eine Chance, die überschattete Babyzeit in gewisser Weise nachzuholen. Dies wird als wichtiges Ergebnis des gemeinsamen Gesprächs betrachtet.
Aaron, zwar kein Säugling mehr, aber immer noch klein, fordert die emotionale Präsenz seiner Eltern in der nächsten Zeit jedoch deutlich ein. Es kommt verstärkt zu emotionalen Abschieden am Morgen, wo sich Aaron kaum von einem Elternteil lösen kann. Jens und eine weitere Kollegin können die Familie während dieses Übergangs jedoch sehr gut begleiten. Aaron gelingt es nun immer häufiger, freudig an Gruppenaktivitäten teilzunehmen und er spielt nun erstmals gerne mit Spielsachen. Nach weiteren acht Monaten hat sich Aaron sehr gut entwickelt und ist ein beliebter Spielpartner geworden. Der Übergang in den Kindergarten gelingt sehr gut und die Eltern danken dem gesamten Team für die gute und wertvolle Zeit in der Kinderkrippe.
Ungefähr jede zehnte Wöchnerin entwickelt eine postpartale Depression. Ein verminderter Antrieb und eine erhöhte Reizbarkeit sind Leitsymptome. Ebenso können sich Selbstzweifel sowie Ängste zeigen. Die hormonelle Umstellung wird als auslösender Faktor betrachtet sowie Mutterschaft per se als krisenhaftes Lebensereignis, was mit einer erhöhten Verletzlichkeit einhergeht. Säuglinge und Kleinkinder von depressiven Müttern reagieren daraufhin mit Rückzug, zeigen weniger positive Affekte im Kontakt mit der Mutter und vermeiden zudem die Aufnahme von Blickkontakt mit dieser (Reck 2007).