Hier geht es um die folgenden Themen:
Unzuverlässiges Elternverhalten in Bezug auf Elterngespräche
Gestaltung von Übergängen, in diesem Fall das Abholen
Kindliche Erschöpfung und fehlende Routine beim Schlafen
Zweite Schwangerschaft und Auswirkungen auf das Familiensystem
Entwicklung von Freundschaften im frühen Kindergartenalter
Kindliche Gefühlsausbrüche und emotionale Co-Regulation
Aufbau eines unterstützenden Familien-Netzwerks
Die Eltern von Bartoz beklagen im Rahmen von Tür-und-Angel-Gesprächen wiederholt eine gewisse Ratlosigkeit im Umgang mit ihrem Kind. Er besucht seit sechs Monaten den Kindergarten. Bartoz, inzwischen dreieinhalb Jahre alt, hat aus Sicht der pädagogischen Fachkräfte noch nicht Anschluss in der Kindergruppe gefunden. Eine Einladung zu einem Zwischengespräch nehmen die Eltern gerne an. Wenige Stunden vor dem geplanten Termin sagen die Eltern ab, und ein weiterer Termin muss ebenfalls verschoben werden. Nach dem dritten Versuch klappt es endlich: Beide Elternteile sitzen im Büro von Leitung Franzi. Die Eltern haben Kuchen mitgebracht. Sie sind sichtlich enttäuscht, als Franzi sich dafür bedankt, aber aktuell nichts davon probieren möchte. Franzi bemerkt dies und bedankt sich noch einmal herzlich für die Mühe und erklärt ihre Entscheidung: „Gerne probiere ich später von dem Kuchen, den Sie sogar selbst gebacken haben. Das Team freut sich immer sehr über solche Leckereien. Gerade möchte ich mich aber voll und ganz auf unser Gespräch konzentrieren. Es war gar nicht so leicht, dass ein Termin zustande kommt. Schön, dass Sie heute hier sind, sogar beide Elternteile. Sie sind zeitlich sehr eingebunden, oder?“
Dass Franzi die Absagen so direkt aufgreift, scheint die Eltern zu verunsichern. Sie benennen verschiedene Gründe, allen voran Stress in der Arbeit, wenig Zeit und dann noch Bartoz’ schwieriges Verhalten. Franzi kommentiert dies wieder direkt: „Umso mehr freut es mich, dass Sie heute hier sind. Manchmal ist es gar nicht so einfach, sich Zeit für ein Elterngespräch zu nehmen. Man freut sich vielleicht ein bisschen darauf, da man etwas über sein Kind erfährt. Zugleich befürchtet man vielleicht auch, dass man schwierige Fragen gestellt bekommt oder dass das Kind gar Probleme hat, von denen man bislang noch nichts wusste. Das geht vielen Eltern so. Wir arbeiten hier mit den Eltern zusammen. Wir wollen, dass die Kinder eine gute Kindergartenzeit haben. Das geht am besten, wenn sich die pädagogischen Fachkräfte und die Eltern austauschen. Das ist das Ziel unseres Gesprächs. Bartoz ist ein toller Junge. Er kann schon richtig viel und wir haben den Eindruck, er kommt gerne hierher.“ Diese Sätze scheinen wie ein Wundermittel zu wirken. Die Körperhaltung der Eltern entspannt sich. Auf ihren Gesichtern ist erstmals ein Lächeln zu sehen.
Auch die Eltern berichten davon, dass Bartoz gerne in den Kindergarten geht. Aber schon am Morgen kommt es zu vielen schwierigen Situationen, denn man könne ihm nichts recht machen. Beim Abholen wirke er sehr erschöpft. Das Drama beginne in der Regel, sobald man den Kindergarten verlasse. Er werfe sich auf den Boden, weigere sich, nach Hause zu gehen, und müsse zum Lastenrad getragen werden. Zu Hause raste er regelmäßig aus – wegen Kleinigkeiten. Die Situation verschlimmere sich sofort, wenn man sich nicht mit ihm beschäftige.
Sind Kinder wütend, so führt die Aktivierung des sympathischen Nervensystems zur Freisetzung von Cortisol und Noradrenalin.
Dies nimmt Einfluss auf die Bereitschaft, sich ablenken zu lassen und flexibel über Alternativen nachzudenken. Es erklärt die „Uneinsichtigkeit“ kleiner Kinder bei Wutausbrüchen und das Unvermögen, sich auf Lösungen einzulassen. Cortisol hat jedoch zwei Wirkungsprinzipien. Nach ungefähr einer Stunde fördert Cortisol erstaunlicherweise ebenso Ruhe und Entspannung (Strüber 2019). Viele Kinder suchen nun von sich aus die Nähe der Bindungsperson auf und zeigen Bindungsverhalten. Sie wünschen sich Trost und Rückversicherung. Bei Kindern ab dem Kindergartenalter kann sich außerdem eine gewisse Einsicht einstellen. Es ist dann auch möglich, ein ruhiges Gespräch zu führen sowie über Alternativen zu sprechen, was man beim nächsten Konflikt besser gestalten könnte.
Bartoz’ Mutter, erneut schwanger, gibt sehr offen zu, dass ihr häufig die Geduld fehlt. Die starke Übelkeit ist inzwischen verschwunden, eine starke Müdigkeit jedoch geblieben. Aus diesem Grund habe sie kaum Energie für ihren Sohn und lasse ihn deshalb so lange wie möglich im Kindergarten. In den letzten Wochen wurde Bartoz oft als Letzter – gegen 16.30 Uhr – abgeholt. Manchmal sei er auf dem Nachhauseweg sofort eingeschlafen. Auch bei kurzer Schlafdauer zeigt sich ein positiver Erholungseffekt: Bartoz verhält sich deutlich kooperativer. Dieser positive Effekt verringert sich jedoch, wenn das abendliche Einschlafen ansteht. Wenn Bartoz nachmittags geschlafen hat, so findet er stets sehr spät in den Nachtschlaf, manchmal erst gegen 23 Uhr. Dies wiederum erschöpft die Eltern erneut. Natürlich ist ihr Sohn am nächsten Tag nicht ausgeruht und möchte nicht aufstehen. Ein Teufelskreislauf: Lasse man ihn schlafen, sei er zu lange wach und erneut am Nachmittag müde. Lasse man ihn nicht schlafen, seien die Abendstunden von zahlreichen Wutausbrüchen getrübt. Die Eltern besorgt es außerdem, dass Bartoz bislang noch keine Freunde gefunden hat. Sie sind sich unsicher, ob die Betreuung in einer so großen Kindergruppe ihr Kind überfordert.
Was wissen wir über gute Betreuung?
Je jünger ein Kind ist, desto bedeutsamer ist das konsistente, responsive Eingehen auf kindliche Affekte sowie Äußerungen. Die prompte Reaktion der Bezugsperson vermittelt ein erstes Erleben von Selbstwirksamkeit: „Ich kann aktiv Einfluss auf meine Umwelt nehmen.“ Erfolgt die Antwort der Bezugsperson dagegen überwiegend verspätet oder bleibt sogar möglicherweise aus, so kann dies mit negativen Folgen für die kindliche Entwicklung einhergehen. „There is no such thing as a baby“ – dieses berühmte Zitat des Psychoanalytikers D.W. Winnicott beschreibt treffend die existenzielle Abhängigkeit des kleinen Kindes von seiner Umwelt. Ein kleines Kind ist alleine nicht überlebensfähig. Ein Kind kann seine Entwicklung nicht auf später verschieben. Es kann erst zu einem Kind werden, wenn eine entwicklungsförderliche Umwelt sich seiner annimmt und ihm das Kindsein ermöglicht.
Eine feinfühlige (Einzel-)Betreuung ist in den ersten Lebensjahren sehr bedeutsam. Früher oder später werden Kinder in aller Regel Teil einer Kindergruppe. Damit für junge Krippenkinder weiterhin eine fürsorgliche Betreuung garantiert ist, empfiehlt die Wissenschaft schon lange einen Betreuungsschlüssel von 1:3. Eine pädagogische Fachkraft kümmert sich dann um drei Kinder. Im Kindergarten wird ein Betreuungsschlüssel von 1:7,5 noch als vertretbar eingeschätzt (Bertelsmann Stiftung 2020).
Befunde zeigen außerdem, dass Kinder sich in der Betreuung wohlfühlen und eine sichere Beziehung zu mindestens einer Fachkraft aufnehmen, wenn es dieser gelingt, die gesamte Kindergruppe empathisch zu begleiten. Eine beziehungsbezogene Gruppenatmosphäre ist entscheidend, sodass die Bedürfnisse der Kinder austariert und das Verhalten der Fachkräfte abgestimmt erfolgt (Ahnert 2020).
Im Gespräch mit den Eltern werden folgende Lösungen erarbeitet:
• Für die nächsten vierzehn Tage wird eine verbindliche Abholzeit von 14.30 Uhr festgelegt. Das Bringen am Morgen wird ab sofort von der Mutter übernommen. Dies hat den Vorteil, dass der Vater früher mit seiner Arbeit beginnen und früher wieder zu Hause sein kann, um seine schwangere Frau mehr zu entlasten.
• Die Eltern halten Ausschau nach einer zusätzlichen Betreuungsperson, die in den Nachmittagsstunden sowie nach der Geburt des Babys mithelfen kann.
• Bartoz hat schon öfter mit einem gleichaltrigen Jungen gespielt, der ebenfalls auf der Suche nach Freundschaft ist. Die Eltern werden erneut mit der anderen Familie in Kontakt treten, um die Beziehung der Gleichaltrigen zu stärken.
• Wenn Bartoz starke Gefühlsausbrüche hat, so sollen die Eltern möglichst ruhig mit ihrem Kind umgehen.
Nach rund zwei Monaten findet ein weiteres Gespräch statt. Der Familie geht es deutlich besser. Dass sich der Vater engagierter in die Betreuung und Erziehung von Bartoz einbringt, entlastet die Mutter sehr. Die Beziehung zum Vater hat sich deutlich verbessert und dieser nimmt sich erstmals in seiner Vaterrolle als bedeutsam wahr. Diese Entwicklung ist auch hinsichtlich der bevorstehenden Geburt des zweiten Kindes wichtig. Der Vater unternimmt mit seinem kleinen Sohn nun regelmäßig alleine etwas, geht mit ihm schwimmen, bringt ihm das Radfahren bei, besucht Spielplätze und den Zoo. Diese Erlebnisse stärken Bartoz. Er wirkt selbstbewusster und erzählt nun erstmals im Morgenkreis etwas von sich und seinen Erlebnissen.
Die Familie hat außerdem eine nette Studentin gefunden, die Bartoz einmal wöchentlich vom Kindergarten abholt und etwas mit ihm unternimmt. Die Freundschaft zu dem gleichaltrigen Jungen entwickelt sich positiv, und auch zwischen den Eltern ist eine Freundschaft entstanden, sodass sich die Familien regelmäßig treffen.
Die kürzere Betreuungsdauer wird vorerst so beibehalten: Bartoz ist im Anschluss an die Betreuung deutlich weniger erschöpft und übelgelaunt. Der Tag-Wach-Rhythmus ist wieder von Regelmäßigkeit geprägt. Die Eltern hatten vor dem Gespräch keinerlei Unterstützung durch andere gehabt. Nun ist ein stabiles Netzwerk entstanden, bestehend aus Kindergarten, einer anderen Familie sowie der Studentin.
Emotionsregulation
Kinder profitieren davon, wenn Bezugspersonen ihnen dabei helfen, sich von ihrem intensiven Emotionserleben zu distanzieren. Dies wird möglich durch beruhigenden Körperkontakt sowie durch bewusste Umlenkung der ursprünglichen Intention. Das Kind lernt auf diese Weise, dass Wünsche nicht immer durchsetzbar sind. Durch das Finden von Lösungen und Alternativen wird es möglich, sich davon auch wieder angemessen zu distanzieren.