Hier geht es um die folgenden Themen:
Kindliche Gefühlsausbrüche und emotionale Co-Regulation
Dynamik zwischen Geschwistern
Elterliche Zusammenarbeit und Auswirkungen auf das Familiensystem
Erziehungskonflikte und Familiendynamik
Kindliche Präferenz eines Elternteils und mögliche Veränderungen
Stärkung von Eltern im Umgang mit Eltern-Kind-Konflikten
Die Mutter von Jonah (vier Jahre) bittet das Kindergartenteam um ein zeitnahes Entwicklungsgespräch. Sie empfindet Jonah seit Wochen als extrem schwierig. Er verweigere beständig die Kooperation und habe aufgrund von Kleinigkeiten starke Wutausbrüche. Biete man ihm eine Sache an, so sei das Angebot, der Vorschlag grundsätzlich falsch. Höre man auf, ihm Alternativen anzubieten, so verstärke sich die Wut. Jonah hat mehrfach versucht, seine Mutter zu schlagen. Der jüngere Bruder hat hierauf ängstlich reagiert und zu weinen begonnen. In diesen Situationen war der Vater als regulierende Instanz nicht verfügbar. Inzwischen hat sich ein ewiger Kreislauf aus Wut und Schimpfen ergeben.
Auch Erzieher Wassily ist aufgefallen, dass Jonah in der letzten Zeit vermehrt Schwierigkeiten hat, sich an Regeln zu halten. Er ist häufig in Konflikte mit anderen Kindern involviert, wobei diese verbal sowie körperlich ausgetragen werden. Wenn man mit Jonah dann vernünftig spreche, ihn auf Grenzen und Regeln hinweise, so habe dies positive Effekte. „Jonah verhält sich meist einlenkend und gesprächsbereit“ – so lautet das Feedback von Wassily. Gemeinsam werden verschiedene Situationen besprochen, die die Mutter derzeit als herausfordernd erlebt.
Die mütterliche Reaktion gestaltet sich in Konfliktsituationen überwiegend wie folgt:
• Die Mutter sorgt sich um die Beziehung zu ihrem Sohn, die sich seit der Geburt des Bruders vor einem Jahr verschlechtert hat. Die Ablehnung macht ihr sehr zu schaffen. Jonah bevorzugt seitdem deutlich seinen Vater.
• Die Mutter fürchtet eine weitere Verschlechterung der Beziehung, wenn sie bei einem „Nein“ bleibt, auch dann, wenn es sinnvoll und wichtig erscheint. Sie verhält sich widersprüchlich.
• Dies wiederum verärgert den Vater und führt immer häufiger zu Konflikten zwischen den Eltern. Der Vater spricht sich für mehr Regeln und Grenzen aus. Werden diese von ihm kommuniziert, so verhält sich Jonah meist kooperativ und einsichtig.
• Die Mutter fühlt sich schon länger überflüssig und störend in der engen Vater-Sohn-Beziehung. Sie kümmert sich um den jüngeren Bruder, der bislang noch wenig Beziehung zu seinem Vater aufgenommen hat. Diese Aufteilung der Kinder belastet die Mutter immer mehr.
In einem einfühlsamen, wertschätzenden Gespräch können die Sorgen der Mutter besprochen werden. Entscheidend für den Gesprächsverlauf ist Wassilys Haltung gegenüber der Mutter: „Manchmal haben es Eltern schwer. Es ist eine familiäre Dynamik entstanden, die alle mehr oder weniger belastet. Sich dann Hilfe zu holen und darüber zu sprechen, erfordert Mut. Aber es ist wichtig, damit eine Veränderung möglich wird.“
Die Einsicht, dass Jonah kein schwer erziehbares Kind ist, vielmehr die aktuelle Familiendynamik das aufbrausende Verhalten befeuert, kann von Seiten der Mutter gut angenommen werden. Jonah hatte vor der Geburt des jüngeren Bruders eine gute, innige Beziehung zu seiner Mutter. Vielleicht sind die Wutausbrüche ein kindlicher Lösungsversuch, die mütterliche Aufmerksamkeit auf störende Art zu generieren. Anstatt sich auf die aktuellen Schwierigkeiten zu fokussieren, lenkt Wassily den Blick auf positive Entwicklungen bei Jonah. Die Mutter kann dies gut aufgreifen und durch eigene Beobachtungen ergänzen. Dies hat für sie eine sehr entlastende Wirkung.
„Wutausbrüche und starke Gefühle sind beinah schon normal bei Kindern, auch noch im Kindergartenalter. Dennoch ist es wichtig, angemessen Regeln und Grenzen zu benennen. Das Kind darf darüber seine Wut ausdrücken. Wenn diese Wut zusammen ausgehalten wird, wenn die Eltern trotz des Konflikts nicht mit einem Beziehungsabbruch drohen, so müssen sie auch nicht um eine Beschädigung der Beziehung fürchten. Eltern und Kinder können gemeinsam die wichtige Erfahrung machen, dass Konflikte im Alltag dazugehören.“ Diese neue Einsicht zeigt rasch eine positive Wirkung. Anstatt sich in Erklärungen zu verlieren oder sofort Alternativen anzubieten, vertritt die Mutter nun selbstbewusster ihre Entscheidungen. Anstatt ihrem Kind sofort hinterherzulaufen, wenn Jonah wütend in sein Zimmer rennt und die Türe hinter sich zuknallt, hält die Mutter die Konfliktsituation nun besser aus. Beide Elternteile sind überrascht davon, wie schnell sich Jonah in seinem Zimmer alleine beruhigen kann. Alsbald sucht er von sich aus wieder die Nähe zu Mutter oder Vater auf und verhält sich einlenkend und gesprächsbereit. Es kommt immer häufiger zu guten Gesprächen sowie emotionalen Versöhnungsszenen zwischen Mutter und Sohn. Diese positive Entwicklung geht wiederum mit positiven Effekten für die elterliche Paarbeziehung einher. Der Vater hat mehr Freiräume, sich um seinen jüngeren Sohn zu kümmern, da ihn Jonah nicht mehr beständig okkupiert. Dies wiederum befreit die Mutter von der Pflicht, sich andauernd um das jüngere Kind zu kümmern. Sie hat wieder mehr Ressourcen für ihren Erstgeborenen. Dies stimmt sie zuversichtlich, dass die frühere gute Beziehung zu Jonah nicht einfach verschwunden ist. Allein schon die Tatsache, dass sie Jonah morgens nun häufig allein zum Kindergarten bringt, hat einen beziehungsstärkenden Effekt. Die Wutausbrüche nehmen rasch an Heftigkeit und Intensität ab.
Wie kann man starke Gefühle begleiten?
Ein wütendes Kind kann sich in aller Regel nicht auf den beruhigenden Körperkontakt mit einer Bezugsperson einlassen. Insbesondere jüngere Kinder werden von starken Gefühlen förmlich überflutet. Sie schreien laut, werfen sich auf den Boden, strampeln mit den Füßen und schlagen möglicherweise sogar um sich. Auch kann es dazu kommen, dass sie Gegenstände werfen oder sogar gezielt den anwesenden Erwachsenen angreifen, indem sie diesen schlagen, beißen oder in dessen Richtung spucken. Natürlich sind die Erwachsenen dann dazu aufgefordert, sich selbst zu schützen. Zugleich ist die Wartekompetenz der Erwachsenen gefragt: Es gilt, die Situation anzunehmen und gemeinsam mit dem Kind das starke Gefühl auszuhalten. Manche Kinder weinen intensiv, beruhigen sich nach wenigen Minuten wieder. Andere Kinder sind untröstlich, sodass sie bis zu dreißig Minuten und länger intensiv ihre Gefühle ausdrücken. Abzuwarten, bis das Kind selbst „genug“ von seinem Gefühl hat und langsam wieder in eine andere Bewusstseinssphäre eintaucht, sollte im Methodenkoffer der Erwachsenen als wichtige Strategie enthalten sein.
Im Anschluss an einen Wutausbruch werden die meisten Kinder wieder ruhiger und zugänglich. Die Bindungsperson kann – je nach kindlicher Stimmungslage – vorsichtig Körperkontakt anbieten und z. B. über den Rücken des Kindes streichen. Sie kann einfühlsam mit Worten beschreiben, was sich gerade ereignet hat: „Du warst so wütend und aufgeregt, dass wir heute nicht in die Turnhalle gehen. Du hast dich so darauf gefreut und warst ganz enttäuscht, dass das Turnen heute nicht stattgefunden hat, oder? So eine Aufregung!“
Die Arbeit an der eigenen Haltung im Umgang mit kindlichen Affekten ist die wichtigste Aufgabe der Erwachsenen. Eine annehmende und ruhige Umgebung hilft dem Kind extrem dabei, den übererregten inneren Spannungszustand wieder zu verlassen.