Hier geht es um die folgenden Themen:
Kennzeichen einer sicheren Fachkraft-Kind-Beziehung
Elternnöte im Umgang mit kindlichem Essverhalten
Kindeswohl und Vernetzung von Fachkräften
Elterliche Zusammenarbeit und Auswirkungen auf das Familiensystem
Entwicklung von kindlichem Ess- und Genussverhalten
Gestaltung von bedürfnisorientierten Mahlzeiten im Kleinkindalter
Isabella (21 Monate) ist ein stilles Kind, das sich bislang noch wenig am Gruppengeschehen beteiligt. Die Eingewöhnung in der aktuellen Kita erstreckte sich über rund sieben Wochen. Der Vater nahm sich dafür viel Zeit. Isabella hat eine sichtbar gute Beziehung zu ihrer Bezugserzieherin Sandra aufgebaut. Sie streckt die Ärmchen nach ihr aus und kann gut von ihr beruhigt werden. Auffällig ist jedoch, dass Isabella kein Essen zu sich nimmt, auch nicht aus der mitgebrachten Brotzeitdose.
In einem Gespräch mit dem Vater erfährt Sandra Folgendes: Auch zu Hause ist das Essen von Schwierigkeiten überschattet. Isabella ist von Anfang an ein zartes Kind gewesen. Sie habe am Anfang sehr zögerlich zugenommen, was insbesondere die Mutter sehr sorgte. Das Stillen war sehr schwierig und wurde im zweiten Monat beendet. Aktuell gestaltet sich die Ernährung von Isabella wie folgt: Sie trinkt morgens und abends eine Milchflasche und verlangt auch nachts regelmäßig danach. Tagsüber ernährt sich das Kind von Quetschies, Obstmus, Grießbrei sowie Hirsekringeln. Das Essen am Tisch, gemeinsam mit den Eltern, ist kaum von Ruhe geprägt. „Wenn man Isabella ablenkt, z.B. mit einem Buch oder Video auf dem Handy, lässt sie sich gut und zügig füttern" – so lautet die Einschätzung des Vaters.
Der Vater gibt offen zu, dass er insbesondere das Füttern, abgelenkt mit dem Handy, problematisch findet. Isabelles Mutter wiederum befindet sich in ständiger Sorge, dass Isabella zu wenig essen könnte. Zudem beklagt sie, dass ihr Mann sich kaum noch für Isabellas Ernährung interessiert, lange bei der Arbeit bleibt und sie die gefürchteten Essenssituationen mit dem Kind alleine aushalten muss. Mehrmals haben sich die Eltern vor dem Kind während einer Mahlzeit gestritten, was Isabella wohl erschreckt und zum Weinen gebracht hat.
Eltern fühlen sich selbstverständlich verantwortlich für das Gedeihen ihres Kindes. Interessanterweise scheinen sich Mütter nach wie vor ganz besonders verantwortlich für die Ernährung des Kindes zu fühlen. Ein erschwerter Stillstart oder eine nicht gelingende Stillbeziehung, bei gleichzeitigem Stillwunsch, kann zu einer massiven Verunsicherung der Mutter führen und noch Jahre später tief im Erleben abgespeichert sein, sodass der Ernährungszustand des Kindes weiterhin kritisch beobachtet wird.
Sandra arbeitet schon seit vielen Jahren als Erzieherin. Sie hat viele Kinder beim Essen erlebt und begleitet. Sie weiß, dass es experimentierfreudige Kinder gibt, die neugierig alles probieren. Ebenso hat sie viele Kinder erlebt, die neue Essensangebote zögerlich annehmen, stattdessen ihre „Standardgerichte“ essen, damit aber sichtlich zufrieden sind. Für Sandra ist entscheidend, dass ein Kind grundsätzlich Freude beim Essen ausdrückt. Wenn Kinder freudlos essen, um ihr Überleben zu sichern, so wird Sandra hellhörig. Die Berichte der Eltern sowie die Beobachtung von Isabella, die in der Kita nach wie vor komplett das Essen verweigert, besorgt sie zunehmend. Sie tauscht sich dazu mit ihrem Team aus. Dass Isabella Anzeichen einer ernsthaften Fütterstörung zeige, die sich wahrscheinlich nicht organisch begründen lasse, ist das Ergebnis der Team-Besprechung.
Bereits im Säuglings- und Kleinkindalter gibt es Fütterstörungen. Zu unterscheiden sind temporäre Fütter- / Ess-Probleme und schwere Fütter- / Ess-Störungen, die oft in einen chronischen Zustand übergehen und eine Gefahr für die gesamte kindliche Entwicklung darstellen (Gutknecht 2017). Sehr entscheidend sind jedoch Ressourcen und Kompetenzen von Bezugspersonen, das Kind einfühlsam zu regulieren. Sehr häufig geht eine Fütterstörung auch mit einer Störung der Eltern-Kind-Interaktion sowie unsicheren Bindungsmustern oder sogar Pathologien einher. Eine professionelle Unterstützung durch eine/n Kinderarzt/-ärztin ist entscheidend, damit problematische Verläufe frühzeitig unterbunden werden. Fachkräfte sollten Eltern dazu ermutigen, rechtzeitig Unterstützung einzuholen und kompetent weiterhelfen das passende Beratungsangebot zu finden.
In Fällen, wo das Kindeswohl in den Mittelpunkt rückt, arbeitet die Kita schon seit vielen Jahren mit einer Psychologin zusammen. Diese beobachtet das Kind zunächst in der Kita und führt im Anschluss daran mit den Eltern und einer Erzieherin ein gemeinsames Gespräch. Die Eltern sind mit diesem Vorgehen einverstanden und fühlen sich entlastet, da sie ab sofort nicht mehr allein die Verantwortung für Isabellas Ernährung tragen. Die Empfehlung, eine spezielle Ambulanz für Babys und Kleinkinder aufzusuchen, setzen die Eltern sofort um. Dort findet eine intensive Begleitung der Familie statt. Es braucht etwas Zeit, aber dann stabilisiert und verbessert sich das kindliche Essverhalten – sowohl zu Hause als auch in der Kita. Isabella akzeptiert zum ersten Mal stückige Nahrung wie beispielsweise Nudeln und Kartoffeln. Wenn sie neue Dinge probiert, so ist es für Isabella sehr wichtig, dass Sandra neben ihr sitzt, dann wirkt sie sicher und beruhigt. Sandra überredet oder drängt Isabella nicht zum Essen. Sie freut sich mit ihr, wenn Isabella die Erfahrung machen darf, dass es „dud schmeckt“. Ebenso akzeptiert sie, dass Isabella alles mit den Händen isst. Isabella nimmt an Gewicht zu und spielt in der Kita erstmals ausgelassener. Es ist für Sandra ein berührender Moment, als Isabella beim gemeinsamen Frühstück zu ihr kommt und ihr unbedingt etwas von ihrer Brotzeit abgeben möchte. Als Sandra das angebotene, schon recht matschige Birnenstück probiert, lacht Isabella und sagt: „Mhmmm, sooo lecker!“
Durch die Beobachtung von anderen Kindern, die ein bestimmtes Nahrungsmittel sichtlich genießen, steigt auch die eigene Bereitschaft, das dargebotene Nahrungsmittel zu probieren. Dies erklärt den positiven Effekt, den Fachkräfte immer wieder beobachten: In der Kita verhalten sich viele Kinder gegenüber Nahrungsmitteln grundsätzlich offener als zu Hause (Siegler et al. 2016).
Auch zu Hause hat sich die Essenssituation deutlich entspannt. Der Vater bringt sich wieder aktiv ein. Dass Isabella insbesondere bei väterlicher Anwesenheit neue Nahrungsmittel probiert, die sie früher kategorisch abgelehnt hat, macht den Vater sichtlich stolz. Dies wiederum entlastet die Mutter, allein verantwortlich für Isabellas Ernährung und Gewichtszunahme zu sein.
Kinder, deren Eltern sich wenig kontrollierend beim Essen verhalten, die also lediglich darauf achten, was angeboten wird, nicht jedoch die Menge bestimmen, entwickeln eine positive Beziehung zu Nahrung sowie ein gesundes Essverhalten (Siegler et al. 2016). Es ist wertvoll, wenn pädagogische Fachkräfte Eltern in diesem Sinne sensibilisieren und zu einer nicht-kontrollierenden Essensbegleitung beraten.