Hier geht es um die folgenden Themen:
Geburt des zweiten Kindes und Auswirkungen auf das Familiensystem
Regressives Verhalten des Erstgeborenen
Feinfühlige Gestaltung von Windelfreiheit im Kindergartenalter
Was Ausscheidungen mit der Autonomieentwicklung zu tun haben
Ethan, 3 Jahre und sieben Monate alt, ist in seiner Kindergartengruppe inzwischen das einzige Kind, das noch eine Windel braucht. Ethan wurde vor drei Monaten großer Bruder von Baby Lilian. Heute findet das Entwicklungsgespräch mit Erzieher Florian statt. Laut den Eltern ist Ethan sehr liebevoll im Umgang mit seiner Schwester. „Wo ist Lilian?“, so lautet am Morgen seine erste Frage. Eifersucht auf das Baby spielt im neuen Familienalltag kaum eine Rolle – sehr zur Überraschung der Eltern. Auch im Kindergarten hat sich ihr Sohn sehr gut eingefunden. Er ist ein beliebter Spielpartner, kann sich behaupten und gleichzeitig Rücksicht auf andere nehmen.
Die Windelsituation wird zu Hause sowie im Kindergarten wie folgt gehandhabt: Wenn Ethan „Pipi“ muss, so bemerkt er dies meist schon rechtzeitig. Manchmal geht er alleine auf die Toilette. Manchmal wünscht er sich eine Begleitung dabei, und manchmal gibt es nasse Unterwäsche. Ethan trägt nachts sowie tagsüber keine Windel mehr. Wenn er jedoch „poo-poo“ muss, so will er unbedingt eine Windel tragen und zieht sich damit in eine ruhige Umgebung zurück. Im Anschluss daran lässt er sich ohne Schwierigkeiten von „poo-poo“ reinigen. Natürlich haben die Eltern schon häufig versucht, ihn für die Nutzung der Toilette zu gewinnen und auf die Windel zu verzichten – bis jetzt erfolglos.
Florians Gedanken hierzu sind: „Ethan hat zwei wichtige Übergänge geschafft. Er ist ein Kindergartenkind und außerdem großer Bruder geworden. Dass er nun vielleicht keine weiteren Ressourcen dafür hat, nun sehr rasch auch vollständig windelfrei zu werden, kann man – aus dieser Perspektive betrachtet – durchaus nachvollziehen. Außerdem wird Lilian gewickelt. Dass er weiterhin eine Windel verlangt, hat sicherlich auch damit zu tun: ,Auch ich bin noch klein, vergesst das bitte nicht.‘ Es ist vielleicht ein kindlicher Versuch, auf sich aufmerksam zu machen.“ Diese Einschätzung entlastet die Eltern sehr. Es wird vereinbart, dass Ethan weiterhin eine Windel erhält, wenn er danach verlangt. Auf Diskussionen oder Überredungsversuche wird vollständig verzichtet. Wenn Ethan von sich aus die Toilette nutzt, so können die Erwachsenen dies wertschätzend kommentieren, ohne ihn dabei jedoch überschwänglich zu loben. Wenn es Ethan nicht rechtzeitig geschafft hat, so entlasten ihn die Erwachsenen: „Manchmal ist es gar nicht so einfach, sein Spiel zu unterbrechen, oder? Das kann einfach passieren.“ Diese einheitliche Vorgehensweise von Elternhaus sowie Kindergarten macht sich bald bemerkbar. Die nassen Hosen sind deutlich weniger geworden. Es dauert noch einige weitere Wochen, geprägt von Geduld und Verständnis, bis sich Ethan erstmals traut, „poo-poo“ in die Toilette zu machen. Danach ist ein Bann gebrochen und Ethan ist nach diesem Erlebnis vollständig windelfrei.
Kinder, die überwiegend selbstständig die Toilette benutzen, sind weniger auf pflegerische Assistenz der Erwachsenen angewiesen, was ihre Autonomieentwicklung deutlich vorantreibt. Mit jedem selbstständigen Toilettengang können sie auch ihre Selbstständigkeit unter Beweis stellen. Ereignisse wie die Geburt eines Geschwisters nehmen häufig Einfluss auf die Fähigkeit des Kindes, die eigene Selbstständigkeitsentwicklung voranzutreiben. So verhalten sich viele Kinder in den Wochen vor sowie nach der Geburt ihres Geschwisterkindes tendenziell regressiver, trennungsängstlicher und sind deutlich mehr auf die elterliche Co-Regulation angewiesen.