Hier geht es um die folgenden Themen:
Soziale Ängste und emotionale Co-Regulation
Die Rolle der Peers
Wenn Kinder ungerne in den Kindergarten gehen
Trennungsängste im Kindergartenalter
Entwicklung von Freundschaften im Kindergartenalter
Noah ist vier Jahre alt. Er wird ohne Geschwister groß. Am Entwicklungsgespräch nehmen beide Eltern teil. Die Eltern erfahren, dass ihr Kind aufmerksam zuhört, stets gut auf die Grenzen von anderen achtet. Noah beobachtet soziale Situationen, anstatt sich selbst aktiv daran zu beteiligen. Sich an Gruppenaktivitäten zu beteiligen, ist selten für ihn möglich. Er gehört zu den Kindern, die als Letztes gebracht und als Erste wieder abholt werden. Nähern sich ihm andere Kinder, so fühlt sich Noah schnell verunsichert. Er wendet sich dann meist hilfesuchend an die Fachkräfte. Er beklagt sich niemals über andere Kinder, auch dann nicht, wenn sich diese Noah gegenüber distanzlos verhalten haben. Noah hat bislang noch keine Freunde im Kindergarten gefunden. Er erhält keine Einladungen zu einem Kindergeburtstag. Er spielt meist allein, beobachtet oder orientiert sich an den Erwachsenen.
Seine Bereitschaft, in den Kindergarten zu gehen, ist schwankend. Vor einigen Wochen, so berichten die Eltern, gab es eine sehr schwere Phase. Noah weinte jeden Morgen und wollte überhaupt nicht in den Kindergarten gehen. Auch von Seiten des Kindergartens wird Noah selten heiter oder fröhlich erlebt. So scheint er die Zeit dort eher „abzusitzen“, hoffend, dass seine Eltern ihn bald durch ihr Wiederkommen „erlösen“. Dass Noah bislang keinen Anschluss im Kindergarten gefunden hat, sorgt die Eltern. Sie beschreiben ihren Sohn als scheues, introvertiertes Kind. Im Kleinkindalter sei er den Eltern kaum von der Seite gewichen. Regelmäßig mussten die Eltern mit ihrem Kind vorzeitig die Familienfeier, den Musikkurs oder das Kinderturnen verlassen, da Noah intensiv zu weinen begann und sich sehr unwohl fühlte.
Erzieher Marten hört den Eltern aufmerksam zu. Sehr wertschätzend fasst er den Bericht der Eltern zusammen: „Noah war also schon immer ein Kind, dessen Radius eher klein war. Noah spielte schon früh selbstständig und ruhig. Er kann sich bis heute gut alleine beschäftigen, entwickelt dabei sehr kreative Spiele. Er bastelt und malt gerne und wirkt während dieser Tätigkeiten zufrieden. Noah fühlt sich unwohl, wenn er soziale Beziehungen gestalten sowie Teil einer Gruppe werden soll. Je lauter und unübersichtlicher eine Spielsituation ist, desto gestresster reagiert Noah darauf. Wenn Kinder wild und stürmisch miteinander interagieren, so versuchen wir stets, dass jemand Noah gut im Blick behält. Wenn sich Erwachsene um ihn kümmern, wirkt Noah viel ruhiger. Wir sehen aber auch, dass er den spielenden Kindern häufig einen sehnsuchtsvollen Blick zuwirft und sich zu fragen scheint, wie er ein Teil dieser Gruppe werden könnte.“
Kinder, die Auffälligkeiten in ihrer sozio-emotionalen Entwicklung aufweisen, die sich aggressiv aber auch ängstlich-zurückgezogen verhalten, gelingt es weniger gut, die Gefühle anderer zu erkennen. Altersgenossen, die den Gesichtsausruck anderer rasch interpretieren können, sind kompetenter im Umgang mit ihren Peers (Strüber 2019).
Es wird entschieden, die soziale Entwicklung von Noah in den Mittelpunkt des Gesprächs zu rücken. Noahs Vater beschreibt sich selbst als introvertiert und zurückhaltend. Er kann seinen Sohn gut verstehen, zugleich möchte er ihm dabei helfen, seine Scheu vor anderen abzulegen. Noahs Mutter verbringt gerne Zeit mit anderen Menschen und wird von ihrem Mann als gute, kompetente Netzwerkerin beschrieben. Beide Elternteile sprechen wertschätzend über ihre unterschiedlichen Persönlichkeiten, was Marten positiv empfindet: „Ein Kind lernt auf diese Weise am Modell der Eltern, dass es vollkommen in Ordnung ist, unterschiedlich zu sein. Wenn es Noah gelingt, ein bisschen mehr aus sich herauszugehen, seine kreativen Spielideen aktiv einzubringen, so wird er bestimmt schnell eine andere Akzeptanz in der Kindergruppe erfahren.“
Die Mutter berichtet davon, dass sie schon länger andere Kinder nach Hause einladen wollte. Da Noah dies jedoch nie wollte, akzeptierte die Mutter seinen Wunsch. Marten unterstützt die Idee der Mutter, sich mit anderen Eltern zu vernetzen, was sie sehr ermutigt.
Schon bald entwickelt sich zwischen der Mutter von Noah und der Mutter von Clara, einem Mädchen, das erst vor Kurzem in die Gruppe gekommen ist, eine gute und rege Kommunikation. Die Treffen außerhalb des Kindergartens verlaufen zwischen den Kindern zunächst sehr zögerlich, aber die beiden Mütter lassen sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Nach mehreren Anläufen entwickelt sich zwischen Clara und Noah erstmals ein Spiel, was beiden Kindern sichtlich Freude macht.
Mit Clara an seiner Seite wird Noah in den nächsten Wochen und Monaten zunehmend mutiger und gelöster. Er spielt gerne mit Clara, braucht aber regelmäßig auch seine „Einzelspielzeit“, was Clara gut akzeptieren kann. Noah orientiert sich nun weniger an den Bezugspersonen im Kindergarten. Er nimmt aktiver am Gruppengeschehen teil. Noah meidet nach wie vor Spielsituationen, die auf ihn unübersichtlich wirken sowie ein schnelles Reagieren erforderlich machen. Inzwischen kann er darüber sprechen, was ihn daran so stört: „Mir ist das zu laut. Ich mag lieber, wenn man ruhiger spielt“ – und diese Meinung kann Noah durchaus selbstbewusst vertreten. Bald hat sich die Freundschaft mit Clara gefestigt. Beide Kinder sind jedoch gut in der Lage, auch immer häufiger mit anderen Kindern zu spielen oder diese an ihrem gemeinsamen Spiel teilhaben zu lassen.
Warum sind Kinderfreundschaften so wichtig?
Peers sind für die kindliche Entwicklung hochbedeutsam, da Regeln häufig gemeinsam erarbeitet und festgelegt werden. Kinder trauen sich gegenüber Gleichaltrigen meist eine kritischere Position einzunehmen, deren Motive zu hinterfragen und sich ein gemeinsames Verständnis zu erarbeiten. Hier findet eine besondere Qualität von wechselseitigem Lernen statt, das Erwachsene aufgrund ihres Alters- und Reifevorsprungs nicht anbieten können. Je älter Kinder werden, desto mehr können sie sich gegenseitig auch emotional beistehen und unterstützen.
Ab dem ca. dritten Lebensjahr drücken Kinder immer deutlicher Präferenzen im Umgang miteinander aus und wählen „beste Freundinnen“ und „beste Freunde“. Diese Freundschaften können auf kürzere Zeiträume begrenzt sein oder bereits überdauernden Charakter haben. Zwischen befreundeten Kindern findet positive Interaktion sowie Kooperation statt, und der Kontakt ist dabei deutlich besser als zwischen Kindern, die keine freundschaftliche Beziehung zueinander aufgenommen haben. Interessanterweise zeigt sich zwischen befreundeten Kindern oftmals auch ein höheres Konfliktniveau, das durchaus auch körperlich ausagiert werden kann. Die konstruktive Auflösung der Konflikte gelingt jedoch. Dies fördert positive Gefühle von Verbundenheit sowie Toleranz (Siegler et al. 2016).