Hier geht es um die folgenden Themen:
Abbruch einer Eingewöhnung und Neustart
Kindliche Reife für die außerfamiliäre Betreuung
Trennungsängste und Präferenz eines Elternteils
Wechsel der eingewöhnenden Fachkraft
Kindliche Regulationsversuche, in diesem Fall exzessives nächtliches Trinken
Seit acht Wochen befinden sich die Eltern von Hannah (16 Monate) in einem Eingewöhnungsprozess. Hannah ist ein lebendiges, fröhliches Kind, das in Anwesenheit der Eltern zunächst sehr gut und sicher in der Krippe explorierte. Die erste Verabschiedung nach vier Tagen verlief unproblematisch. Als die Mutter nach einer kurzen Verabschiedung den Raum verließ, spielte das Kind ungerührt weiter. Nach rund zehn Minuten betrat die Mutter wieder den Gruppenraum – Hannah fing daraufhin kurz zu weinen an, ließ sich jedoch sehr gut trösten und begann alsbald wieder zu spielen.
Mutter und Bezugserzieherin Natalia fühlten sich von Hannahs Verhalten ermutigt. Auch in den folgenden Tagen konnte sich die Mutter gut von Hannah verabschieden und ihr Kind bereits über eine Stunde in der Kita allein lassen. Nach diesem vielversprechenden Start erkrankte Hannah. Sie entwickelte starke Erkältungssymptome, sodass Mutter und Kind erst nach vierzehn Tagen erneut die Kita besuchen. Hannah scheint nach ihrer Krankheit eine Wesensveränderung durchlaufen zu haben. Sie hält sich nun beständig in der Nähe ihrer Mutter auf, spielt ausschließlich, wenn diese direkt neben ihr sitzt, und lässt Kontakt mit Natalia nicht mehr zu. Auch zu Hause zeigt Hannah neuerdings Trennungsängste, die das bisher gut funktionierende Familiensystem auf den Kopf stellen. Sie verfolgt ihre Mutter auf Schritt und Tritt, bei gleichzeitiger Ablehnung des Vaters. Dieses Verhalten sorgt beide Eltern und führt zu Konflikten. Der Vater will nun gerne die Eingewöhnung seiner Tochter fortsetzen, um die Beziehung zu stärken. Für die Mutter ist die Abgabe der Eingewöhnung an den Vater unvorstellbar, da Hannah bei jeder Trennung von ihr panisch zu weinen beginnt. Also geht sie weiter mit ihrem Kind in die Kita.
Auch nach weiteren zwei Wochen, geprägt von geduldigem Abwarten, zeigen sich keinerlei Fortschritte. Im Gegenteil: Das ängstliche Verhalten scheint sich zu verfestigen. Sämtliche Kontaktversuche von Seiten Natalias scheitern. Hannah lässt sich nicht für ein gemeinsames Spiel gewinnen. Sie lehnt jeglichen Körperkontakt ab. Sie verweigert inzwischen sogar Blickkontakt mit der Erzieherin. Der Wechsel der eingewöhnenden Fachkraft führt zu keinerlei Veränderung. Auch Susanne, eine sehr erfahrene, feinfühlige Erzieherin, kann Hannahs Interesse nicht gewinnen. Hannah sitzt auf dem Schoß der Mutter und scheint förmlich in diese hineinkriechen zu wollen. Hannas Bindungssystem wirkt auf alle Involvierten maximal aktiviert. Sie weicht ihrer Mutter nicht mehr von der Seite und hat vollkommen damit aufgehört, interessiert die Kita-Umgebung zu erkunden.
Die Mutter ist von dieser Entwicklung sehr betroffen. Ihr Gesicht hat in den letzten Tagen beinah versteinert gewirkt. Mühsam versucht sie ihre Tränen während eines weiteren Elterngesprächs zu unterdrücken. Als ihr Natalia, als symbolische Geste gedacht, ein Taschentuch reicht und dabei Verständnis für die Traurigkeit der Mutter zum Ausdruck bringt, gibt es kein Halten mehr. Hannahs Mutter berichtet unter Tränen, wie sehr sie die aktuelle Situation belaste. Dieser emotionale Ausbruch verändert die Stimmung zwischen den Eltern. Der Vater wirkt plötzlich wieder weicher und verständnisvoller im Kontakt mit seiner Frau. Dass eine Eingewöhnung vielsprechend beginnen, sich im Anschluss an eine Krankheitsphase erschweren kann, ist für beide Elternteile eine entlastende Information. Obwohl Natalia dies den Eltern bereits mehrfach mitgeteilt hat, wirkt es auf Natalia auch heute so, dass die beständige Normalisierung der Situation für beide Elternteile erneut wichtig ist. Hannahs Mutter ist für sich inzwischen zu dem Entschluss gekommen, dass eine Kita-Betreuung für ihre Tochter noch zu früh ist. Der Vater, noch ambivalent in seiner Entscheidung, kann durch die Information von Natalia beruhigt werden, dass bei völliger Stagnation eine Pause oftmals die beste Entscheidung ist. Mit einem älteren, weiter entwickelten Kind erneut eine Eingewöhnung zu beginnen, kann wesentlich einfacher sein. Die Eingewöhnung nun abzubrechen wird daraufhin gemeinsam von Eltern und Erzieherin entschieden. Die Eltern erhalten außerdem die Möglichkeit, zu einem späteren Zeitpunkt erneut hier in der Einrichtung zu beginnen.
Nach einigen Wochen erhält Natalia eine E-Mail von den Eltern: Hannah sei wieder die „Alte“. Sie sei fröhlich, unbeschwert und zeige keinerlei Trennungsängste mehr. Sie lasse sich wieder gerne von ihrem Vater sowie den Großeltern betreuen. Auch das exzessive nächtliche Trinken von Milchflaschen konnte problemlos wieder reduziert werden. Da sich Hannah innerhalb weniger Wochen so positiv entwickelt hat, sind inzwischen beide Elternteile davon überzeugt, dass Hannah noch nicht die innere Reife für die Kita hatte. Für die Möglichkeit, Hannah im nächsten Kita-Jahr einzugewöhnen und Natalia hierbei erneut an ihrer Seite zu haben, drücken die Eltern große Dankbarkeit aus.
Viele Eltern sind in Bezug auf ihre Kinder empfindsam. Dies gilt für Väter und Mütter gleichermaßen. Eine kritische Reflexion der kindlichen Entwicklung löst bei Eltern auf verschiedenen Ebenen mehr oder weniger starke Emotionen aus: Ist ein Verhalten noch normal oder ist sogar eine psychologische Abklärung oder zumindest eine Erziehungsberatung notwendig? Nicht alle Eltern haben in jeder Phase ihrer Elternschaft zudem festen Boden unter den Füßen. Nicht gelingende kindliche Entwicklung wird in diesem Zusammenhang durchaus auch mit einer persönlichen Kränkung assoziiert.
Viele Eltern rücken pädagogische Fachkräfte zudem automatisch in die Nähe des Jugendamts und fürchten Sanktionen oder zumindest Konsequenzen, wenn sich Schwierigkeiten abzeichnen. Dies kann dazu führen, dass Eltern wichtige Informationen, eigene Beobachtungen oder Fragen nur zögerlich der gesprächsführenden Fachkraft anvertrauen. Somit ist es von wirklich großer Bedeutung, dass Eltern sich angenommen fühlen. Dies erhöht die Selbstöffnungsbereitschaft, ein offenes Gespräch zu führen.
Dies wiederum kann jedoch den Effekt nach sich ziehen, dass Eltern von ihren Emotionen förmlich überrollt werden. Sie erzählen dann beispielsweise über ihre Wut auf das eigene Kind, berichten von Scham-, Schuld- und Versagensängsten, und all dies wiederum kann das Fließen von Tränen begünstigen. In einem Raum, wo regelmäßig Elterngespräche geführt werden, dürfen vorsorglich auch Taschentücher bereitliegen. Einem emotional aufgelösten Elternteil rechtzeitig ein Taschentuch zu reichen ist sicherlich nicht die Auflösung aller Probleme. Aber es ist durchaus eine liebevolle Geste, die sichtbar macht, dass auch starke Gefühle hier willkommen sind – bei Kindern und auch bei ihren Eltern.