FERDINAND – WENN EIN ROTES AUTO HILFT

Hier geht es um die folgenden Themen:

Geburt des zweiten Kindes und Auswirkungen auf das Familiensystem

Regressives Verhalten des Erstgeborenen

Kindliche Trennungsängste

Gestaltung von Übergängen, in diesem Fall das Bringen zum Kindergarten

Hausbesuche der pädagogischen Fachkraft

Die Bedeutung eines Begrüßungsrituals sowie von Übergangsobjekten

Auch heute klammert sich Ferdinand, dreieinhalb Jahre alt, panisch an seine Mutter und möchte sich im Garderobenraum des Kindergartens nicht von ihr lösen. Auch heute wiederholt sich das Drama, das sich zunächst in einer verstärkten Anhänglichkeit gegenüber der Mutter äußerte, als deren Bauch immer runder wurde. Vor drei Wochen ist die kleine Schwester zur Welt gekommen. Seit der Geburt verhält sich Ferdinand trennungsängstlich. Er folgt seiner Mutter beständig, möchte ausschließlich von ihr zu Bett gebracht werden, kann ohne sie nicht einschlafen und ruft in der Nacht häufig nach ihr. An manchen Tagen möchte er von ihr gefüttert werden, was die Mutter dann auch tut. Der Vater wird nicht abgelehnt, fühlt sich jedoch unsicher im Umgang mit seinem Sohn. „Nein. Mama soll das machen“, ist die stetige Antwort, wenn der Vater sich einbringen möchte. Ferdinand ist das zweitgeborene Kind. Er hat noch eine ältere Schwester, die siebenjährige Marlene – laut Beschreibung ihrer Eltern ein schon sehr selbstständiges Schulkind.

Nach der Geburt war Ferdinand eine Woche lang nicht im Kindergarten. Zu seiner kleinen Schwester ist er liebevoll und aufmerksam. Er streichelt sie vorsichtig, und die Eltern sind jedes Mal erneut von der Zartheit im Umgang mit dem Baby beeindruckt. Ferdinand scheint sich rasch in seine Rolle als großer Bruder eingefunden zu haben. Die starke Präferenz der Mutter sowie die Verweigerung des Kindergartens sind jedoch neue Verhaltensweisen, die den Familienalltag erheblich erschweren. So war eigentlich geplant, dass der Vater seinen Sohn zum Kindergarten bringen sollte. Dies wäre nur unter Anwendung von körperlicher Überlegenheit möglich. Bei jedem neuen Versuch beginnt Ferdinand zu schreien, klammert sich am Bein der Mutter fest oder flüchtet sich unter das Sofa. Der Vater ist von diesen Szenen emotional sehr betroffen und ebenso die Mutter.

Immerhin ist Ferdinand dazu bereit, mit seiner Mutter das Haus zu verlassen und den Gang zum Kindergarten anzutreten. An manchen Tagen kann Ferdinand von seiner Lieblingserzieherin Martina Trost annehmen und sich dann von seiner Mutter lösen. Martina fällt auf, dass es einen Unterschied im kindlichen Verhalten gibt, ob die Mutter mit oder ohne Baby den Kindergarten betritt. Sobald das Baby sich im Tragetuch nahe am Körper der Mutter befindet, steigert sich Ferdinands Trennungsangst maximal und Martina hat keinerlei Möglichkeit, ihn dabei zu begleiten. Bleibt die kleine Schwester während der Bringzeit bei ihrem Vater, so kann Ferdinand von Martina und Mutter besser reguliert und während der Trennungssituation unterstützt werden.

Dies ist ein wichtiger Erkenntnisgewinn und es wird entschieden, dass Trennungssituationen grundsätzlich ohne die kleine Schwester stattfinden sollen. Das lässt sich gut von den Eltern organisieren und verbessert die Situation, allerdings nicht dauerhaft. Nach einigen Tagen kommt es erneut zu dramatischen Abschiedsszenen, und der Effekt, die Bringzeit ohne das Baby zu gestalten, scheint vollkommen verpufft zu sein.

Martina bietet den Eltern daraufhin einen Hausbesuch an, was diese dankbar annehmen. Dass ihn seine Lieblingserzieherin zu Hause besucht, freut Ferdinand sehr. Zunächst hält er sich noch in der Nähe der Mutter auf. Alsbald vereinnahmt er Martina jedoch so sehr, dass diese keine Möglichkeit mehr für ein Elterngespräch sieht. Martina wiederholt die Besuche noch zwei Mal. Dieses besondere Engagement der Erzieherin verändert die Abgabesituation im Kindergarten nachhaltig und hat ihre wichtige Position in Ferdinands Bindungshierarchie zusätzlich gestärkt. Natürlich ist Martina kein neues Familienmitglied geworden, was Ferdinand bereits differenziert auszudrücken weiß: „Wir wohnen da und du wohnst woanders. Du wohnst auch nicht im Kindergarten. Du wohnst bei deiner Familie und ich bei meiner. Und im Kindergarten spielen wir zusammen.“ Martina hat jedoch das Zuhause von Ferdinand kennengelernt.

Da beide dort zusammen lustig mit Autos gespielt haben, wird das rote, schnelle Auto zu einem wichtigen Übergangsobjekt. Sobald Ferdinand im Kindergarten angekommen ist, packt er sein rotes Flitzeauto aus. Dieses fährt direkt auf Martina zu und wird von ihr täglich mit exakt demselben Satz begrüßt: „Guten Morgen, rotes Auto. Hast du hoffentlich den Ferdinand mitgebracht, damit wir heute zusammen spielen können?“ Diese Aussicht begeistert Ferdinand und er kann sich mit jedem weiteren Tag etwas leichter von seiner Mutter lösen.

Übergangsobjekt

Ein vom Kind selbst gewähltes Objekt. Dies können weiche Stofftiere oder Tücher sein. Manche Kinder wählen auch Spielzeuge. Viele Kinder tragen „ihr“ Übergangsobjekt beständig mit sich herum. Andere Kinder sind weniger intensiv darauf angewiesen und greifen verstärkt in sogenannten Übergangssituationen, wie z.B. Trennungen von Eltern oder der Einschlafsituation, darauf zurück. Geprägt wurde der Begriff von Donald W. Winnicott, einem englischen Psychoanalytiker. Übergangsobjekte geben Kindern Sicherheit und haben eine regulative Wirkung.

Nach ungefähr sechs Wochen hat sich die Situation so weit stabilisiert, dass das Übergangsobjekt Auto nicht mehr notwendig ist. Dennoch bringt die Mutter ihren Sohn weiterhin zum Kindergarten – ohne Baby. Nach weiteren sechs Wochen hat sich Ferdinand nachhaltig beruhigt, sodass auch der Vater das morgendliche Bringen wieder mitgestalten kann. Außerdem möchte Ferdinand immer häufiger, dass die kleine Schwester beim Bringen sowie Abholen mit dabei ist. „Damit sie jetzt schon den Kindergarten und Martina kennenlernt“, so lautet Ferdinands stimmige Begründung.