Hier geht es um die folgenden Themen:
Gestaltung des Übergangs in die Grundschule
Nachfolgeverhalten im Kindesalter
Dynamik zwischen Geschwistern
Kinderängste in der Vorschulzeit
Die Rolle der Peers
Effekte einer bindungsstarken Kindergartenzeit
Fachkräfte als sichere Basis für Eltern und Kinder
Oskar, sechs Jahre alt, schafft es im Moment beständig, seine Umgebung zu verwirren. So freut er sich an manchen Tagen offensichtlich auf die nahende Einschulung in rund drei Monaten. An anderen Tagen wirkt er niedergeschlagen, ängstlich und verhält sich aus Sicht der Eltern nicht mehr altersadäquat. An diesen Tagen will er nicht in den Kindergarten und kann lediglich mit viel Überredung und gutem Zureden dazu gebracht werden, das Haus zu verlassen. Zum Turnen will er auch nicht mehr gehen. Bei seiner Oma will er schon gar nicht mehr übernachten. Seine liebste Beschäftigung ist aktuell das gemeinsame Spielen mit seinem Bruder Ben. Dass er ohne den vierjährigen Ben in die Schule gehen wird, findet Oskar „total bescheuert“. Interessanterweise haben die früheren Konflikte zwischen den Geschwistern deutlich abgenommen. Gab es früher oftmals intensive Auseinandersetzungen, zeigt sich nun eine nie dagewesene Harmonie sowie ein starker Zusammenhalt.
Ben und Oskar besuchen denselben Kindergarten, sind jedoch in verschiedenen Gruppen. Treffen die beiden Kinder im Garten aufeinander, so finden sie auch hier rasch in ihr gemeinsames Spiel, wobei andere Kinder unerwünscht sind. Insbesondere Oskars Radius hat sich extrem verengt. In seiner Welt scheint der jüngere Bruder aktuell der einzige Spielpartner zu sein, mit dem ein interessantes Spiel möglich ist. Dies hemmt Oskars Autonomieentwicklung, während Ben sich flexibler verhält. Zwar taucht auch er im Garten intensiv in das Spiel mit Oskar ein, im Anschluss daran spielt er vergnügt und unbeschwert mit Kindern aus seiner Gruppe weiter.
Dass Oskar bei der morgendlichen Verabschiedung wiederkehrend weint, sich kaum am Gruppengeschehen beteiligt, führt laut Einschätzung des pädagogischen Teams zunehmend zu einer Isolierung von Oskar. Er spielt immer seltener mit anderen Kindern, wendet sich bei Spielanfragen stattdessen brüsk ab. Er sucht immer intensiver den Kontakt zu Martin und Andrea, die gemeinsam die Gruppe betreuen. Insbesondere gegenüber Andrea zeigt er ein ausgeprägtes Nachfolgeverhalten. Ist Andrea nicht da oder ist es situationsbedingt nicht möglich, dass er ihr nachfolgen kann, so akzeptiert Oskar dies stets. Er verlagert dieses Verhalten dann alsbald auf Martin. Spielangebote der beiden nimmt er gerne an, Fragen weicht er jedoch aus oder beantwortet diese einsilbig: „Weiß nicht, keine Ahnung, hab halt keine Lust, mit den anderen zu spielen.“
Auch die Eltern erleben diese Einsilbigkeit bei ihrem Kind. Sie geraten immer mehr in Sorge, ob Oskar den Übergang in die Schule bewältigen wird, wenn sich nicht rasch etwas in seinem Verhalten verändert. Dankbar nehmen die Eltern eine Einladung zu einem Gespräch mit Andrea an. Die Erzieherin kennt Oskar seit seinem dritten Lebensjahr. Sie hat damals die Eingewöhnung begleitet. Gemeinsam findet ein Erinnern statt: Wie introvertiert und ängstlich sich Oskar zu Beginn seiner Kindergartenzeit verhielt. Wie vorsichtig man sich ihm nähern musste. Wie ihm ein Stoffaffe namens Lollo half, den er beständig mit sich herumtrug. Wie ihm die einfühlsame Art von Andrea half, sich im Kindergarten sicher zu fühlen. Für alle war es wunderbar zu erleben, wie Oskar immer mehr aufblühte, sich sprachlich mehr einbrachte, wild tobte und erste Freundschaften schloss. „Und nun diese Rückschritte“, kommentieren die Eltern traurig das aktuelle Verhalten ihres Sohns.
Andreas Sichtweise unterscheidet sich von der elterlichen Perspektive: „Für mich ist das kein Rückschritt. Oskar trägt all diese Fähigkeiten noch in sich. Aber er kann sie gerade nicht zeigen, da ihn die Einschulung beschäftigt. Viele Kinder verhalten sich in den Monaten und Wochen davor etwas auffälliger. Manche entwickeln Ängste. Andere wiederum sind besonders aufbrausend und ungestüm. Mir erscheint es manchmal fast so, als ob ich wieder den kleinen, dreijährigen Oskar vor mir habe, der sich am liebsten an seinen Lollo klammern möchte und ganz viel Rückversicherung braucht.“ Die ruhige Einordung von Andrea, dass Oskar wohl kein Sonderfall ist, scheint die Eltern etwas zu beruhigen. Gemeinsam werden die folgenden Lösungsschritte erarbeitet:
• Die Eltern bringen Oskar weiterhin zum Kindergarten, auch an Tagen, wo es ihnen viel Überzeugungskraft abverlangt.
• Die Eltern lassen sich mit Oskar nicht mehr beständig auf „Deals“ ein, dass sie ihn heute früher abholen oder er nur geht, wenn er morgen dafür zu Hause bleiben kann.
• Andrea wiederum sichert den Eltern zu, Oskar gut im Blick zu behalten. Sie wird ihn nicht zum gemeinsamen Spielen mit anderen Kindern drängen. Sie wird weiterhin sein insbesondere ihr gegenüber gesteigertes Bindungsbedürfnis beantworten, soweit es ihre Ressourcen zulassen.
• Die starke Beziehung der Geschwister zueinander ist eine Ressource. Zugleich gilt es, vorsichtig die symbiotische Bezogenheit der Kinder etwas zu lösen, sodass für Oskar wieder Alternativen sichtbar werden.
• Oskar spielte früher gerne mit anderen Kindern aus seiner Gruppe. Es ist den Eltern ein großes Anliegen, dass dieses Spielverhalten für Oskar wieder möglich wird. Auch wenn Oskar es bislang ablehnte, andere Kinder zu treffen, werden die Eltern nun wieder vermehrt Kontaktmöglichkeiten schaffen.
Nach rund sechs Wochen hat sich die Situation deutlich verbessert. Oskar kommt täglich in den Kindergarten. Zwar versucht er weiterhin, in der Nähe von Andrea zu sein, aber er kann sich immer häufiger – zumindest kurz – von ihr lösen und mit anderen Kindern ins Spiel finden. Trifft er im Garten auf seinen jüngeren Bruder, so haben nun auch andere Kinder wieder „Zutritt“ und dürfen – nicht immer, aber manchmal eben doch – mitspielen. Die Freundschaft zu David, einem anderen Vorschulkind, das auf dieselbe Schule wie Oskar gehen wird, intensiviert sich täglich. Die Mütter treffen sich regelmäßig auf einem Spielplatz, und zwar ohne die jüngeren Geschwister.
Die Freundschaft zu David führt automatisch dazu, dass sich die symbiotische Beziehung zwischen Ben und Oskar verändert. Streitigkeiten zwischen den Brüdern, die auch körperlich ausgetragen werden, gehören wieder zu Tagesordnung. Dass ihre Kinder wieder miteinander streiten, wirkt auf die Eltern wesentlich natürlicher und wird sogar begrüßt. Oskar bastelt mit großer Freude seine Schultüte. Der letzte Tag im Kindergarten ist für alle ein emotionaler Moment. Oskar weint danach lange und intensiv. Dass durch Ben weiterhin Kontakt zum Kindergarten stattfinden wird, tröstete ihn hierbei sehr. Oskar meistert seinen ersten Schultag sehr gut. Er geht gerne in die Schule, gemeinsam mit David, maßgeblich gestärkt durch eine liebevolle Kindergartenzeit, gestaltet durch Andrea und Martin.