Eigentlich besaß Rhys die Fähigkeit, den Menschen in die Augen zu schauen und sagen zu können, was ihr größter Wunsch war. Vor langer Zeit schon hatte er gelernt, in den Menschen zu lesen. Doch auf seinem Spaziergang mit Zoey durch den Central Park wurde ihm bewusst, dass ein Teil ihrer Anziehungskraft in dem Rätsel lag, das sie umgab. All die Geheimnisse, die Rhys noch zu entdecken hatte. Und sie hatte diese Sache durchgezogen, wie er es nie für möglich gehalten hätte. Sie war mutig, wenn auch vorsichtig. Sobald sie unterwegs waren, fiel ihm auf, wie ihr Blick überallhin schoss auf der Suche nach Gefahr. Ihre Haltung war angespannt und achtsam. Und so gefiel es ihm, wie sie, kaum fünfzehn Minuten später, etwas mehr zu lächeln begann, sogar ein bisschen lachte, und ihre Schultern entspannt sinken ließ.
Auf dem Weg, der von ausgewachsenen Bäumen gesäumt war, zeigte Rhys auf eine leere Bank. »Komm, setz dich für einen Moment mit mir hin.«
Als sie neugierig den Kopf drehte, lächelte er sanft. »Ich würde gerne für eine Minute mit dir sprechen, wenn es dir recht ist.«
Sie zog ihr Handy aus der Tasche und blickte auf das Display. »Lass mich kurz meinen Mitbewohnerinnen schreiben, dass ich noch ein paar Minuten brauche.«
Er wartete, bis sie die Nachricht abgeschickt hatte, bevor er wieder auf die Bank deutete. Nachdem sie sich gesetzt hatte, nahm er neben ihr Platz. Er wusste, dass er langsam und behutsam vorgehen musste, als er sich vorbeugte und die Ellbogen auf seine Knie stützte, während er den Kopf in ihre Richtung drehte. »Du schuldest mir keine Erklärung, aber ich würde gerne deine Wahrheit kennen.«
»Über das, was an dem Abend mit Jake und Scott passiert ist?« Als Rhys nickte, fragte sie: »Warum interessiert dich das so?«
Ja, warum eigentlich? »Weil deine Geschichte die einzige ist, die hier von Bedeutung ist«, entgegnete er.
Langsam atmete sie ein und wieder aus, drehte sich von ihm weg und starrte ins Nichts. Doch selbst von der Seite stand ihr der Schmerz deutlich ins Gesicht geschrieben. »Auf dem College war ich nicht wirklich ein Partygirl, aber zwei Monate vor dem Abschluss haben mich meine damaligen Collegefreunde dazu überredet, zu der Party einer Studentenverbindung zu gehen.« Sie sah ihn an und presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. »Am nächsten Morgen wachte ich in einem fremden Bett auf, halbnackt. Ich hielt es für den schlimmsten Moment meines Lebens, doch wie du weißt, war das ein Irrtum. Jake und Scott haben dieses Foto von mir gemacht und es in den Chat der College-Website gestellt. Dazu schrieben sie: Ein hübsches Stück von der NYU . Wir haben sie zerstört. Wer will sie als Nächstes haben? «
Rhys biss die Zähne zusammen, um die heiße Wut zu bändigen, die in ihm tobte, als er sah, wie es in ihrem Gesicht zuckte. Wieder holte sie tief Luft, während sie offenbar ihre Traurigkeit beiseiteschob, um sich nicht von ihr überwältigen zu lassen. »Kannst du mir sagen, warum du sie nie angezeigt hast?«, fragte er sanft.
Sie zuckte kurz mit den Schultern und blickte auf ihre Hände, die sie nervös knetete. »Weil ich technisch geschehen nicht vergewaltigt wurde, konnte ich mir nicht vorstellen, dass sie großartig bestraft werden würden. Letztlich wollte ich nur die Schule beenden, so schnell wie möglich von dort verschwinden und woanders weitermachen.«
Er vermutete, dass sie ganz und gar nicht weitergemacht hatte, doch es stand ihm nicht zu, etwas dazu zu sagen. »Offenbar wolltest du deine eigene Form der Gerechtigkeit, denn du hast dich sehr bemüht, ihnen zu zeigen, dass du immer noch Jungfrau warst.«
Ihre Antwort kam prompt. Herausfordernd reckte sie das Kinn. »Ich wollte ihnen zeigen, dass sie mich nicht gebrochen haben. Und, ja, ich war eine Jungfrau, und ich war klug und stark genug, um in ihre Nähe zu gelangen und es ihnen zu beweisen. Sie sollen wissen, dass ich sie jederzeit ausfindig machen kann. Ich will, dass sie spüren, wie es ist, wenn ihnen die Kontrolle entgleitet.«
Schüchtern, aber mutig. Stark, aber verletzlich. Diese Frau faszinierte ihn zutiefst. »Darum ist es gegangen?«
Sie nickte bestimmt. »Dieses Mal habe ich zugestimmt, und jedes weitere Mal werde ich das auch wieder. Meine Wahl. Meine Regeln.«
Eine raue Wahrhaftigkeit stand in ihren Augen. Und Kraft. Eine solche Kraft, dass es ihm schwerfiel, den Blick von ihr zu lösen. »Und was hat dir die Erfahrung gebracht?« Jeder hatte seine eigenen Gründe, ins Phoenix zu kommen. Am Eingang die Person zurückzulassen, die man war, und als jemand anderes wieder herauszukommen.
Für einen Augenblick dachte sie über seine Frage nach, dann antwortete sie. »In einem Monat werde ich zu meiner Familie nach Sacramento zurückkehren. Ich muss New York verlassen und all die Erinnerungen hier. Während des letzten Jahres habe ich in der Hölle gelebt. Ich habe das Gefühl, in diesem Schmerz festzustecken, weil diese dunkle Wolke immer da ist, über mir hängt, mich erstickt. Doch wenn ich von hier wegziehe, weigere ich mich, länger die Person zu sein, die ich im Moment bin. Gestern Abend habe ich meinen ganzen Mist an der Tür des Clubs zurückgelassen. Kein Schmerz mehr. Keine Gedanken mehr an diese Arschlöcher. Und jetzt mache ich ganz offiziell den nächsten Schritt.«
Das alles hörte sich logisch an, aber Rhys wusste, dass die meisten Frauen von Gefühlen geleitet wurden. »Ich denke, das ergibt Sinn, doch eine Frage wäre da noch: Wolltest du deine Unschuld nicht jemandem schenken, den du liebst?«
»Ich kann nicht lieben«, sagte sie und hielt seinem Blick stand.
»Du kannst nicht, oder du willst nicht?«
»Ich kann nicht«, antwortete sie mit einem leichten Achselzucken. »Ich habe es mit Dates versucht. Aber ich schaffe es nicht über die erste Verabredung hinaus. Selbst beim ersten Date bekomme ich Panikattacken. Ich weiß, dass es schwer zu verstehen ist, doch meine Jungfräulichkeit bedeutete mir nicht mehr so viel, wie sie es einst getan hatte. Sie ist nicht besonders oder heilig. Sie hat wie eine dunkle Wolke über meinem Leben gehangen. Und ich bin froh, dass diese Wolke nun fort ist. Es war meine Wahl, meine Entscheidung. Und nun kann ich, dank des Schecks aus dem Phoenix , nach Hause zurückkehren, mir ein Haus kaufen und das Leben führen, das mir bestimmt war, bevor sich zwei Arschlöcher entschlossen, alles zu zerstören.«
Rhys lauschte, wie die Bäume in der Brise rauschten, unfähig, die Augen von Zoey zu nehmen. Er hatte schon vorher Menschen gesehen, die verletzt worden waren, und er konnte sie in zwei Typen einteilen. Die einen versteckten sich vor ihrem Schmerz, die anderen stellten sich ihm. Zoey gehörte zu Letzteren, und ihm gefiel ihre Haltung. Auch er hatte einmal an diesem Punkt gestanden. Zur Hölle auch, er besaß das Phoenix , weil es Teil seiner Genesung war, nachdem Katherine gestorben war. Ihr Tod war nicht leicht gewesen; bis zum Ende hatte sie gekämpft, und mit ihrem letzten Atemzug hatte sie die Ungerechtigkeit des Ganzen herausgeschrien. Ein Schrei, der ihn bis heute verfolgte.
Er hatte das Phoenix aus Frust und Zorn darüber eröffnet, dass Katherines Leben ein so frühes Ende genommen hatte, mit so vielen unerfüllten Hoffnungen, Träumen und Wünschen. Früher hatte er sich zurückgehalten. Doch nachdem Katherine gestorben war, hatte er damit aufgehört und getan, was er wirklich wollte. Er trat als CEO von Harrington Finance, dem Unternehmen seiner Familie, zurück. Er kaufte den Cigar Club als Spielplatz, um seine voyeuristischen Vorlieben auszuleben, ohne dass Gefühle im Spiel waren. Während im Laufe der Zeit seine Frustration und seine Wut über Katherines Tod nachließen, genoss er, was der Club anderen schenkte. Freiheit und Freude. Er fand Erfüllung darin, anderen zuzuschauen, wie sie authentisch lebten.
»Also«, sagte Zoey, nachdem sie lange und tief Luft geholt hatte, und riss Rhys damit aus seinen Gedanken. »Bist du sauer auf mich, weil ich deinen Club zu meinem eigenen Vorteil genutzt habe?«
Er musterte sie für einen Moment. Sie glaubte, sie wäre eine gefühllose Frau. Doch ihre Frage bewies das Gegenteil. Schmerz ließ Menschen hart werden. Rhys hatte dies bei Katherine gesehen. Ihr Krebs hatte einen Hass in ihr gesät, der allumfassend wurde, und Rhys hatte nicht vermocht, sie aus dieser Dunkelheit zu befreien. Doch Zoey war nicht gefühllos. »Sauer, nein, aber ich würde gerne wissen, wie du das alles hinbekommen hast. Wie du von dem Club erfahren hast, und wie du in ihn hineingekommen bist.«
Sie zuckte mit den Schultern und lächelte leise. »Ein Mädchen darf niemals seine Geheimnisse verraten.«
Er erwiderte ihr Lächeln. »Selbst wenn es so ist, muss ich wissen, wie du mein Sicherheitssystem durchbrochen hast. Erspar mir die Mühe, es selbst herauszufinden. Das schuldest du mir.«
Sie betrachtete ihn aufmerksam, während sie offensichtlich abwog, ob sie ihm trauen konnte, als ein Pärchen Hand in Hand an ihnen vorbeischlenderte. Augenscheinlich gefiel ihr, was sie in seinem Gesicht sah, denn sie kam aus ihrer Deckung. »Ich musste dein Sicherheitssystem nicht durchbrechen. Meine Mitbewohnerin Elise ist Privatdetektivin. Das ganze letzte Jahr über hatten wir ein Auge auf Jakes und Scotts Textnachrichten und E-Mails.«
»In der Hoffnung, dass sie etwas verraten würden?«
»Eigentlich wusste ich selbst nicht genau, auf was ich gewartet habe. Es war, als wüsste ich, dass ich die beiden im Auge behalten muss, um irgendwann Gerechtigkeit zu erlangen.«
»Und dann hast du erfahren, dass sie Mitglieder in meinem Club waren?«
Sie nickte langsam. »Das war der Moment, als meine andere Mitbewohnerin, Hazel, ins Spiel kam. Sie ist Reporterin. Kennt sich mit Recherche aus. Wir taten, was wir konnten, und dann … Elise hat dein System gehackt, um an den Code für die Bewerbung zu kommen.«
Unglaublich. Sprachlos starrte er sie an.
Sie musterte sein Gesicht und zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Es tut mir leid. Ich weiß, dass das falsch war, aber angesichts meiner ganzen Optionen schien mir dies der beste Weg, diese ganze Hölle hinter mir zu lassen. Wirst du mich jetzt anzeigen?«
Er lachte schnaubend. »Anzeigen? Nein, Zoey. Vielmehr bin ich beeindruckt, ehrlich, und überlege, ob ich deinen Mitbewohnerinnen Jobs anbieten soll.« Sie hatten herausgefunden, was nicht herauszufinden war, oder so hatte er zumindest geglaubt. Er konnte sich Archers Verwirrung vorstellen, wenn dieser entdeckte, dass das System keineswegs so unbesiegbar war wie angenommen.
Doch diese Gedanken schwanden mit ihrem zufriedenen Lächeln. Was so viel besser zu ihr passte als der Schmerz und die Tränen. Sie sah aus, als würde sie nun leichter atmen. Seit Jahren hatte er es anderen recht machen und ihnen Glück bringen wollen, damit sie glücklich mit ihrem Leben waren. Damit sich niemand fühlen musste, wie Katherine es getan hatte. Wenn jemand starb, sollte er mit dem Wissen gehen, sein Leben in vollen Zügen genossen zu haben. Doch da war etwas mit Zoey. Etwas, worauf er den Finger nicht legen konnte. Etwas, was ihm sagte, dass er nicht weggehen sollte. Etwas, von dem er mehr wollte. »Ich möchte dir einen Vorschlag machen.«
Ihre Brauen hoben sich über den funkelnden Augen. »Was für einen Vorschlag?«
»Verbring mehr Zeit mit mir.«
»Warum?« Sie schnappte nach Luft.
Er konnte ein leichtes Grinsen nicht unterdrücken. »Was Jake und Scott dir in jener Nacht angetan haben, hat zu einem tiefen Schmerz geführt, den du nicht verdient hast. Doch ich sage dir, dass es im Leben mehr gibt als Schmerz. Lass es mich dir zeigen.« Bevor sie zu viel darüber nachdenken konnte, nahm er ihre Hand und stand auf. Er zog sie so nah an sich, dass kein Platz mehr zwischen ihnen war. Ihr Körper an seinem fühlte sich seltsam … richtig an. Selbst in der Dunkelheit sah er, wie ihre Wangen erröteten, sich ihre Lippen öffneten und um einen Kuss baten. »Hier ist mein Vorschlag: Verbringe deine letzten Tage in New York mit mir. Lass mich dir zeigen, wie du behandelt werden solltest. Wie Intimität sein sollte .«
»Warum solltest du das für mich tun?«
Er zögerte, doch dann sagte er ihr die Wahrheit. »Weil mich dein Gesichtsausdruck, als du die Maske abnahmst, verfolgt. Dieser Schmerz hat sich in meine Seele gebrannt. Geh nicht fort aus New York mit diesem Schmerz. Lass ihn uns auslöschen. Gemeinsam.«
Sie trat einen Schritt zurück. »Es geht mir gut.«
Er machte einen Schritt auf sie zu. »Wirklich?«
»Ja …« Sie zögerte, und etwas in ihren Augen veränderte sich, die Kälte darin brach auf und verwandelte sich in Unsicherheit. »Okay, vielleicht geht es mir nicht supergut, aber …«
»Du überlebst, stimmt’s?«
Ihr Blick suchte seinen. »Ich schätze, so kann man es sagen.«
Er wusste, wovon sie sprach. Ihm war es genauso ergangen. Überleben, während er zusah, wie Katherine starb, und jede Sekunde zu hassen, in der er nicht fähig war, sie zu retten. »Wann hört ›nur überleben‹ auf, gut genug zu sein?« Entschlossen, Zoey zu beschützen und ihrem Herz Halt zu geben, fügte er hinzu. »Gestern Abend habe ich dir deine Unschuld genommen. Du hast sie mir freiwillig geschenkt, und das weiß ich wirklich zu schätzen, glaub mir. Nun bitte ich dich, mir … mehr zu geben. Bist du auch dazu bereit?«
»Aber warum?«
Für sie. Für ihn. Für diese Verbindung zwischen ihnen, die er nicht ganz zu fassen bekam, die er jedoch auch nicht verlieren wollte. »Nun, du wirst mir vertrauen müssen. Denk darüber nach.« Er holte eine Visitenkarte aus seiner Brieftasche und reichte sie ihr. »Hier ist meine persönliche Mobilnummer. Schreib mir eine Nachricht, wenn du annehmen möchtest, was ich dir anbiete.«
Sie musterte die Karte, dann hob sie ihren glühenden Blick. »Was genau ist das für ein Angebot?«
Er senkte seinen Mund zu ihrem, bis sie sich fast berührten. »Um das herauszufinden, musst du Ja sagen.«
Und gerade als sie sich seinem Kuss entgegenstreckte, setzte er sich in Bewegung. »Und jetzt lass uns gehen. Wir wollen doch nicht, dass du dich verspätest.«
Ihr leiser Fluch ließ ihn für den Rest des Weges wie ein Idiot grinsen.
***
One-Night-Stands konnten leicht emotionslos und distanziert sein, doch nichts an Rhys fühlte sich kalt an. Stattdessen war er am Abend zuvor aufmerksam und rücksichtsvoll gewesen, als er ihr ihre Unschuld genommen hatte. Und nun lauschte er jedem Wort, das sie auf ihrem Weg sagte, als wäre es ihm wichtig. Und als sie nach ihrem Gespräch hinter ihm herschritt, hätten seine imposante Größe und muskulöse Gestalt, die zu seinem sozialen Status und dem Reichtum passten, sie nervös machen sollen. Und doch fühlte sie sich mit ihm wohler als mit jedem anderen. Vor allem seit dem Missbrauch. Trotzdem hielt eine kleine Stimme in ihrem Kopf, die ihr einflüsterte, dass Männer gefährlich waren, sie davon ab, seinen Vorschlag sofort anzunehmen. Egal wie verlockend er war. Sie wollte erst die Meinung ihrer Freundinnen hören.
Als Rhys vor dem Devil’s Café stehen blieb, einer Cocktailbar im Herzen Manhattans, sah Zoey, wie Elise und Hazel bereits an ihren schicken Drinks nippten, während eine ungeöffnete Flasche Wein vor einem leeren Platz stand, der für sie vorgesehen war. Ein kleiner Schmerz durchzuckte ihr Herz. Die Martinis sahen köstlich aus, doch sie wagte es nicht mehr, irgendetwas zu trinken, was nicht vor ihren Augen geöffnet wurde. Und wahrscheinlich würde das nie wieder anders sein.
»Dann heißt es jetzt wohl Gute Nacht.«
Rhys’ samtig warme Stimme sorgte für eine Gänsehaut auf ihren Armen. Sie sah ihm in die Augen und spürte, wie eine unerwartete Hitze durch sie hindurchschoss. Rhys war atemberaubend … intensiv . Noch nie hatte sie die Anziehungskraft eines Mannes so stark gespürt. Trotz ihrer Überzeugungen und der Vertrauensprobleme wollte sie ihm näherkommen. »Ja, das heißt es. Danke, dass du mich begleitet hast.«
»Es war mir eine Freude«, flüsterte er beinahe und stand nun direkt vor ihr. Mit seiner unglaublichen Präsenz überragte er sie und sah sie aus glühenden Augen an. »Goodbye, Zoey.« Dann legte er seine Hand an ihre Wange, und seine Lippen trafen auf ihre und trugen Zoey augenblicklich fort von den Straßen Manhattans. Gott, dieser Mann wusste, wie man küsste.
Als er sich schließlich nach einer ganzen Weile von ihr zurückzog, kehrte sie zurück in ihren Körper und sehnte sich sofort nach mehr. Sein kehliges Lachen traf sie, und fast fühlte sie sich, als hätte er sie komplett entkleidet und wäre in sie eingedrungen, wie er es am Abend zuvor getan hatte. Sie riss die Augen auf und sah das diabolische Lächeln auf seinem Gesicht. »Mein Angebot hat kein Verfallsdatum«, sagte er, bevor er davonging.
Sie erinnerte sich wieder, wie man atmete, und schnappte nach Luft. Plötzlich hörte sie laute Stimmen und das Hupen von Autos. Sie blinzelte, und ihr Blick folgte Rhys’ langen, gleichmäßigen Schritten, bis er in den Schatten verschwunden war.
Als sie wieder geradeaus gehen konnte, betrat sie die Cocktailbar und wurde von Popmusik und ihren beiden besten Freundinnen begrüßt, die sie nur angaffen konnten.
»Was zur Hölle war das denn?«, fragte Elise zur Begrüßung, als Zoey den Tisch erreicht hatte.
Zoey glitt auf einen Holzstuhl. »Ich wünschte, ich könnte es euch erklären, aber ich weiß selbst nicht, was da passiert ist.« Sie öffnete die Weinflasche mit dem Korkenzieher, der für sie bereitlag, und goss sich ein gigantisches Glas ein.
Hazel fielen fast die Augen aus dem Kopf. »Das war Rhys Harrington.«
Zoey trank den größten Schluck ihres Lebens und zuckte zusammen, weil der Wein so trocken war. »Er war der Kerl«, sagte sie, nachdem sie geschluckt hatte.
»Der Kerl-Kerl?«, fragte Elise. »Der, der dich entjungfert hat?«
Zoey nickte. »Ja, der Kerl.«
»Großer Gott.« Hazel schnappte nach Luft.
Zoey nickte wieder … und wieder … »Wenn du glaubst, dass das verrückt ist, dann warte, bis du das hier hörst.« Sie gab einen kurzen Abriss, was passiert war, seit Archer sie von der Arbeit abgeholt hatte, bis gerade, als die Freundinnen gesehen hatten, wie sie Rhys-fucking-Harrington geküsst hatte. Nach ihrer Recherche über das Phoenix wussten sie beide ganz genau, wer er war.
Als Zoey fertig war, schüttelte Hazel immer wieder den Kopf. »Das ist verrückt.« Sie legte die Hände flach auf den Tisch. »Okay, also erste Frage: Wirst du mit den Beweisen zur Polizei gehen?«
Zoey musste nicht einmal darüber nachdenken. »Ein Teil von mir weiß, dass ich es tun sollte. Vielleicht haben sie früher schon mal so etwas gemacht. Vielleicht werden sie es wieder tun. Doch der andere Teil von mir hat Angst davor. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn alles von mir offen ausgebreitet und verdreht wird. Wenn ich darüber spreche, wird mein Leben auseinandergenommen. Wieder . Und vermutlich würde man mir die Schuld daran geben. Im Moment fühle ich mich einfach nicht stark genug dafür. Ich will jetzt nach vorn blicken.«
Elise reichte über den Tisch nach Zoeys Hand. »Du verdienst es, dich auf die Zukunft zu konzentrieren und glücklich zu sein.«
»Ja, das tust du.« Hazel nickte bestimmt und nahm Zoeys andere Hand.
»Danke.« Wärme breitete sich in Zoeys Brust aus, als sie ebenfalls die Hände der zwei Frauen drückte. Nie hätte sie mit einer Freundschaft wie mit der von Hazel und Elise gerechnet. Die beiden zu verlassen, würde nicht einfach sein, und wieder stieg dieser dumme Kloß in ihrer Kehle auf.
Zoey spülte ihn mit einem großen Schluck Wein herunter, als Hazel fragte: »Okay, und jetzt lass uns zurückkehren zu Rhys Harrington und wie er dich entjungfert hast. Hast du gestern Abend gewusst, dass er es war?«
»Die Antwort lautet definitiv: Nein«, antwortete Zoey, doch dann zögerte sie und überlegte noch einmal. »Na ja, ich denke, ich hätte es an seinen Augen erkennen müssen. Er hat diese rauchgrauen Augen, die so unglaublich kraftvoll und intensiv sind. Ich habe wirklich noch nie etwas Vergleichbares gesehen. Aber ich habe nicht daran gedacht, bis ich ihn vorhin wiedergesehen habe.«
»Ja, ja«, sagte Elise und machte eine Handbewegung, dass Zoey weitersprechen sollte.
»Hey, Ladys.« Alle Augen drehten sich zu dem niedlichen Typ, der irgendwo in seinen Dreißigern sein musste und sie angrinste. »Darf ich euch allen einen Drink spendieren?«
»Nein«, tat Elise nachdrücklich kund und ließ damit keinen Raum für Diskussionen. Sie zeigte Richtung Bar, wo seine lächelnden Freunde die Show beobachteten. »Geh.«
Die Brauen des Typen schossen in die Höhe. »Geh?«
Elise entließ ihn, indem sie den Blick abwandte und sich wieder ganz auf Zoey konzentrierte. Der Typ stand da, für einen Moment verwirrt, doch dann drehte er sich langsam um und trottete zurück zu seinen Freunden, die seine Niederlage mitangesehen hatten.
Zoey kicherte. Offensichtlich war Elise von ihrer Geschichte fasziniert. Noch nie hatte sie ihre Freundin so forsch reagieren gesehen.
Elise verlor keine Zeit. »Wie wäre es, wenn du uns jetzt erzählst, warum Mr.-Unglaubliche-Augen dir gerade da draußen den Kuss deines Lebens gegeben hat?«
Weil er süß ist? Weil er sich verpflichtet fühlt, mir jetzt zu helfen? »Ich denke, vielleicht um mich in Versuchung zu führen?«
»Dich in Versuchung zu führen, was zu tun?«
»Mehr von ihm zu wollen.«
Die Musik dröhnte aus den Boxen, und die lauten, aufgeregten Stimmen verbreiteten sich im Raum, als Zoey zwischen ihren Freundinnen hin und her blickte. Es dauerte einen Moment, dann brachen sie alle in Gelächter aus.
Zoey keuchte zusammen mit den beiden, während sie sich den Bauch hielt. »Hey, hey, ist in Ordnung. Aufhören.«
Elise wischte sich die Lachtränen aus den Augen. »Ich kann nicht anders. Als ob Rhys Harrington dich dazu bringen müsste. Der Mann ist so verdammt heiß!«
»Ich weiß.« Zoey holte tief Luft und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Verrückte Sache. Erst habe ich gar keinen Sex, und im nächsten Moment habe ich Sex mit einem der heißesten Männer New Yorks, der jede Frau haben kann, doch offensichtlich will er ausgerechnet mehr von mir.«
Hazels Lächeln erstarb, während Zoey sprach. »Tatsächlich finde ich das überhaupt nicht verrückt. Wahrscheinlich bist du völlig anders als jede andere Frau, die ihm bisher begegnet ist.«
»Da hat sie nicht unrecht«, stimmte Elise zu, nachdem sie einen Moment darüber nachgedacht hatte. »Er hat mit reichen Menschen zu tun, die einen leidenschaftlichen Lebenswandel haben. Da gibt es keine unschuldigen, Hunde waschende Jungfrauen. Vielleicht findet er dich faszinierend.«
Zoey dachte darüber nach und zuckte dann mit den Schultern. »Vermutlich findet er meinen Schmerz faszinierend.«
Hazel blinzelte. Dann blinzelte sie noch einmal und runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht mal, was das bedeuten soll.«
»Ich habe keine Ahnung, wie ich es erklären soll«, entgegnete Zoey, »doch irgendwie gibt er mir dieses Gefühl. Als ob er … ich weiß auch nicht … mir meinen Schmerz nehmen will …« Elise nahm ihr Handy vom Tisch und begann zu tippen, als Zoey hinzufügte: »Ich glaube, dass es ihm irgendwie gefällt, Frauen zu beschützen oder sie glücklich zu machen, oder wenigstens ist es das, was er mir zu sagen schien. Er möchte mir ein Leben zeigen, das ich so nicht kenne, ein Leben, wo ein Mann einer Frau nicht wehtut.«
»Dann ist er ein Kümmerer?«, fragte Hazel.
»Ja, ein Kümmerer. Kann man so behaupten«, stimmte Zoey zu. »Aber mal ehrlich, will ich wirklich das Therapieprojekt von jemandem sein?«
Hazel nickte entschieden. »Ja, solange diese Therapie heißen Sex mit Rhys Harrington einschließt.«
Zoey lachte, doch hielt inne, als Elise ihr Handy über den Tisch schob. »Wer ist das?«, fragte sie und starrte auf das Bild einer wunderschönen Brünetten.
»Katherine Rothschild«, erklärte Elise. »Rhys’ letzte Freundin.«
Zoey blickte auf. »Was ist mit ihr passiert?«
Elise nahm wieder ihr Handy und begann zu scrollen. »Sie hatte Gebärmutterhalskrebs und verlor den Kampf. Sie war erst vierundzwanzig Jahre alt.«
»Wow, das ist traurig«, sagte Hazel.
Nickend stimmte Zoey zu. »Was ein Warnsignal sein sollte, richtig? Ich meine, dieser Kerl besitzt einen Sexclub und trägt offensichtlich ein schweres emotionales Päckchen mit sich herum. Vermutlich ist es am besten, ich halte mich von ihm fern.« Sie konnte diese Warnsignale tatsächlich nicht ignorieren. Diese Zeichen sorgten normalerweise für ihre Sicherheit.
»Vielleicht«, sagte Elise und zuckte mit den Schultern. »Vielleicht auch nicht. Ich denke, es ergibt Sinn, dass jemand, der eine geliebte Person verloren hat, alles tun wird, damit es den Leuten in seinem Umfeld wirklich gut geht. Wenn du mich fragst, ist es echt hinreißend, wenn sein aktuelles Lebensziel darin besteht, andere glücklich und zufrieden zu machen.«
»Aber er besitzt einen Sexclub«, erinnerte Zoey sie.
»Was vermutlich der Grund dafür ist, dass er eine unglaubliche Granate in dieser Hinsicht ist«, erwiderte Hazel trocken.
»Meinst du das ernst?« Mit großen Augen starrte Zoey sie an.
Hazel kicherte. »Na ja, es stimmt doch, oder etwa nicht? Du bist gestern Abend mit Sternchen in den Augen nach Hause gekommen. Dieser Kerl hat Wahnsinnsfähigkeiten. Warum solltest du die nicht für eine Weile genießen? Du hast dir all das verdient und noch so viel mehr. Zum Teufel, für den Augenblick verspricht er dir heißen Sex, und danach ziehst du weg von hier. Was soll da schiefgehen?«
»Alles«, entgegnete Zoey sofort. »Absolut alles könnte schiefgehen.« Weil es schon einmal so gewesen war.
Elise sah sie mit einem warmen Blick an und griff wieder über den Tisch nach ihrer Hand. »Doch hier wäre es deine Entscheidung. Du sagst, was Sache ist. Es sind deine Spielregeln. Vielleicht ist sein Angebot genau das, was du brauchst. Soll er dich aus deinem Schneckenhaus holen und dich die Welt für eine Weile mit anderen Augen sehen lassen. Dann kannst du nach Hause zurückkehren, mit einem orgiastischen Leuchten in den Augen, wie du es verdienst.«
Zoey dachte darüber nach, während sie an ihrem Wein nippte und dessen Eichennote wahrnahm. »Aber kann es wirklich so einfach sein? So gut?«
Hazel verengte nachdenklich die Augen, bevor sie nickte. »Wenn ich es richtig sehe, stehst du gerade an einem Scheideweg. Du hast dich der Sache gestellt, die dir Angst einflößt. Du bist den beiden Männern, die dich missbraucht haben, entgegengetreten. Nun gibt dir das Schicksal die Chance auf etwas anderes, etwas Neues. Willst du immer noch die gleiche verängstigte Frau sein, von der du gesagt hast, dass du sie hinter dir lassen willst? Oder bist du die neue Zoey, die das Leben auf ihre Weise lebt, auch wenn es unmöglich scheinen mag?«
Das alles ergab Sinn. Aber … »Es macht mir wirklich Angst, jemanden so in mein Leben zu lassen, auch wenn es eine Art Arrangement ist.« Doch eine neue kleine Stimme in ihrem Kopf erinnerte sie daran, wie leicht es zu sein schien, mit Rhys loszulassen. Dass das Ganze am Ende vielleicht gar nicht so furchteinflößend war. Und zweifellos war Rhys für sie eingetreten und hatte sie beschützt.
Elise hob ihr Glas an den Mund. Bevor sie daran nippte, sagte sie: »Süße, das Leben macht keinen Spaß, wenn es manchmal nicht auch beängstigend ist.«
Zoey schnaubte. »Ja, und deshalb habe ich zuletzt auch sehr angenehm auf der langweiligen Seite des Lebens gelebt.«
Grinsend schlug Hazel mit der Hand auf den Tisch. »Los, jetzt ist es Zeit, eine andere Seite zu sehen, wie etwa Rhys Harringtons unglaublich sexy Rückseite.«
»Es ist tatsächlich eine ziemlich spektakuläre Rückseite«, stimmte Zoey lachend zu.
»So«, sagte Elise gedehnt und mit funkelnden Augen. »Heißt das, dass du mehr von ihm sehen wirst?«
Zoey zeigte auf ihren Wein und lächelte. »Ich brauche mindestens noch zwei von diesen hier, bevor ich mich dafür entscheiden kann.«
Elise griff nach der Flasche und schenkte ihr nach. »Da, und nun kannst du die beste Entscheidung deines Lebens treffen.«