3. In der Priesterausbildung

Sachwalter des Katholischen

Sie haben von den früh schon prägenden kirchlichen Erfahrungen gesprochen. Ist Kirche für Sie Heimat – oder ist dieser Begriff zu problematisch?

Natürlich ist Kirche für mich Heimat, aber eben mit Brüchen. Es gibt keine Heimat, die ohne Brüche wäre und ohne eine kritische Auseinandersetzung mit ihr auch Heimat bliebe. Wenn die Heimat nicht mitwächst, kann sie nicht Heimat sein. Nur als Nostalgie oder als schwärmerisch beschworene Vergangenheit wäre Heimat ein in sich abgeschlossener Kreis und nicht lebendig. Das gilt für meine biografische Heimat, für die heimatlichen Beziehungen, die nach wie vor für mich tragend sind, genauso wie für die Kirche. Diese kritische Auseinandersetzung ist das Kontinuum. Es gibt Priester und auch andere, die für sich in ihrer Beziehung zur Kirche verschiedene Phasen sehen. Mit Blick auf das, was ich heute vertrete, sehe ich die bei mir so nicht. Ich hatte immer eine Abneigung gegen alles Enge. Das verdanke ich meinem Elternhaus. Der Glaube meiner Eltern war nie bigott, nie eng, und sie haben immer Fragen gestellt. Das galt auch mit Blick auf meinen Wunsch, Priester werden zu wollen. Das hat mich als Mensch geprägt. Wenn etwas zu glatt, zu klar und zu schön war, habe ich eher Abstand genommen. Diese Haltung verdanke ich auch meinem Heimatpastor, der zwar emotional ein unnahbarer Typ, aber ein intellektueller, also wirklich herausfordernder Prediger war.

Ein Beispiel? Worin hat sich das gezeigt, dass Sie auf Abstand gegangen sind?

Ich war gerade in Trier ins Seminar eingetreten, als Johannes Paul II. 1980 zum ersten Mal nach Deutschland kam. In Fulda gab es ein großes Seminaristentreffen, aber da bin ich nicht mitgefahren. Das war mir irgendwie zu vereinnahmend. Ich habe mir aus der Ferne angehört, was der Papst zu sagen hatte – und fand vieles großartig.

Das Pontifikat von seinem Nachnachfolger ist unter anderem geprägt von der Warnung vor dem Klerikalismus. Papst ­Franziskus setzt da ganz andere Schwerpunkte als er und Benedikt XVI. Wie klerikal sind Priester heute? Und gibt es Momente, in denen Sie selbst Klerikalismus bei sich erkennen, wenn Sie in den Gewissensspiegel schauen, den Papst Franziskus Priestern hinhält?

Schon im ersten Jahr hat Papst Franziskus mit seiner Kurienschelte für Furore gesorgt – und ich habe gedacht: Heiliger Vater, das ist nicht gut. Sein Vorgehen macht mich auch traurig. Natürlich gibt es die Gefährdung des Klerikalismus, und es gibt Klerikalismus unter Priestern, aber nicht nur unter Priestern. Das ist hinderlich dafür, dass Menschen frei den Glauben praktizieren und die Charismen in ihrer Breite wahrgenommen werden. Ja, es waren Priester, die den Missbrauch verübt und der Kirche Schaden zugefügt haben. Es waren unsere Leute und nicht zuletzt Bischöfe, die das Ganze nicht ernsthaft angepackt, sondern vertuscht haben. Das Ganze hat Priester so in Misskredit gebracht, dass sie selbst hoch irritiert sind. Aber wir brauchen Priester. Das Erste sollte nicht die Warnung vor dem Klerikalismus sein. Wichtiger ist heute die Ermutigung. Nur wenn ich Nähe zu den Priestern habe, kann ich auch Kritik äußern. Ich selbst habe da auch Fehler gemacht.

An welcher Stelle haben Sie da Dinge falsch gemacht, die Sie heute bereuen?

Als ich Bischof wurde, gab es bald einen Priestertag im Bistum Limburg. Selbstredend musste der neue Bischof da über seine Sicht der Dinge referieren und Probleme benennen. Da habe ich an einer Stelle unbarmherzig über die Neigung unter jungen Priestern gesprochen, die äußere Stilisierung zu suchen. Im Nachhinein weiß ich, dass ich dadurch bereits zu Anfang einige von ihnen verloren hatte. Das war unsensibel und der Gesamtverantwortung, die ich habe, nicht angemessen. Ich wollte meine Positionierung klarmachen, aber die hätten die Leute ohnehin mit der Zeit alle gekannt. Deshalb tut es mir mittlerweile physisch weh, wenn der Papst den Klerikalismus anprangert, wie er es bei der Weltsynode in der Synodenaula in einer massiven Weise wieder getan hat. Er haut da richtig drauf, was ich nicht gut nachvollziehen kann. Manchmal frage ich mich auch: Von welcher Welt redet er hier? Es ist jedenfalls nicht die Realität der meisten Priester in unserem gesellschaftlichen Kontext.

Warum braucht es überhaupt Priester? Warum sind Priester so zentral in der katholischen Kirche?

Eine katholische Kirche ohne Priester ist undenkbar. Was die Menschen am katholischen Glauben schätzen, ist die vermittelte Unmittelbarkeit, Zeichen der Nähe Gottes. Und das sind nicht nur ritualisierte Zeichen, sondern personale Zeichen. Dafür braucht es die Ordensleute, Priester, Diakone, aber auch die Eheleute, die diesen sakramentalen Dienst tun und selbst ins Sakrament einbezogen sind und durch das Sakrament gestärkt werden. Und das gilt ja fundamental für alle Getauften. Die Kirche als ganze ist auf diese Weise Zeichen und Werkzeug, Sakrament. Das ist für mich unaufgebbar katholisch.

Gerade im Unterschied zum Protestantismus?

Papst Franziskus hat mir ja bei einer Begegnung diesen Satz gesagt und ihn danach ein paarmal zitiert: Es gebe schon eine gute evangelische Kirche in Deutschland, man brauche keine zweite. Damit wollte er andeuten, dass das, was wir beim Synodalen Weg tun, eine Annäherung an die evangelische Kirche sei. Aber genau das wollte bei den zentralen Fragen niemand in der Synodalversammlung. Die Gläubigen wollen die evangelische Kirche nicht kopieren – und ich auch nicht. Das will ich unter keinen Umständen. Dass die evangelische Kirche das sakramentale Amt aufgegeben hat, ist eine der großen Wunden, die das Verhältnis zwischen den beiden großen Konfessionen belasten.

Wobei es trotzdem beim einen oder anderen an einer Stelle auch Irritationen gab, inwieweit nicht die Vollversammlung des Synodalen Wegs in Frage stellt, ob es das Priesteramt überhaupt braucht …

Das waren notwendige Irritationen, die im Nachhinein zu Klärungen geführt haben. Von außen ist das möglicherweise nicht leicht nachzuvollziehen, wenn bei einer Synodalversammlung jemand aufsteht und einen Antrag stellt, die Frage zu beantworten, ob wir Priester brauchen. Dann wird eine Abstimmung ziemlich im Zeitdruck organisiert, bei der am Ende nicht mehr ganz klar ist, was eigentlich die Frage war. Wenn dann ein solches Ergebnis, wie geschehen, dabei herauskommt, kann man nur entsetzt sein. Aber alle, die dabei waren, wissen, woher die Frage kam: nämlich aus dem Forum heraus, das sich mit dem Priesterdienst beschäftigt hat und diese Frage stellen musste. Wir brauchen eine positive Beschreibung dessen, was der Priester in der katholischen Kirche heute ist. Und deswegen müssen wir die Frage stellen, warum es Priester braucht. Nicht nur der Priestermangel, sondern die gesamte Diskussion, die ja aus dem Missbrauch heraus erwachsen ist, hat wichtige theologische Fragen aufgeworfen.

An welche anderen theologischen Fragen denken Sie dabei?

Wenn Teile dieses Amtes einen solchen Schaden für Betroffene und die Kirche insgesamt verursachen, muss ich die Frage stellen: Wozu braucht es eigentlich dieses Amt? Mit dem Versuch, eine positive Antwort zu formulieren, geht es darum, die Krise zu überwinden. Das ist der Kontext dieser Fragestellung gewesen, die ich für notwendig halte. Die Frage ist im Übrigen auch in den Papieren des Synodalen Wegs noch nicht letztendlich beantwortet. Denn eine katholische Theologie, auch die Amtstheologie, nach dem Missbrauch muss in einigen Teilen erst noch durchdacht, in Disputen errungen und dann miteinander formuliert werden. Da sind wir noch nicht am Ende. Das Alte reicht jedenfalls nicht hin, um über die Krise hinwegzukommen.

In welche Richtung muss die Neuakzentuierung gehen?

Das Bleibende habe ich formuliert: Es braucht diesen Dienst der Priester vom Liturgischen her gedacht, um der Repräsentation Christi willen. Ohne das gibt es die katholische Kirche nicht. Aber wir müssen weg von einer sakral überhöhten und stattdessen hin zu einer weniger theologisch aufgeladenen existientiellen Beschreibung des priesterlichen Dienstes kommen, die im guten Sinn durchaus funktional sein darf: als einer konkreten Weise, Jesus nachzufolgen. Was ist notwendig am priesterlichen Sein und Dienst? Die Theologie des Zweiten Vatikanischen Konzils, etwa in Gisbert Greshakes Buch »Priester sein« weitergedacht, hat mich im Studium und auch als Priesterausbilder sehr geprägt: Das Priesterliche ist eine Existenzweise in der Kirche, vom Grundgeheimnis der Dreifaltigkeit Gottes geprägt. Das war ein Antwortversuch auf die Krise des Funktionalismus, weil der Priester nie Beamter sein kann und nur eine Funktion ausübt. Er muss das, was er tut, mit seiner Existenz, seinem ganzen Leben auch einlösen. Aber das führt leicht in eine gefährliche Überhöhung, die sich gegenüber berechtigter Kritik abschottet.

Was wäre der mittlere Weg?

Wohin die Überhöhung in der Volkskirche führte, haben wir erlebt im Missbrauchsskandal aufgrund der vielfach unangefochtenen Position des Pfarrers. Deshalb braucht es eine Entschlackung des Ganzen, es braucht transparente Verfahren der Rechenschaftslegung, der Gewaltenteilung und Machtkontrolle für jedes Amt in der Kirche. Derzeit besteht bei uns aber auch die anders gelagerte Gefahr einer funktionalen Überfrachtung des Priesters vor allem mit Blick auf die Aufgaben eines Pfarrers. Wer heute Pfarrer ist, kann sich hinsichtlich seiner Verantwortungsbereiche mit jedem Bischof vergleichen. Es geht um Personalführung und Arbeitsrecht, Fragen des Immobilienbesitzes auf der einen und rituelle Kompetenzen sowie Fähigkeiten zur seelsorgerlichen Begleitung auf der anderen Seite. Was Pfarrer alles können müssen, ist letztlich eine Überforderung; viele Priester bedrückt das. Und es wundert mich nicht, dass das nicht als besonders reizvoll angesehen wird.

Was können aber die Theologinnen und Theologen mit einer Neuformulierung der Lehre hier leisten angesichts der rauen Realität?

Die Theologie kann uns helfen, den Kern zu bewahren, aber das Priesterliche in neue Berufsbilder hinein zu übersetzen, die stärker ausdifferenziert werden müssen. Nicht jeder Priester muss Pfarrer sein oder Pfarrer werden können. Zugegebenermaßen war es für mich auch so, dass ich Priester werden mit Pfarrer werden in eins gesehen habe. Nicht nur angesichts der geringen Zahlen müssen wir aber dringlich über neue Formen der Leitung der Pfarreien nachdenken und sie erproben.

Wenn für die katholische Ekklesiologie das Priesteramt so zentral ist, stellt sich aber auch folgende Frage: Wie kann es sein, dass seit Jahrzehnten der Priestermangel nicht mehr nur absehbar ist, sondern sich in den vergangenen 20 Jahren in einer dramatischen Weise verschärft hat? Wie konnten die Verantwortlichen, obwohl sie darum wussten, einfach zusehen und nichts dafür tun, dass sich etwas ändert? Das ist doch suizidal für eine Institution, die im Priesteramt angesichts der sakramentalen Grundstruktur einen Wesenskern sieht. Was sagen Sie als Verantwortlicher dazu?

Das bedrängt mich unglaublich. Und es hat mich dazu geführt, mich im Synodalen Weg klar und entschieden angesichts dieser Frage auszusprechen: nämlich durchaus für die hohe Wertschätzung des Zölibats, aber gleichzeitig auch dafür, dass der Zölibat nicht die alles entscheidende Richtschnur sein darf für das Priesterliche, weil wir die sakramentale Grundstruktur unserer Kirche damit immer mehr aushöhlen, wenn es bei uns hier viel zu wenige Priester gibt und der sakramentale Dienst nicht mehr geleistet werden kann. Das ist die eine Ebene. Die andere ist die Bitte an den Heiligen Vater, die Frage der nur Männern vorbehaltenen Priesterweihe nicht zu dogmatisieren. Er hat dies im vergangenen Herbst in den Antworten auf die Dubia von vier Kardinälen immerhin bekräftigt, dass die den Männern vorbehaltene Priesterweihe zur Lehre der katholischen Kirche gehöre, es sich aber nicht um eine dogmatische Form handele. Die Frage des Zugangs von Frauen zu den sakramentalen Ämtern wird gestellt, und wir bitten darum, sie weiter stellen und theologisch bedenken zu können. Das wird nicht sofort das Priesteramt sein. Aber das Diakonenamt von Frauen sollte bald für die Kirche als eine Möglichkeit erschlossen werden. Dafür setze ich mich entschieden ein, nicht nur, weil ich sehe, wie viel wir verloren geben, solange die Kirche nicht auch Frauen sakramental zum Dienst ausstattet, sondern auch, weil ich sehe, wie uns das sakramentale Leben in der Kirche zerbröselt und die katholische Kirche auf diese Weise innerlich aushöhlt. Wir können schon an zu vielen Stellen den Dienst der Sakramente nicht mehr gut gewährleisten. Natürlich ist das eine Frage, die nur weltkirchlich entschieden werden kann, und wir gehen keinen Sonderweg in Deutschland.

An welche anderen Fälle denken Sie?

Der bedrängendste Punkt ist für mich die Frage der Krankensalbung. Das erlebe ich bei jedem Krankenhausbesuch, wenn mir die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sagen, wie sie darunter leiden, dass sie Seelsorge tun dürfen, aber als Laientheologinnen und Laientheologen dann den Priester rufen müssen und nicht selbst die Krankensalbung spenden dürfen. Das führt dazu, dass immer weniger Menschen nach den Sakramenten fragen und damit die Stärkung durch sie nicht mehr erfahren. Das bedrängt mich. Die Fragen liegen schon seit 50 Jahren auf dem Tisch.

Was haben die Vorgänger falsch gemacht?

Ich habe eine unglaubliche Hochschätzung für die Vorgänger im Amt, gerade auch hier im Bistum Limburg, wenn ich an Bischof Franz Kamphaus denke. Aber manchmal erfasst mich innerlich ein Groll, weil ich mir sage, dass sie die Situation doch haben kommen sehen. Aber sie haben den Spagat trotz der Not und des Mangels immer noch weiter ausgereizt. Sie haben versucht, persönlich Brücken zu schlagen, ohne bestimmte Fragen theologisch und kirchenpolitisch voranzubringen. Heute ist Entschlossenheit gefragt.

Was war die Motivation der früheren Amtsträger, die notwendigen Entscheidungen hinauszuzögern?

Das müssen Sie die Generationen der Amtsträger vor mir fragen. Versuche hat es schon viele gegeben. Ich glaube nicht, dass Bischof Kamphaus in der Frage theologisch anders denkt, als ich es tue. Aber die früheren Bischöfe haben diese Frage nicht in kirchenpolitischer Weise nach vorne bringen können oder wollen. Warum das so ist, ist schwer zu sagen. Möglicherweise liegt das an der Belastung durch zwei ähnlich relevante Krisen. Das eine war die Veröffentlichung der Enzyklika »Humanae Vitae« von Papst Paul VI. unter anderem über die Frage der künstlichen Empfängnisregelung, nach der die deutschen Bischöfe sich mit der Königsteiner Erklärung positioniert und so weit wie möglich aus dem Fenster gelehnt haben, ohne diese Lehre, die der Papst in seiner Enzyklika formuliert hatte, zu unterwandern. Es war eine Loyalität, gedehnt bis zum geht nicht mehr, um Menschen, die bis dahin noch darauf geachtet haben, was Bischöfe und Päpste sagten, irgendwie eine Brücke zu bauen.

Und die andere Krise?

Die zweite Krise gab es 1999 angesichts der Frage der Schwangerschaftskonfliktberatung. Gerade im Bistum Limburg kann man bis heute die Folgen ermessen. Bischof Kamphaus ist bis zuletzt, auch nach dem römischen Verbot, bei seiner Gewissensentscheidung geblieben, die in vielen Gesprächen mit betroffenen Frauen und Beraterinnen in Situationen des Schwangerschaftskonfliktes errungen war. In der Konsequenz hat er dann die Verantwortung für diesen Bereich an einen Bischofsvikar abgetreten. Das war eine sehr heikle Situation. Sie hat in der Bischofskonferenz heftige Auseinandersetzungen erzeugt, die viel emotionale Kraft und Loyalität gekostet haben und die man wahrscheinlich in anderen Bereichen nicht mehr investieren konnte, weil man Kräfte immer bündeln muss. Wenn dann gesagt wird, beim Synodalen Weg werde eine Agenda verfolgt, die es schon vor 50 Jahren gab, halte ich dagegen: Jetzt hat sich das Tor der Geschichte wegen des Skandals des Missbrauchs noch einmal geöffnet, sodass wir gemeinsam angehen können, was schon lange drängt.