7. Missbrauchsskandal

Entsetzen und Wut

Hintergrund für den Synodalen Weg ist der Missbrauchsskandal, wie er seit 2010 in Deutschland öffentlich und dann mit der MHG-Studie noch intensiver diskutiert wurde. Wann ist Ihnen nach dem Fall in Ihrer Kindheit bewusst geworden, dass es sich um ein wirklich großes, massives Problem für die katholische Kirche in Deutschland handelt?

Mir ist das tatsächlich erst spät bewusst geworden. 2002 wurden nach der Krise in den USA und in Irland die ersten Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz veröffentlicht – aber es gab auch noch die Aussage des damaligen Vorsitzenden der Bischofskonferenz, das berühre uns hier nicht, obwohl er es damals bereits besser wissen konnte. Ich selbst hatte bis dahin nur dieses unaufgearbeitete Wissen über den Pfarrer in meiner Heimatgemeinde, der Ministranten missbraucht hatte. Da hatte das ganze alte System gegriffen. Die Fälle waren öffentlich bekannt, Betroffene hatten sich anvertraut. Aber dann haben sozusagen alle zusammengewirkt: Mitglieder der Kirchengemeinde, der kommunalen Gemeinde, das Bistum. Es geschah, was meist geschah: Der Pfarrer wurde aus dem Verkehr gezogen und landete in einem Kloster bei Schwestern. Das war es. Ob sich jemand ernsthaft für die Betroffenen interessiert hat, weiß ich nicht. Mit dem neuen Pfarrer, der kam, hat sich die Situation äußerlich beruhigt.

Wie lange blieb es bei dieser Erfahrung eines Einzelfalls?

Als Subregens wurde ich einmal vom Priesterreferenten gebeten, in einer Gemeinde einen Gottesdienst zu halten, weil an dem Tag die öffentliche Gerichtsverhandlung eines dort tätigen Missbrauchstäters stattfand, der am Ende auch verurteilt worden ist. Das war ein Aschermittwoch. Ich bin da hin, war aber – ehrlich gesagt – ziemlich uninformiert und ahnungslos, wie man so eine Situation im Gottesdienst aufgreifen kann. Viel mehr als den Hinweis auf den Prozesstag und dass wahrscheinlich auch Betroffene und ihre Familien in diesem Gottesdienst unter uns sind, habe ich nicht aussprechen können.

Mit der Tätigkeit im Priesterseminar müsste sich das dann geändert haben.

Im Rahmen der Priesterausbildung ist mir das Thema Missbrauch auch nicht begegnet. Ich muss es genauer sagen: Es ist mir nachher im Blick auf einen Seminaristen und dessen Geschichte als Betroffener aufgegangen und hat mir geholfen, manche Dinge im Nachhinein einordnen zu können. Anders war das dann als Generalvikar ab 2012 – da war es regelmäßig ein sehr herausforderndes Thema. 2010 wurde Bischof Stephan Ackermann zum Beauftragten der Deutschen Bischofskonferenz für Fragen des Missbrauchs im kirchlichen Bereich und für Fragen des Kinder- und Jugendschutzes. Seit der Frühjahrsvollversammlung in Freiburg war klar, dass das Bistum und der Bischof von Trier nun öffentlich besonders im Fokus stehen werden. Wir wussten, dass man jetzt besonders genau hinschauen wird, dass auch die Medien alles sehr kritisch verfolgen werden, was wir tun oder nicht tun. Das hat sich bewahrheitet. Aber ich bleibe dabei, dass das kein Schaden ist, weil sich ohne diese genaue Beobachtung und die mediale Öffentlichkeit wahrscheinlich in der katholischen Kirche noch lange nichts bewegt hätte. Wir hatten auch darum gebeten, Betroffene mögen sich melden. Das haben sie getan, und wir haben gehandelt.

Haben Sie denn im Nachhinein das Gefühl, auch Fehler gemacht zu haben?

Wer mit den schrecklichen Verbrechen des Missbrauchs zu tun bekommt, wird nicht mehr leicht sagen können, keine Fehler zu machen. Das gilt auch für mich. Es gibt bekanntermaßen eine Situation im Zusammenhang mit einem inzwischen kirchenrechtlich und nach den Untersuchungen der Staatsanwaltschaft verurteilten Täter aus dem Saarland. 2006 gab es bereits eine Meldung der Staatsanwaltschaft über eine verjährte mögliche Tat, die aber kirchenrechtlich nicht weiterverfolgt wurde. In diesem Fall habe ich selbst zweimal eine Voruntersuchung eröffnet, nicht erinnernd, dass es diese Information der Staatsanwaltschaft gab. Bischof Ackermann, Bischof Marx und ich haben mehrfach gesagt, dass hier Fehler gemacht worden sind. Die Unabhängige Kommission muss klären, welche das genau waren. Im Zusammenhang der ersten Voruntersuchung haben wir auch die Staatsanwaltschaft eingeschaltet. Die Ermittlungen wurden hier nicht wegen Verjährung, sondern mangels Taterweisen eingestellt, so dass wir dann die Voruntersuchung auch eingestellt haben. Das war 2013.

Wurde der Fall nach Rom gemeldet?

Heute müsste man auch eine ohne Ergebnis beendete Voruntersuchung nach Rom melden. Damals war das nach geltendem Kirchenrecht nicht so und deshalb ist es auch nicht geschehen. Das war dann anders mit den Akten der zweiten Untersuchung, die ich 2015 eröffnet habe, und zu der jetzt endlich auch ein Urteil vorliegt. Über den Gesamtvorgang wurde Rom natürlich bereits vor Jahren informiert. Ich meine, in den mir bekannten Fällen ansonsten entschieden und korrekt vorgegangen zu sein. Die Hauptlast lag dabei beim Offizial, der die Voruntersuchungen durchführen musste, wobei wir immer in einem engen Austausch miteinander und mit dem Interventionskreis standen. Ich bin mir keines gravierenden Fehlers bewusst. Das heißt aber nicht, dass ich keine Fehler gemacht habe. Dafür ist jetzt die unabhängige Aufarbeitungskommission da, das zu begutachten. Was ich aber ganz sicher sagen kann: Ich habe nie irgendetwas vertuscht. Im Gegenteil.

Welche Auswirkungen werden die verschiedenen Gerichtsurteile aus den vergangenen Jahren auf den deutschen Katholizismus haben?

Ich bin dankbar, dass die Urteile so gesprochen worden sind, wie sie gesprochen wurden, weil ich weiß, welches Leid Betroffene erlebt haben und welche Kraft sie aufbringen mussten, um sich überhaupt äußern zu können. Darin liegt ja das eigentliche Elend.

Wenn man auf die verschiedenen Missbrauchsstudien schaut, beispielsweise jüngst auf die Berichte aus Freiburg oder aus Mainz, stellt sich eine drängende Frage: Wie kommt es eigentlich, dass Bischöfe und andere leitende Geistliche sich so schwertun, in Sachen Missbrauch offen zu reden und auch Fehler und Schuld einzugestehen, obwohl sie als Theologen und Verkündiger doch eigentlich Experten sein müssten im Umgang mit Schuld und der Bitte um Vergebung?

Das ist ein eigenes Phänomen. Das werden wir erst noch herausfinden müssen. Wir stecken noch mittendrin in der geschichtlichen Aufarbeitung dieser Phase. Ein Punkt ist sicher, dass Verantwortliche sich im Umgang mit Missbrauchsfällen nicht selten als Getriebene erleben. Niemand arbeitet dann mehr in Ruhe, und das liegt nicht an den genau einzuhaltenden rechtlichen Vorgaben; man ist doch auch emotional berührt. Ich bin dankbar dafür, dass wir mittlerweile bewährte Verfahren in konkreten Schrittfolgen haben. Wie wir mit Vorwürfen und erwiesenen Taten umgehen, hat sich immer weiter verschärft – sodass in den Leitlinien und in den römischen Gesetzen jetzt nachvollziehbar geklärt ist, was zu tun ist. Geboten ist zudem eine hohe Sensibilität für die Betroffenen und ihre je persönlichen Situationen. Nur selten hatte ich den Eindruck, diesen Bedürfnissen ganz gerecht werden zu können.

Warum ist das so? Diesen Erfahrungen gerecht zu werden, wäre doch sehr wichtig.

Das Leid und die Erfahrungen, die die Menschen gemacht haben, werden sich nie beruhigen oder verobjektivieren lassen – sie werden sich auch nicht durch Empathie oder gesprochenes Recht einfach aus der Welt schaffen lassen. Deshalb hinkt man dem, was eigentlich notwendig wäre, immer hinterher. Hinzu kommen irritierte Systeme wie die Pfarreien, in denen die Priester oder andere Mitarbeitende tätig waren. Auch diese Zusammenhänge mit ganz eigenen Bedarfen haben wir in den vergangenen Jahren erst besser verstanden. Wie geht man damit um? Wie eröffnet man Gesprächsräume, damit die Dinge auch benannt werden können? In den Pfarreien sind die Erfahrungen sehr ambivalent. Die einen verteidigen die von ihnen als gut empfundenen Pfarrer, die anderen stehen auf der Seite der Betroffenen und verteidigen deren Recht, dass die Taten öffentlich werden und dass ihnen nachgegangen wird. Andere, das sind nicht wenige, halten sich zurück, weil sie selbst vielleicht etwas zur Aufklärung hätten beitragen können. Das alles macht die Irritation in diesen Systemen aus, die von außen Moderation und weitere Hilfestellungen brauchen, um damit klarzukommen. Das gilt auch für die Seelsorgeteams, die mittendrin stecken. Dann kommt schließlich noch die Öffentlichkeit dazu, inner- wie außerkirchlich. In diesem Vieleck haben wir immer noch nicht wirklich gelernt, uns sicher zu bewegen. Und jede einzelne Situation muss da angemessen austariert werden.

Was heißt hier austarieren?

Es geht gar nicht mehr anders, als dass wir auf der einen Seite mit Interventionsteams und auf der anderen Seite mit Beraterstäben arbeiten. Das sind unterschiedliche Kreise, in denen jeweils Expertinnen und Experten zusammen mit Verantwortungsträgern in konkreten Situationen das Vorgehen beraten. Die Behandlung der konkreten Fälle und wie man dort agiert, ist das eine, das Verbessern der ­Rahmenbedingungen das andere. Ich verstehe, dass man schnell dabei ist, Auskünfte darüber zu erwarten, wo etwas falsch gemacht wurde oder wie man angemessen hätte handeln müssen. Aber Eindeutigkeit, manchmal schon für einen selbst, ist in diesen Konstellationen nicht immer einfach zu erreichen.

Transparenz ist also gar nicht so einfach?

Es ist wichtig, dass wir mehr Transparenz erreichen. Sie zu erreichen, ist aber nicht leicht. Darum können auch nur unabhängige Kommissionen im Nachhinein, bei einer Gesamtbetrachtung eine abschließende Bewertung der Aufarbeitung vornehmen, wenn die kirchenrechtlichen und anderen juristischen Verfahren abgeschlossen sind.

Welche Rolle spielt mit Blick auf die Schilderung der komplexen Situationen für Sie der Suizid Ihres Regens nach einem Gespräch mit Ihnen vor zwei Jahren?

Dieser tragische Fall spielt natürlich nach wie vor eine große Rolle. Es ging nicht um den juristisch zu ahndenden Missbrauch an Minderjährigen, sondern um ein übergriffiges Verhalten gegenüber erwachsenen Personen, wie sich im Nachhinein herausgestellt hat. Wir sind damit umgegangen, so wie es die Leitlinien vorsehen – und das ohne Ansehen der Person. Ich hatte den Regens in alle Funktionen gerufen, die er damals hatte, etwa auch als Domkapitular und Bischofsvikar für die Kirchenentwicklung, und schätze ihn nach wie vor, weil er viele Charismen hatte und Menschen zusammenführen konnte. Aber es gab offensichtlich auch diese andere Seite. Nachdem sich Betroffene gemeldet hatten, er die Vorfälle aber nicht in ihrer Tragweite eingestehen konnte, hätte es mit Blick auf eine unklare Situation einer Untersuchung bedurft, auch weil eine betroffene Person zu dem damaligen Zeitpunkt möglicherweise minderjährig war. Das war der Punkt, wo ich dann nach den Leitlinien sagen musste: Es bleibt mir nichts anderes übrig, als den Priester zeitweilig vom Dienst freizustellen. Dass er sich nach dem Gespräch mit mir und dem Personaldezernenten das Leben genommen hat, ist eine traumatische Situation. Für mich, viel mehr aber noch für die Familie und für jene, die mit ihm gut zusammengearbeitet haben. Und das bleibt es auch.

War das Vorgehen also doch ein Fehler?

Wir wollen Betroffene hören und ernst nehmen. Das ist die grundlegende Maßgabe, der wir gefolgt sind. Das hatte ja mittlerweile noch die Folgewirkung, dass mein langjähriger Generalvikar im Frühjahr 2023 seinen Rücktritt angeboten hat, nachdem ein Gutachten fehlerhaftes Agieren in einer bestimmten Situation belegt hat. Er hat dafür die Verantwortung übernommen und verdient dafür allen Respekt. Aber für das Bistum sind das schwerwiegende Auswirkungen. Auch hier bin ich dankbar für die Unabhängige Kommission, die alle Unterlagen einschließlich der juristischen Gutachten ausgewertet hat. Die Vorsitzende hat geäußert, die Kommission werde zu diesem Fall keine Stellungnahme veröffentlichen, weil sie keine Fehler des Bistums feststellen konnte. Das entlastet allerdings auch nicht, wenn sich jemand das Leben genommen hat und es auf der anderen Seite weiter Betroffene gibt, deren vorgetragene Situationen nicht wirklich aufgeklärt werden konnten. Da bleibt immer etwas.

Angesichts der verschiedenen Missbrauchsstudien deutscher Bistümer, die vorliegen und noch kommen werden, wird sich ein weiterer Bedarf an Aufarbeitung erweisen, sodass der gesamte deutsche Katholizismus ein irritiertes System bleiben wird. Wie schauen Sie auf das nächste Jahrzehnt und die Konflikte, die es mit sich bringen wird? Das wird wahrscheinlich nicht einfach werden.

So ist es. Jeder, der glaubt, durch bestimmte Maßnahmen würden wir das Thema Missbrauch irgendwann beherrschen beziehungsweise bewältigen und hinter uns lassen können, täuscht sich. Bei der MHG-Studie gab es den deutlichen Willen der Bischöfe, dem entstandenen Druck etwas entgegenzusetzen: ein breit gefächertes Spektrum wissenschaftlicher Expertise. Neben quantitativen Erhebungen des Hellfeldes bestand der Auftrag darin, missbrauchsbegünstigende systemische Faktoren innerhalb der katholischen Kirche zu beleuchten. Verbunden war das mit der Erwartung, innerkirchlich und auch gesellschaftlich eine gewisse Beruhigung oder sogar neuerliche Glaubwürdigkeit zu erreichen. Das Gegenteil war der Fall, und das kann nicht überraschen. Enttäuschung, Empörung, Wut und Erschrecken wuchsen beinahe ins Unbeherrschbare.

Was hätte man stattdessen tun sollen?

Meine Erfahrung mit dem Missbrauch ist: Wer dort involviert ist, egal in welcher Hinsicht, ob schuldhaft oder nicht, ob verantwortlich oder nicht, wird davon berührt, wird verletzt, wird verwundet, wird irritiert, wird enttäuscht und braucht neue Kraft, um überhaupt damit umgehen zu können. Das ist für mich die geradezu teuflische Dynamik, die diese Verbrechen auslösen. Das gilt besonders angesichts des hohen Ideals, das wir als Kirche vertreten, dem großen Auftrag, den wir als Seelsorgende haben, der Intimität von Seelsorge überhaupt, weil man menschliche Seelen berührt und sich auch von ihnen berühren lässt. Dass das nicht zusammenzubringen ist, wird immer so bleiben.

Hat der Druck auf katholische Bischöfe angesichts dieser Situation jetzt noch einmal zugenommen durch den Rücktritt der EKD-Ratsvorsitzenden Annette Kurschus? Sie hat im Wesentlichen Fehler bei der Kommunikation gemacht. Wenn man diese vergleicht mit dem, was die Missbrauchsstudien in Bistümern erwiesen haben, sind sie weder außergewöhnlich noch übermäßig gravierend. Der Rücktritt ist relativ schnell erfolgt. Ist das ein Thema innerhalb der Bischofskonferenz?

Sie haben recht: Soweit man es von außen beurteilen kann, lagen die Fehler von Annette Kurschus weder in der Amtsführung als Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen noch als EKD-Ratsvorsitzende. Der Rücktritt hat schon etwas Überraschendes und hängt mit Fehlern in anderen Kontexten zusammen. Was wurde gesagt und was wurde nicht gesagt? Was wurde den Gremien und verantwortlichen Kreisen transparent gemacht und zu welchem Zeitpunkt? Da ist offensichtlich etwas schiefgelaufen. Das hat uns schon noch einmal ins Nachdenken gebracht. Mit Recht war in den ersten Kommentaren auch zu lesen, dass ihr Schritt im Vergleich mit katholischen Bischöfen und ihrer Beharrlichkeit, im Amt zu bleiben, überrascht. Ich kann das aber nicht gut beurteilen, weil ich die Fälle, in denen amtierende katholische Bischöfe involviert sind und fehlerhaft gehandelt haben, nicht wirklich einschätzen kann. Der Osnabrücker Bischof Franz-Josef Bode hat jedenfalls diese Konsequenz gezogen, nachdem er erst entschieden hatte, nicht zurückzutreten, um bestimmte Veränderungen noch einspuren zu können. Mit Blick auf die Situation in Köln bleibe ich bei der Einschätzung, dass die Krise nicht eine des fehlerhaften Umgangs von Kardinal Rainer Maria Woelki mit dem Missbrauch ist. Mancher juristische Streit, der mit den Medien geführt wird, zeigt auch, wie schwer Fehler nachzuweisen sind. Die diözesanen Gutachten, die wir haben, belegen in der Regel gravierende Fehler und Vertuschung der Bischöfe, die entweder bereits verstorben oder zurückgetreten und im Ruhestand sind. Insofern ist die Situation nicht wirklich vergleichbar.