Kapitel achtzehn

Als Tom an diesem Abend nach Hause kommt, ist er vollkommen aufgewühlt. In ihm tobt eine Mischung aus Wut, Misstrauen, Angst und einem gebrochenen Herzen. Er weiß, dass Karen ihm die Veränderung anmerkt, aber er wird ihr nicht von Brigids Anruf erzählen.

»Stimmt was nicht?«, fragt Karen schließlich nach einem schweigsamen Abendessen.

»Unter den gegebenen Umständen ist das eine wirklich dumme Frage«, antwortet Tom kalt. »Vielleicht finde ich es ja einfach nicht so schön, mit der Angst zu leben, dass die Polizei jederzeit vor der Tür stehen kann, um meine Frau zu verhaften.« Er wollte das nicht sagen. Es ist ihm einfach rausgerutscht. Karen wird kreidebleich. Tom will ihr Vorwürfe machen, ihr sagen, dass sie die Schuld an allem hat. Doch stattdessen wendet er sich einfach von ihr ab.

»Du hast mich gar nicht nach meinem Gespräch mit dem Anwalt heute Morgen gefragt«, sagt Karen unterkühlt.

Tom hat das nicht vergessen. Er will es nur nicht wirklich wissen. »Und? Wie ist es gelaufen?«, fragt er und fürchtet sich vor der Antwort.

»Ich musste ihm einen größeren Vorschuss zahlen.«

Tom stößt ein bitteres Lachen aus. »Warum überrascht mich das nicht?«

»Wäre es dir lieber, ich hätte ihn nicht bezahlt?«, fragt Karen in scharfem Ton.

Wie sehr ihre Ehe doch schon zerfallen ist, und das in nur einer Woche, denkt Tom. Er hätte das nie für möglich gehalten. Im Augenblick würde er Karen am liebsten an die Wand drücken und sie anschreien, ihn nicht länger anzulügen und ihm die Wahrheit zu sagen. Doch das tut er nicht. Stattdessen dreht er sich einfach um und verlässt den Raum.

Tom wird einfach das Gefühl nicht los, dass Karen sich doch an die Ereignisse dieser Nacht erinnert. Er kann einfach nicht glauben, wie verletzt er ist, wie manipuliert er sich fühlt.

Und doch … Er liebt sie noch immer. Wie viel leichter wäre doch alles, wenn das anders wäre?

*

Brigid sitzt allein im Dunkeln. Die Strickarbeit liegt in ihrem Schoß. Sie hat sich die Mühe gespart, das Licht anzuschalten. Bob ist heute Abend wieder mal bei einer Visitation. Typisch Bestattungsunternehmer, jede Menge Euphemismen. Brigid kennt viele Frauen, die ihre Ehemänner auf Events begleiten – dafür kaufen sie sich sogar neue Kleider und neue Schuhe –, doch bei diesen Events handelt es sich zumeist um Dinnergesellschaften, Partys oder Ähnliches und nicht um Visitationen bei trauernden Familien, bei denen am Ende des Raums ein offener Sarg steht und alles nach Blumen riecht. Nein, danke.

Mittlerweile mag Brigid keine Blumen mehr, besonders keine Blumenarrangements. Beerdigungsarrangements. Früher hat sie sich immer gefreut, wenn ihr Mann ihr Blumen zum Hochzeitstag geschenkt hat, doch nach ein paar Jahren sagte sie Bob, das könne er sich sparen, denn sie nahm an, dass es sich bei den Blumen um Reste von Bestattungen handelte. Sie hat ihm das nie direkt gesagt, und sie ist sich auch nicht sicher, ob es überhaupt stimmt, aber es passt irgendwie zu ihm. Gerade bei den kleineren Dingen ist Bob ein richtiger Geizhals. Die Kosten der Fruchtbarkeitsbehandlung jedoch hatten nie ein Problem dargestellt.

Worüber sie sich gefreut hätte, wären ein paar Tage Urlaub gewesen – in Venedig oder Paris, irgendwo, wo das Leben tobte, weg von den ganzen Beerdigungen, oder was auch immer ihn so sehr beschäftigte. Aber Bob hat immer erklärt, er könne nicht so lange wegbleiben. Also bekommt sie inzwischen immer ein uninspiriertes Paar Ohrringe pro Jahr, ohne eine Gelegenheit zu haben, sie zu tragen.

Dabei ist es nicht so, als könnten sie sich das Reisen nicht leisten. Die Cruikshank Funeral Homes haben expandiert. Inzwischen haben sie drei Bestattungsinstitute in Upper New York, und Bob hat mehr denn je zu tun.

Sie aber nicht. Brigid könnte natürlich für Bob arbeiten, aber als er das einmal vorgeschlagen hat, hat sie geantwortet, lieber würde sie sich Nadeln in die Augen stechen. Das hat ihn beleidigt.

Die anstrengenden Fruchtbarkeitsbehandlungen, für die Brigid ihren Job gekündigt hat, waren erfolglos geblieben, und jetzt hat sie nichts mehr zu tun, abgesehen von ihrem Blog. Brigid setzt all ihre Hoffnung auf eine Adoption. Sie hat zwar Angst, dass Bobs Job ihrer Bewerbung schaden könnte, aber es ist ja nicht so, als würden sie in einem Bestattungsinstitut leben. Sie sind ein ganz normales Paar mit einem ganz normalen Haus. Das Geschäft ist vollkommen getrennt davon. Sie sprechen sogar kaum darüber. Bob weiß ganz genau, dass Brigid es hasst, über Beerdigungen zu reden. Was sie jedoch wirklich stört, ist die Tatsache, dass er früher einmal Versicherungen verkauft hat, damals, als sie geheiratet haben. Damals waren sie ein respektables Paar gewesen. Doch Bob ist der geborene Unternehmer, und dann bot sich ihm die Gelegenheit. Ja, das Geschäft mit Bestattungen ist profitabel. Das kann Brigid nicht leugnen. Sie wünschte nur, Bob hätte mit etwas anderem Erfolg gehabt.

Sie schaut über die Straße zu Nummer 24 hinüber, dem Haus von Karen und Tom. Sie fragt sich, was Tom nach ihrem Anruf wohl denkt. Glaubt er genau wie sie, dass Karen etwas aus ihrer Vergangenheit verschweigt? Es hat Brigid schon immer verwirrt, dass Karen ihr gegenüber so zurückhaltend ist. Dabei betont sie immer wieder, Brigid sei ihre beste Freundin, doch Brigids Bemühungen, ein intimeres Verhältnis zu Karen aufzubauen, sind immer gescheitert.

Und Tom … Jede Nacht sieht Brigid das Licht in seinem Arbeitszimmer. Er arbeitet viel zu hart, genau wie Bob, aber wenigstens arbeitet er zuhause. Karen sitzt nicht jeden Abend allein daheim wie sie.

Vielleicht sollte Brigid mal einen Teller Brownies rüberbringen. Wie es der Zufall will, hat sie heute Nachmittag welche gebacken. Sie will sie nicht alle selbst essen. Und es ist noch nicht spät. Schließlich fasst sie einen Entschluss und geht schnell nach oben, um sich umzuziehen.

Brigid bürstet sich ihr schulterlanges braunes Haar, scheitelt es in der Mitte, legt ein wenig roten Lippenstift auf und mustert sich im Spiegel. Sie übt ihr charmantestes Lächeln – das Lächeln, das ihre Augen leuchten lässt. Dann schnappt sie sich die Brownies aus der Küche.