Tom spürt, wie er hässlich rot anläuft. Er ist wütend auf den Detective, der es wagt, ihn in seinem eigenen Haus mit solchen haltlosen Vorwürfen zu konfrontieren. Das muss er sich nicht bieten lassen.
»Nein, Detective«, sagt Tom. »Ich habe nichts zu verbergen.«
»Wenn Sie das sagen«, erwidert Rasbach nach einem Moment.
»Wie kommen Sie überhaupt darauf?«, verlangt Tom zu wissen und wünscht sich sofort, er hätte das nicht gefragt.
»Und Sie verbergen wirklich nichts?«, hakt Rasbach noch einmal nach.
»Nein. Natürlich nicht«, entgegnet Tom brüskiert.
Rasbach mustert ihn aufmerksam. »Wir haben uns nämlich die Timeline für den Abend des Unfalls angesehen. Ihre Frau hatte den Unfall um 20:45 Uhr, nicht weit vom Tatort entfernt. Sie haben bei Ihrem Notruf erklärt, dass Sie so ungefähr um 21:20 Uhr von der Arbeit gekommen sind und ihre Frau verschwunden, die Türen offen und das Licht an gewesen sei.«
»Ja«, bestätigt Tom.
Rasbach hält kurz inne und sagt dann: »Wir haben mit dem Sicherheitsdienst an Ihrer Arbeitsstelle gesprochen, und sie haben uns gesagt, dass Sie bereits um 20:20 Uhr gefahren sind. Die Fahrt von Ihrem Büro nach Hause dauert nur fünfzehn Minuten. Also … Wo waren Sie in dieser einen Stunde? Die Zeit von 20:20 bis 21:20 Uhr ist nämlich sehr kritisch für unsere Ermittlungen.«
Tom dreht sich der Kopf. Karen schaut ihn an. Sie ist sichtlich schockiert, und Tom wendet sich rasch ab. Er spürt, wie er schwitzt. Die Feuchtigkeit dringt in sein Hemd und läuft ihm die Arme hinunter.
»Und wo wir schon einmal dabei sind …«, fügt Rasbach hinzu. »Wir haben nur Ihr Wort, dass Sie um 21:20 Uhr zuhause waren. Sie haben die Freundinnen Ihrer Frau erst angerufen, als …« Er schaut in seine Notizen. »Ich glaube, das war so um 21:40 Uhr. Und kurz darauf haben Sie den Notruf gewählt.« Er wartet, doch Tom schweigt. »Wo waren Sie also?«
»Ich … Ich bin rumgefahren.«
»Sie sind rumgefahren … fünfundvierzig Minuten lang?« Rasbachs Augen sind hart wie Stahl. »Warum?«
Tom würde dem Mann am liebsten den Hals umdrehen, doch stattdessen atmet er tief durch und versucht sich zusammenzureißen. »Ich musste nachdenken. Ich brauchte einen klaren Kopf. Ich hatte einen langen Tag hinter mir.«
»Und da wollten Sie nicht nach Hause zu Ihrer Frau?«
Tom schaut den Detective an. Er fragt sich, was Rasbach weiß, und in diesem Augenblick hasst er den Mann regelrecht. Diese aalglatte Art, diese Ruhe, diese Gerissenheit. »Natürlich wollte ich nach Hause«, meint Tom. »Aber … Aber das Herumfahren hilft mir, einen klaren Kopf zu bekommen. Es hilft mir zu entspannen. Ich habe einen ziemlich stressigen Job.« Das klingt unglaubwürdig, selbst in seinen Ohren. Rasbach hebt die Augenbrauen. Das macht der Detective absichtlich, und Tom hasst ihn dafür.
»Und haben Sie irgendwo angehalten? Hat Sie jemand gesehen?«
Tom schüttelt den Kopf, hält dann jedoch inne und sagt: »Ich habe ein paar Minuten an einem der Picknicktische am Fluss gesessen. Ich brauchte frische Luft. Ich glaube aber nicht, dass mich jemand gesehen hat.«
»Wissen Sie noch, wo genau das war?«
Tom versucht nachzudenken. »Am Fuß von Branscombe, glaube ich, an einem der Parkplätze dort.« Er kann sich einfach nicht überwinden, Karen anzuschauen.
Rasbach schreibt sich das auf und schaut Tom ein letztes Mal durchdringend an. Dann steht er auf und steckt sein Notizbuch weg.
Endlich gehen sie, denkt Tom. Sie haben heute schon genug Schaden angerichtet.
Karen begleitet die Detectives hinaus, während Tom im Wohnzimmer sitzt, auf den Boden starrt und sich darauf vorbereitet, sich seiner Frau zu stellen.
*
Karen weiß, dass Tom nicht gerne Auto fährt, es entspannt ihn nicht, im Gegenteil. Sie hat das Gefühl, als würde sich unter ihr ein Loch auftun. Sie muss ihn fragen. »Warum bist du an jenem Abend eine Stunde lang herumgefahren?«
»Warum bist du mit deinem Wagen gegen den Mast gerast?«, schießt er zurück.
Überrascht öffnet Karen den Mund.
»Ich bin mal raus«, verkündet Tom abrupt.
Karen schaut ihm hinterher. Als er die Tür ins Schloss knallt, zuckt sie unwillkürlich zusammen.
Was hat Tom an dem Abend gemacht? Der Detective ist kein Narr. Ist es möglich, dass Tom sie anlügt? Dass er etwas vor ihr verbirgt?
Besorgt schlurft sie in die Küche, um sich Eiswasser zu holen. Sofort entdeckt sie den Teller mit Brownies auf dem Tisch. Sie erstarrt. Den Teller kennt sie, er gehört Brigid und auch die Brownies sind unverkennbar ihre. Sie waren jedoch noch nicht da, bevor die Detectives gekommen sind. Brigid muss sie auf den Küchentisch gestellt haben, als Tom und Karen im Wohnzimmer mit den Beamten gesprochen haben. Karen läuft ein kalter Schauder über den Rücken. Hat Brigid etwas gehört?
Es entsetzt sie, wie schnell das alles außer Kontrolle gerät. Sie schließt die Augen, atmet tief durch und zwingt sich, sich zu entspannen.
Sie wird Brigid morgen anrufen und ihr für die Brownies danken. Sie kann Brigid vertrauen. Sie wird mit ihr reden und herausfinden, wie viel sie mitbekommen hat.
Karen füllt ihr Glas mit Wasser aus dem Kühlschrank, nimmt den Teller mit den Brownies und geht ins Wohnzimmer zurück, um dort auf Tom zu warten. Was verbirgt er vor ihr? Tom war immer wie ein offenes Buch für sie. Sie kann einfach nicht glauben, dass er etwas vor ihr verheimlicht. Wo war er diese eine Stunde lang, und warum will er ihr das nicht erzählen?
*
Tom steigt in den Wagen und fährt zu einer Kneipe in der Nähe. Es ist die Art von Kneipe, in der die hiesigen Sportvereine ein Bier nach einem Freundschaftsspiel trinken. Er muss seine Gedanken sammeln. Er setzt sich in eine leere Nische und bestellt sich ein Bier. Reden will er mit niemandem.
Tom hat ein Problem, und dieses Problem wird immer größer, je mehr er darüber nachdenkt. Er wollte den Detectives nicht erzählen, was er an jenem Abend gemacht hat, nicht vor Karen, denn er weiß, wie das aussehen würde. Doch jetzt wird ohnehin alles herauskommen, und es wird sogar noch schlimmer aussehen, als es ist.
Tom hätte sich an jenem Abend eigentlich mit Brigid treffen sollen, um halb neun, und zwar wie immer am Fluss, an dem ruhigen Ort zwischen Downtown und den Vorstädten, wo der Weg am Fluss nicht so bevölkert ist und die Bäume für ein wenig Privatsphäre sorgen. Dort hatten sie sich früher manchmal getroffen, um ihre kurze, fehlgeleitete und schmutzige Affäre auszuleben.
Brigid hatte ihn an diesem Tag angerufen, am Tag des Unfalls, im Büro, und ihn gebeten, sich mit ihr zu treffen. Warum, wollte sie ihm nicht sagen. Doch an diesem Abend hat sie ihn versetzt. Tom wartete über eine halbe Stunde lang im Dunkeln, doch Brigid war nicht aufgetaucht.
Er weiß noch immer nicht, warum Brigid sich an jenem Abend mit ihm treffen wollte. Als er sie bei diesem ersten, gereizten Telefonat gefragt hat, als er auf der Suche nach Karen war, da hat sie ihn einfach abgewimmelt und gesagt, ihre Schwester sei unerwartet vorbeigekommen und brauche ihre Hilfe. Was sie ihm zu sagen habe, könne warten. Und Tom hatte sich ohnehin mehr darum gesorgt, dass Karen es herausfinden könnte.
Tom weiß, dass er Karen das mit ihm und Brigid von Anfang an hätte beichten sollen. Jetzt würden es ihr die Detectives sagen, und dann würde es so aussehen, als habe er sich an jenem Abend freiwillig mit Brigid treffen und das vor Karen verheimlichen wollen.
Er weiß, dass er es Karen sofort erzählen sollte, noch heute Abend. Er sollte ihr alles erzählen, aber er ist nicht in der Stimmung. Vielleicht würde er ihr ja die Wahrheit sagen, wenn auch sie ihm nichts mehr verheimlichen würde.
*
Als Tom wieder nach Hause kommt, beäugt seine Frau ihn skeptisch. Das Vertrauen zwischen ihnen ist zerstört.
»Willst du einen?«, fragt Karen ihn nach einem Moment und deutet auf die Brownies auf dem Kaffeetisch.
»Wo sind die denn her?«, fragt Tom und setzt sich.
»Die sehen aus, als wären sie von Brigid, und sie schmecken auch wie ihre.«
»War sie gerade hier?«, fragt Tom.
»Muss wohl.«
Tom schaut Karen fragend an. »Was meinst du damit?«
»Als du weg warst, bin ich in die Küche gegangen, und da standen sie auf dem Tisch.«
»Was? Wann hat sie sie da hingestellt?«
»Ich nehme an, als wir mit den Detectives gesprochen haben«, antwortet Karen.
»Scheiße«, sagt Tom nervös.
»Ich werde morgen mit ihr reden und versuchen, ihr alles zu erklären.«
Tom reibt sich mit der Hand über das Gesicht. »Wie willst du ihr denn erklären, dass zwei Detectives in unserem Wohnzimmer waren und uns im Rahmen einer Mordermittlung verhört haben?«
Karen schaut ihn noch nicht einmal an. »Ich werde ihr einfach die Wahrheit sagen«, sagt sie. »Es gab einen Mord in der Nähe des Unfallorts. Das hat zwar nichts mit mir zu tun, aber die Polizei weiß nicht weiter. Sie haben keine Spuren. Wenn sie nichts finden, werden sie schon aufgeben.«
Karen scheint das mit den Handschuhen zu vergessen, denkt Tom, und mit den Reifenspuren. Und dem geheimnisvollen Telefonanruf. Sie spielt nur die Selbstbewusste, sie fühlt das nicht wirklich.
Es folgt ein langes, angespanntes Schweigen. Schließlich sagt Tom: »Vielleicht solltest du mal zu einem Arzt gehen.«
»Was meinst du damit?« Ihre Stimme klingt scharf.
»Wie der Detective bereits gesagt hat … Es ist ja nicht so, als würdest du wirklich etwas dafür tun, dein Gedächtnis zurückzubekommen.« Jetzt starrt sie ihn an, doch diesmal wendet er sich nicht ab. »Ich denke, das wäre nicht schlecht.«
»Und was soll der Arzt tun?«, will Karen wissen.
»Ich weiß es nicht«, antwortet Tom. »Vielleicht könntest du es ja mal mit Hypnose versuchen.« Er drängt, provoziert sie. Lass uns herausfinden, was in jener Nacht passiert ist. Ich will das wirklich wissen. Du nicht?
Karen lacht gezwungen. »Ich werde mich bestimmt nicht hypnotisieren lassen. Das ist doch lächerlich.«
»Wirklich?« Tom fordert sie heraus, und er sieht, dass ihr das nicht gefällt.
Karen steht auf und verlässt den Raum. Den Teller mit den Brownies nimmt sie in die Küche mit. Tom bleibt allein auf dem Sofa zurück, einsam. Er hört, wie sich die Schiebetür in der Küche öffnet und wieder schließt. Karen ist rausgegangen.