Karen schließt die Tür hinter sich und steht auf der Terrasse. Sie muss gegen den Drang ankämpfen, in Tränen auszubrechen. Das hätte nicht passieren dürfen. Sie verliert Tom. Sie setzt sich auf einen der Korbstühle und hofft, dass Tom sich zu ihr gesellen wird. Aber das tut er nicht, und Karen ist einfach nur traurig, einsam, wütend und verängstigt.
Und dieser schreckliche Verdacht, den sie plötzlich hegt … Wo war Tom in dieser einen Stunde? Was verschweigt er ihr? Oh, wie sehr sie sich wünscht, sie könnte sich an diesen Abend erinnern! Was hat sie getan?
Karen will der Spannung im Haus entfliehen. Sie steht auf, geht um das Gebäude herum und die Einfahrt hinunter. Vielleicht sollte sie jetzt bei Brigid vorbeigehen.
Aber sie kann jetzt nicht mit Brigid reden. Es geht einfach nicht. Also geht sie stattdessen die Straße hinunter, entfernt sich immer weiter vom Haus. Sie muss nachdenken.
*
Karen ist ausgegangen, und Tom ist allein im Haus. Brigid hat ihn vor ein paar Minuten zurückkommen sehen. Irgendetwas ist da im Busch.
Brigid geht rasch über die Straße. Sie weiß nicht, wie viel Zeit sie hat, bis Karen wieder zurückkehrt. Sie steigt die Stufen hinauf und klopft an die Tür.
Tom öffnet nicht sofort. Brigid klopft erneut. Schließlich reißt Tom die Tür auf. Er sieht müde und abgehärmt aus. Sein hübsches Gesicht wirkt eingefallen, ganz anders als früher, und seine Haut ist grau.
»Hi«, sagt Brigid.
»Hi«, antwortet Tom. Seine linke Hand bleibt auf dem Türgriff, als wollte er sie jeden Augenblick wieder schließen. »Karen ist nicht zuhause. Sie ist kurz raus.«
»Ich weiß«, sagt Brigid. »Ich habe sie die Straße runtergehen sehen.« Sie zögert. »Ich habe gehofft, allein mit dir sprechen zu können, nur eine Minute.«
Sie schlüpft an ihm vorbei ins Wohnzimmer. Jetzt muss er sie entweder auffordern zu gehen oder die Tür hinter ihr schließen. Und Brigid glaubt nicht, dass er sie rauswerfen wird.
»Ich wollte hören, wie es Karen geht«, beginnt Brigid und dreht sich zu ihm um. »Ist sie in Ordnung?«
Tom schenkt ihr einen frostigen Blick. »Es geht ihr schon besser.«
»Als ich gestern hier war, wirkte sie ziemlich außer sich«, sagt Brigid. »Wegen dem Glas. Das passt gar nicht zu ihr.«
Tom nickt. »Es ist nur … Im Augenblick ist einfach viel los.«
»Ich weiß«, sagt Brigid. »Ich habe gesehen, dass die beiden Detectives wieder hier waren.« Sie hält kurz inne. Als Tom nichts darauf erwidert, fragt sie: »Was haben sie gewollt?«
Gereizt antwortet Tom: »Sie wollten wissen, ob Karen sich schon an etwas aus der Nacht des Unfalls erinnert, aber das tut sie nicht. Sie sagt, sie weiß gar nichts.«
»Und du glaubst ihr.«
»Natürlich glaube ich ihr.« Tom kocht innerlich.
»Die Polizei aber nicht?«
»Ich weiß nicht, was die Polizei glaubt und was nicht. Was sie sagen, ergibt einfach keinen Sinn.«
Brigid mustert ihn aufmerksam. Ihr Telefonat über Karen hängt zwischen ihnen. Brigid kann der Versuchung einfach nicht widerstehen, Tom noch einmal darauf anzusprechen. »Der Tag des Unfalls … Deshalb habe ich dich ja angerufen und um ein Treffen gebeten … Ich wollte dir sagen, dass ein Mann hier herumgeschnüffelt und Andeutungen über Karens Vergangenheit gemacht hat. Ich dachte, wenn ich dir das am Telefon sage, legst du einfach auf. Doch dann hat meine Schwester angerufen, und …«
»Ich will nicht mehr darüber reden«, unterbricht Tom sie. Ein peinliches Schweigen senkt sich über den Raum. Dann sagt Tom: »Vielleicht solltest du morgen früh nochmal versuchen, Karen zu erwischen.«
Brigid nickt. »Sicher. Ich werde sie dann anrufen. Du siehst erschöpft aus, Tom.«
Tom fährt sich mit der Hand durchs Haar. »Das liegt daran, dass ich erschöpft bin.«
»Wenn ich dir irgendwie helfen kann …«, sagt Brigid und legt ihm sanft die Hand auf den Arm. »Du musst nur Bescheid sagen.«
»Danke«, erwidert Tom steif, »aber ich komme schon zurecht.«
Brigid spürt die Wärme seiner Haut unter ihrer Hand, doch dann löst er sich von ihr. »Gute Nacht«, sagt sie und geht raus. Am Fuß der kleinen Eingangstreppe schaut sie über die Straße hinweg zu ihrem Haus. Es ist leer und fast völlig dunkel. Nur neben der Haustür brennt ein Licht.
*
Erleichtert schließt Tom die Tür hinter Brigid. Dann sackt er müde daran zusammen. In Brigids Gegenwart fühlt er sich immer unbehaglich und angespannt. Es gefällt ihm nicht, dass zwischen Brigid und seiner Frau eine so enge Freundschaft entstanden ist. Dass das selbstsüchtig ist, weiß er. Langsam geht er ins Wohnzimmer und fragt sich, was Brigid wohl denkt. Sie hat die Detectives erkannt, und Detectives untersuchen keine Verkehrsunfälle. Offensichtlich vermutet sie, dass hier etwas anderes vor sich geht. Und Tom weiß, dass Brigid Fragen zu Karens Vergangenheit hat. Er wünschte, sie hätte ihre Vermutungen nicht mit ihm geteilt. Sollte Brigid nämlich recht haben, dann haben Karens Täuschungsmanöver schon lange vor der Nacht des Unfalls begonnen.
Und doch … Das alles ist schwer zu glauben. Tom erinnert sich an die glückliche Zeit, die sie miteinander verbracht haben … wie sie im Herbst händchenhaltend durch den Wald geschlendert sind, wie sie im Sommer gemeinsam Kaffee im Garten getrunken haben und wie sie sich im Winter unter den Laken aneinandergekuschelt haben. Er war immer bis über beide Ohren in sie verliebt, und er hat immer geglaubt, dass sie füreinander einstehen.
Doch inzwischen … Inzwischen weiß er nicht mehr, was er glauben soll. Wenn Karen sich wirklich nicht erinnern kann, warum scheut sie dann den Versuch, ihr Gedächtnis wieder zurückzuerlangen, wie der Detective gesagt hat?
Tom geht in die Küche und holt eine Flasche Whisky aus dem Schrank. Sie haben noch immer viel Alkohol von der Hochzeitsfeier vor fast zwei Jahren. Er selbst trinkt höchstens mal ein Bier oder ein Glas Wein zum Essen, doch jetzt schenkt er sich einen doppelten Whisky ein und wartet auf seine Frau.